Geschichten
Er schaute sie an.
Nackt und reglos lag sie da, ihren Oberkörper ihm zugewandt, die Beine leicht angewinkelt, den Kopf auf den linken Arm gestützt. Ihre rechte Hand ruhte auf ihrer ausladenden Hüfte. Ihre Scham schamlos unverhüllt.
Er strich konzentriert über ihren Hals, berührte behutsam ihre Brüste, widmete sich ihrem Bauchnabel. Mitten in der Bewegung hielt er abrupt inne, stand auf und trat ein paar Schritte zurück.
„Du findest mich nicht schön, oder?“, fragte sie.
Er erschrak. Fühlte sich ertappt. Zögerte mit seiner Antwort.
„Doch, doch. Nicht schön im herkömmlichen Sinn. Aber schön.“
„Ist es wegen meiner Hüften? Ich weiß, sie sind eine Spur zu üppig geraten.“
„Nein.“ Er dachte nach. „Das ist es nicht.“ Er kam wieder näher und fuhr mit den Fingern erst durch ihr Haar und dann sanft über ihre Hüften. „Das passt schon so. Ich steh ohnehin nicht auf verhungernde Frauen.“
„Was also gefällt dir nicht an mir?“
„Ich weiß es wirklich nicht.“ In seinem Gesicht spiegelte sich Verzweiflung. „Ich wünschte doch auch, es wäre anders.“
Jetzt schwieg sie wieder und er hatte das Gefühl, sie blickte ihn leer und leidend an.
„Ich habe eine Ahnung, woran es liegen könnte. Es ist nicht der Körper, der ist gut, wie er ist, auch die Proportionen stimmen. Es ist das Gesicht, der Ausdruck. Der fehlende Ausdruck. Du wirkst... du wirkst irgendwie so nackt auf mich."
"Ich bin nackt", erinnerte sie ihn.
"Ja, ich weiß, aber da ist kein Geheimnis hinter deinen schönen Augen, verstehst du?“
Sie antwortete nicht.
„Ich fürchte, dir fehlt die Seele“, fuhr er fort, „das Feuer in den Augen. Weißt du, was ich meine?“ Er redete sich immer tiefer in den Strudel hinein. „Man spürt nichts von deinen Gefühlen, deinen Ängsten, deinen Träumen und deinen Hoffnungen. Dein Charakter wirkt so beliebig, so austauschbar.“
Sie schwieg weiter.
Wahrscheinlich hört das keine Frau gerne, dachte er. Jetzt hatte er sie gekränkt, ohne es zu wollen. Aber er konnte seine Worte nicht mehr zurücknehmen.
„Tut mir Leid“, er fuhr ihre langen, festen Beine entlang, „ich kann es nicht besser in Worte fassen. Außerdem kannst du nichts dafür. Vielleicht liegt es ja an mir. Bestimmt sogar liegt es an mir.“
Er hörte Schritte und warf hastig das Leinentuch über sie. „Ich bin gleich wieder bei dir.“ Er ging zur Tür.
„Darf ich reinkommen?“, fragte die Stimme, die zu den Schritten gehörte und drückte die Klinke nach unten. Zum Glück hatte er den Schlüssel vorher umgedreht.
„Lieber... lieber nicht“, rief er durch die versperrte Tür, „ich bin noch nicht so weit.“
„Hm. Schade.“ Die Schritte entfernten sich.
Vorsichtig nahm er das Tuch wieder von ihr und legte seine Hand auf ihren Po. Täuschte er sich, oder funkelte sie ihn jetzt wütend an?
„Das ist gut, das ist sehr gut“, sagte er, denn ihre Augen verwandelten sich in glühende Kohlenstücke, auf der Stirn bildeten sich winzige Fältchen, kaum wahrnehmbar, aber sie drückten deutlich ihre Missbilligung aus, die Konturen ihrer Lippen wurden schärfer, gerade so als wollte sie ihm wüste Beleidigungen an den Kopf werfen. Deshalb verwischte er mit dem Finger ihre roten Lippen. „Großartig“, sagte er, „diese zornige Schlampigkeit lässt dich viel lebendiger wirken.“
„Arschloch“, zischte sie.
„Ich wollte dich nicht verstecken“, murmelte er und malte weiter, „aber meine Frau hat kein Verständnis dafür, wenn ich mit der Leinwand spreche.“
testsiegerin - 21. Mär, 15:46
„Oma“, zischte Anna-Sophie und zog den Stöpsel aus dem linken Ohr, „du bist voll peinlich. Lass den Kerl in Ruhe lesen und starr ihn nicht so auffällig an.“
„Kindchen“, flüsterte Oma Johanna zurück, „erstens bin ich Witwe, zweitens alt genug und drittens muss ich so starren, weil ich meine Augengläser vergessen habe.“
„Herr Doktor Kammerlander, wenn Sie bitte im Ordinationsraum Corona Dentis Platz nehmen. Die Frau Doktor kommt gleich.“
„Schade“, fand Johanna, als der alte Herr das Wartezimmer verließ und in der Krone verschwand, „den fand ich richtig adrett und kultiviert.“
„Gott sei Dank“, fand Anna-Sophie, stöpstelte das Ohr wieder zu und beschäftigte sich mit ihrem iPhone.
„Doktor Karl Kammerlander“, las sie nach einer Minute vor, „er wohnt in der Pestalozzi-Straße siebzehn. Frauenname steht keiner dabei, also lebt er wahrscheinlich alleine.“
Doktor Karl Kammerlander, Kulturattaché in Ruhe, lag auf dem elektrischen Stuhl und klammerte sich an dessen Armlehne, als die Ärztin den Sessel zurückklappte und die Folterinstrumente auspackte. Er sollte eine Brücke bekommen, seine zweite schon.
„Es wird gar nicht weh tun, Herr Doktor Kammerlander“, sagte sie. Das sagte sie immer und es tat immer weh. Trotzdem beruhigten die sanften Worte ihn ein wenig und er öffnete gehorsam den Mund.
Das laute Piepsen, das aus seiner Sakkotasche kam, beruhigte ihn keineswegs, man könnte sogar behaupten, dass es ihn in seiner Hartnäckigkeit beunruhigte.
Seine Kinder hatten ihm das Handy zu Weihnachten geschenkt, obwohl sie wussten, dass er es verabscheute, immer und überall erreichbar zu sein. Damit du uns jederzeit anrufen kannst, wenn du Hilfe brauchst, hatten sie gesagt und er hatte Freude geheuchelt. Ein Seniorenhandy, mit extra großen Tasten und überdimensionalem Display. Er war achtundsechzig und nicht siebenundneunzig. In Wahrheit waren sie es, die Hilfe brauchten, weil der Rasenmäher nicht ansprang, die Steuererklärung nicht fertig oder das Konto überzogen war. Also unentwegt. Das Gerät abschalten traute er sich aber auch nicht, es könnte ja sein, dass tatsächlich einmal etwas wirklich Wichtiges geschah.
Nun saß er da in der Zahnarztpraxis, mit Absauger im Mund und Angst im Bauch und es hörte nicht auf zu piepsen.
„Entschuldigung“, sagte er, nur weit weniger deutlich, „wenn Sie mich bitte wieder in die aufrechte Haltung manövrieren könnten?“
„COOLE KRAWATTE, KARL“, las er. Und eine ihm unbekannte Nummer. Er senkte seinen Blick, aber da baumelte keine Krawatte, sondern ein Kleinkinderlatz aus Papier.
„WER FINDET DAS DENN?“ tippte er verunsichert, mit der Geschwindigkeit einer Weinbergschnecke, löschte das Geschriebene aber gleich wieder, denn damit outete er sich als gänzlich uncool. Er würde so tun, als wäre es das Normalste auf der Welt, von einer (oder gar einem?) Unbekannten per SMS Komplimente über seine Krawatte zu bekommen.
„COOLE KRAWATTE – COOLER KARL“, schrieb er knapp.
„COOLER KARL – WARMES HERZ? ;-) Antwort und Frage kamen prompt.
„Entschuldigung“, wandte er sich an die Zahnärztin, „was bedeutet Semikolon, Bindestrich und Klammer zu?
Die Zahnärztin schaute auf das Display. „Das ist ein Zwinkersmiley. Können wir jetzt weitermachen, Herr Doktor?“
Er errötete. „Ja. Einen Moment noch.“
COOLER KARL – WARMES HERZ – KALTE FÜSSE - KAPUTTER ZAHN. OVER.
Er schaltete das Handy auf lautlos, lehnte sich zurück und öffnete den Mund.
„Bist du übergeschnappt?“, fauchte Johanna im Wartezimmer ihrer Enkeltochter zu, die mit beiden Daumen wie der Teufel auf den winzigen Bildschirm tippte, doch dem Fauchen wohnte ein Schmunzeln inne. „Was machst du da?“
„Ich kommuniziere mit Karl. Für dich.“
„Kein Wort zu Mama, kapiert? Sonst kannst du das nächste Mal mit dem Fahrrad fahren, um deine Zahnspange einstellen zu lassen.“
„Kapiert. Willst du ihn treffen?“
„Wie bitte?“
„Na soll ich ein Date für dich checken?“
„Ein Date? Du meinst, ein Rendezvous?“
„Was ist ein Rendezvous?“
„Vermutlich ein Date.“
„Anna Sophie, du kannst schon im Raum Pulpa Platz nehmen. Möchtest du, dass deine Oma mitkommt?“
„Um Gottes Willen, nein! Die fürchtet sich ja mehr als ich.“
Als Karl in der Pestalozzistraße aus dem Bus stieg, hatte er einiges erfahren. Zum Beispiel, dass es sich bei der Schreiberin der Kurzmitteilungen tatsächlich um eine Sie handelte, eine Sie, die nur ein paar Jahre jünger war als er und ebenfalls verwitwet. Der Lieblingsfilm der Sie war "Die Brücken am Fluss" mit Clint Eastwood. Sie konnte Russisch, aß gern Japanisch, kochte am liebsten Italienisch, liebte die Deutschen Klassiker und ging gern ins Theater. Vor allem die Dramen Schillers hätten es ihr angetan, schrieb sie. Die Sie hatte auf jeden Fall Humor, denn auf die Frage, welches von Schillers Stücken sie bevorzugte, antwortete sie mit: NATÜRLICH HAMLET. Das Aufregendste an dieser Sie jedoch war: Sie wollte sich mit ihm treffen. Morgen. Im Theatercafé. Karl hatte sich seit Jahren nicht mehr mit einer SIE getroffen, zumindest nicht so. So hatte er aber ohnehin überhaupt noch nie jemanden kennen gelernt.
Welche nehme ich am besten?, überlegte er vor dem Schrank mit den Krawatten und entschied sich für eine dezente in Orange und Braun.
„Wer ist denn Karl?“, warf Anna-Sophies Mutter die Palatschinke in die Luft und fing sie wieder auf.
Anna-Sophie zuckte zusammen. „Ach... wie...?“
Ihr Vater hob eine Augenbraue. „Wer bitte nennt sein Kind heute Karl? Mit einem Karl brauchst du mir gar nicht nach Hause kommen. Lukas oder Sebastian, wenn es sein muss, aber doch nicht Karl.“
„Tut mir leid, Anna-Sophie“, sagte ihre Mutter. "Wie du weißt, lese ich deine SMS für gewöhnlich nicht. Aber auf deinem neuen Handy öffnen sich die Nachrichten von selbst. Ich konnte also gar nicht anders.“
„Schon gut... Wir... wir... wir haben uns beim Zahnarzt kennen gelernt. Oma war auch dabei. Es ist nicht, wie ihr denkt.“
„Wie denken wir denn?“
„Hm. Keine Ahnung.“
„Er schreibt, 15 Uhr im Theatercafé geht in Ordnung. Und du mögest eine Ausgabe von Shakespeares Räuber bei dir haben.“ Sie rollte Augen und Palatschinken. „Kannst du dir nicht einen Burschen mit ein bisschen mehr Allgemeinbildung suchen?“
testsiegerin - 15. Mär, 18:01
Aus aktuellem Anlass:
„Wer gibt?“ Michael legte Holz nach, um das Lagerfeuer am Lodern zu halten.
„Karel gibt“, sagte Gabi, zog an der Zigarette und pustete den Rauch durch den fast zahnlosen Mund.
Artig nahm Karel die Karten und mischte. Dabei fragte er sich, warum er sich überhaupt die Mühe machte zu mischen. Er bekam nämlich immer schlechte Karten. Ein ganzes Leben lang schon. Nicht nur an diesem Dienstag. Nicht nur hier im Straßengraben.
„Tante Luzie, du fährst echt wie der Teufel“, schimpfte Änschie von der Rückbank. „Mir ist schon ganz schlecht.“
„Entschuldige.“ Luzie van Pelt nahm den Fuß vom Gaspedal. „Ich hatte einen schlechten Tag.“ Die schlechten Tage in ihrem Leben häuften sich.
Den Prozess heute hatte sie zwar gewonnen, ihren Freund allerdings vor ein paar Wochen verloren. Ausgerechnet an die neue Richterin.
„Zwanzig, weiter.“ Rafi steckte sich das letzte Stück Fisch in den Mund. Dann gab er die leere Katzenfutterdose an Gabi weiter, die ihre Zigarette darin ausdämpfte.
„Pagat dazu.“ An Gabis schmalen Lippen wurde die Zigarette sofort von einer Schnapsflasche abgelöst.
„Du wirst noch dich tot saufen, Madel“, schüttelte Karel den Kopf. „Mecht nich wissen, wie aussieht deine Leber.“
„Alkohol schützt unsere Blutgefäße vor Verkalkung. Sechzig Gramm am Tag und man bekommt keinen Schlaganfall“, dozierte Rafi, der einmal ein richtiger Arzt gewesen war.
„Genau. Dann kratzt man nämlich rechtzeitig vorher am Leberkoma ab.“ Michael nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche.
Er reichte den Lambrusco vorbei an Karel zu Gabi. „Hier, trink das. Ist nicht so stark wie dein Fusel und wärmt auch.“
Karel fühlte sich ausgeschlossen. Ein vertrautes Gefühl für ihn. Er war nur hier, weil sie einen vierten Mann zum Tarockieren brauchten. Der, mit dem sie sonst spielten und dessen Namen er sich nicht merken konnte, war im Krankenhaus.
„Warum du bist nicht mehr Doktor, Rafi?“ Der Angesprochene spuckte verächtlich ins Feuer.
„And through it all she offers me protection, a lot of love and affection”, jaulte Luzie im Duell mit Robbie Williams, während ihre Nichte sich die Ohren zuhielt. „Whether I'm right or wrong.“
„Wrong! Total wrong!“, schimpfte Änschie lauthals. „Das ist ja nicht zum Aushalten. Du singst noch schlechter als du fährst.“
Luzie trat auf die Bremse, steuerte das Auto auf den Randstreifen und drehte sich wütend um.
„Nun hör mir mal zu, du verflixte Göre…“
„Hm. Warum ich kein Arzt mehr bin?“ Rafi kraulte sich im Bart und wickelte sich fester in seine Fliegerjacke. „Weißt du, Karel, Arzt sein ist nicht wirklich so toll, wie die Leute immer glauben. Die Querulanten haben mich in den Suff getrieben und zum guten Ende hab ich einen von denen vermöbelt.“
„Können wir eine Pause machen?“, fragte Michael, der die Geschichte längst kannte. „Ich hab heute noch nicht geübt.“
Gabi stöhnte. Der Tscheche nickte. Solange Michael Posaune statt Tarock spielte, würde Karel nicht verlieren. Es folgten Tonleitern.
„Kannst du nix gescheites?“, schimpfte Rafi.
„Ich muss mich warm spielen. Und die Posaune auch.“
„So wie du spielst, erweckst du noch die Toten aus den Gräbern.“ Rafi hielt sich die Ohren zu.
„Das ist nun mal mein Job.“
„Komm, spiel was schönes für mich“, bettelte Gabi mit süßer Stimme.
Änschie heulte. In Luzies Augen schummelten sich ein paar Tränen, in ihren Kopf schlich sich Selbstmitleid und in ihren Bauch nistete sich ein schlechtes Gewissen ein. Es war ungerecht, ihre miese Laune ausgerechnet an der Kleinen ihrer Schwester auszulassen.
Thoughts running through my head
And I feel that love is dead
Wenn sie nur tot wäre, die Liebe. Dann würde es nicht so verdammt weh tun.
„Ach, Änschie. Lass uns wieder gut sein, ja? Ich kann doch nichts dafür, dass deine Mama sich den Fuß gebrochen hat und ich dich jetzt zur Klavierstunde bringen muss.“
Während Michael eine schaurig schöne Version von Tears in Heaven intonierte, griff Gabi nach seiner Weinflasche. Sie war die unbestrittene Herrscherin über alles Flüssige. Früher regierte sie als Bademeisterin im Stadtbad. Inzwischen wurde sie vom Alkohol beherrscht und war jeden Tag so blau, wie das Wasser im Freischwimmerbecken. Nur die Lilie in ihrem Haar war weiß. Und aus billigem Kunststoff.
„Vorige Woche hat sich hier einer überschlagen“, sagte sie.
„Und?“ Rafi mischte die Karten bereits zum siebzehnten Mal.
„Sofort tot.“
Das medizinische Interesse in Rafi war noch immer lebendig. „Woran ist er gestorben?“
„Woher soll ich das wissen?“, fauchte ihn Gabi an. „Ich war ja nicht da. Sonst würde er nämlich noch leben. Und jetzt sei still, ich will zuhören.“
„Ist sich eh gefährliche Kurve, oder?“ Karel betrachtete den abgefahreren Randstein.
Rafi blickte vom Mischen auf. „Wären wir sonst hier?“
„Du lieber Himmel, schon fünf vor vier. Wir kommen zu spät. Und jetzt fährt da vorn noch ein Traktor.“
Luzie beschleunigte ihren Lancia Phedra und zog lässig auf die linke Spur.
„Ich glaub, ich muss kotzen“, jammerte Änschie.
Michael verstaute die Posaune sorgfältig in seinem Koffer. Alles andere hatte er seiner Frau gelassen. Das Haus. Das Geld. Das Auto. Die Kinder.
„So, weiter geht’s.“ Er warf ein paar alte Äste ins Feuer. „Jetzt hätt ich gern ein sensationelles Blatt, bitte.“
Karel seufzte. „Wer hätte das nicht gern?“
„Wehe, es meckert einer, ich hätte nicht genug gemischt“, grummelte Rafi. „Die Karten qualmen ja schon. Du rufst, Michael.“
„Zwanzig, weiter.“
„Solo pagat.“ Zum ersten Male sahen die anderen Karel lächeln.
„So spiel endlich!“ Gabi nuckelte an der Schnapsflasche.
„Kotz mir bloß nicht auf die Polster. Hier nimm das.“ Luzie hielt Änschie ein Plastiksackerl vom Hofer hin. Änschie würgte. Und damit ihr selbst nicht auch schlecht wurde, drehte Luzie die Musik lauter.
Wherever it may take me
I know that life won't break me
Plötzlich war es da. Das Auto. Änschie schrie und kotzte daneben. Luzie schrie und verriss das Lenkrad.
Michael spielte aus. Karel stach. Er hatte sieben hohe Tarock in der Hand, darunter Sküs und Mond, und den Herzkönig noch dazu. Das konnte nicht schief gehen. Aber es ging schief. Wütend schmiss Karel die Karten ins Feuer. Lag es tatsächlich an ihnen, dass er ständig verlor? Oder vielleicht einfach nur daran, wie er sie ausspielte?
„Jessas“, lallte Gabi. „Was geht denn da ab?“
Michael glotzte verdattert in ein Paar flackernde Scheinwerfer und hielt sich die Hand vors Gesicht.
Rafi sprang auf, stolperte aber über den Posaunenkoffer. „Herrgottsakra!“
Karel hatte längst den Straßenrand erreicht. Nicht umsonst war er mal tschechischer Jugend-Vizemeister im Hürdenlauf gewesen. Wie ein Fußballspieler grätschte er in den schleudernden Lancia und erwischte ihn am Hinterrad. Der Wagen drehte eine Pirouette, blieb aber auf der Straße.
Der entgegenkommenden Volvo schlitterte in die Beifahrerseite des Lancia. Der Fahrer blieb unverletzt. Der Bauer wusste nicht, wie ihm geschah, wich aber mit seinen Zuckerrüben ins Maisfeld aus.
Luzie zitterte am ganzen Körper. „Änschie!“, schrie sie im Schock, „jetzt kommen wir zu spät in die Klavierstunde!“
„Nicht so schlimm“, flüsterte Änschie. „Ich hab eh nichts geübt.“
„Sauber. Nicht mal Uriel hätte das geschafft.“ Rafi klopfte Karel anerkennend auf die Schulter. „Wo hast du das gelernt?“
„Nix gelernt. Engel kann das halt. Wenn ist nüchtern.“
testsiegerin - 15. Dez, 13:41
Bumm. Bumm. Bumm. Sascha schlug einen Nagel ein, um das Bild aufzuhängen, das sie für ihn gemalt hatte. Sie stand daneben und freute sich wie ein kleines Kind. Bumm. Bumm. Bumm.
Sascha war tot, fiel ihr im Halbschlaf ein. Seit knapp einem Jahr schlug sein Herz nicht mehr. Also konnte das Hämmern gar nicht von ihm sein. Sie wollte nicht aufwachen. Sie wollte ihm weiter zuschauen, wie er den Nagel einschlug, das Bild an die Wand hängte, einen Schritt zurück stieg und sein und ihr Werk bewunderte. Sie wollte ihm dabei zuschauen, wie er seine Wohnung langsam zu ihrer gemeinsamen machte.
Das Pochen wurde heftiger. Ihr Herzklopfen auch. Da war sie wieder, die Angst. Damals hatten sie auch geklopft, als es draußen noch dunkel war. Damals hatten sie ihr mit ernsten Gesichtern gesagt, dass sie jetzt ganz stark sein müsse.
Sie schälte sich aus der Geborgenheit des Sessels, seines Sessels, in dem sie einige Stunden zuvor in eine Decke gekuschelt eingeschlafen war. Im langen T-Shirt öffnete sie die Tür einen Spalt breit.
Zwei groß gewachsene Männer standen vor der Tür, in altmodischen Mänteln, mit altmodischen Aktentaschen und mit ihrem amtlichen Abzeichen auf dem Revers.
„Gerichtsvollzieher!“ dröhnte es durch das ganze Haus, obwohl sie längst direkt vor ihnen stand. Allmählich gingen auch die Türen der Nachbarn auf.
Vier Augen starrten auf ihre mageren Beine. Sie öffnete die Sicherheitskette und ließ sie die Männer ein.
Ein kalter Luftzug drang in die Wohnung ein und setzte sich darin fest. Mechanisch griff sie nach dem Kleidungsstück auf der Kommode und wickelte sich darin ein. Es war seine Lieblingsweste gewesen. Sie passte dreimal rund um ihren Körper und ging ihr bis zu den Knien. Jetzt würde sie sie beschützen.
Die heruntergeleierten Sätze, die die Männer zu ihr sagten, prallten an der dicken Wollweste und der dünnen Haut darunter ab. Nur ab und zu drangen ein paar nadelspitze Wörter durch den dicken Wollschutz.
Bezirksgericht
Exekutionstitel
Zwangsversteigerung
Vor Jahren hatte sie die alte Mühle gekauft, mit ihrem Exmann. Ein Ort der Begegnung und der Kunst hätte sie werden sollen. Aber dann kam die Rezession. Die in der Ehe zuerst. Zunächst wurden die Worte weniger und dann die Liebe. Dem Einbruch in ihrer Beziehung folgte der wirtschaftliche.
Die Mühle wurde weit unter ihrem Wert verkauft, und auch ihre Bilder verkaufte sie zu Schrottpreisen, um Miete und Strom für die Mietwohnung bezahlen zu können. Und neue Farben für neue Bilder, die niemand kaufte, zu kaufen. Später sparte sie bei den Farben und malte nur noch graue Bilder. Trotzdem reichte das Geld nicht für die Kreditraten.
Sie flehte, sie bittete und sie bettelte. Vergebens. „Sie müssen verstehen“, hatten die adretten Bankbeamten in ihren adretten Anzügen freundlich gelächelt und gesagt: „Eine Bank ist nicht die Caritas.“
Die beiden Riesen betrachteten ein wenig mitleidig die Einrichtung und machten Notizen. Es gab nicht viel in dem großen Zimmer, das zugleich Wohnung und Atelier war. Leinwände, Farben und Pinsel. Ein paar Bücher.
Sie biss sich auf die Unterlippe, als sie sah, wie sie die Play-Station notierten. Das Weihnachtsgeschenk für ihren Sohn.
Nicht weinen. Nicht ausflippen. Ruhig bleiben. Sollten sie doch ihren DVD-Player versteigern, ihren Stolz ließ sie sich nicht nehmen. Nicht ihre Würde. Nicht das, was noch übrig war davon.
Sie konnte die Gedanken in den Köpfen der Männer hören. Arbeitsscheues Künstlerpack. Nichtsnutz. Versagerin.
Sie kroch tiefer in die Weste und spürte die schöne warme Zeit mit Sascha. Die viel zu kurze Zeit mit Sascha. Er hatte nicht gegeizt, nicht mit Worten, nicht mit Geschenken, vor allem aber nicht mit Aufmerksamkeit. Trotzdem mischte sich manchmal Wut in die Trauer. Es hatte kein Testament gegeben. Alles was er besaß, und das war neben seinem großen Herzen und dem scharfen Verstand noch einiges, gehörte jetzt seiner Schwester. Auch die Eigentumswohnung, aus der sie demnächst rausmüsste.
Nur ein paar persönliche Dinge und den alten Polstersessel hatte die Schwester nicht gewollt. Seinen massigen, weichen Sessel.
Den, an den sie sich jetzt klammerte, um nicht den Halt zu verlieren.
Den, den sie jetzt aufschrieben.
testsiegerin - 23. Nov, 17:43
Anlässlich des heutigen Welttoilettentags stell ich diese Geschichte noch mal rein:
„Wir sind gleich auf Sendung.“ Der Kameramann richtete das Objektiv auf Lieselotte Pfeffer. Die trat ihre Zigarette aus, fuhr sich nervös durchs kurz geschnittene Haar und drückte sich den Stöpsel tiefer ins Ohr.
„Grüß Gott und guten Abend bei Überall Daheim. Ich begrüße Sie herzlich aus Ried, der charmanten Messestadt im Innkreis. Über unser heutiges Thema werden Sie vielleicht schmunzeln, aber es ist ernster als es im ersten Moment scheint. Es geht um etwas, dass wir alle tun müssen. Nein, nicht sterben, nicht Steuern zahlen, sondern aufs Klo gehen. Überall daheim ist heute zu Gast beim Gründungstag der Ö.T.O., der Österreichischen Toilettenorganisation.“
Lieselotte lächelte und schob verschmitzt die Zungenspitze in den Mundwinkel. „Herr Peter Strobel.“ Sie wandte sich an ihren Interviewpartner und versuchte ernst zu bleiben. „Sie sind Gründungsmitglied und erster Obmann der neuen nationalen Toilettenorganisation. Was war denn Ihr Motiv, unter dem Deckel... Verzeihung, unter dem Dach der World Toilet Organization aktiv zu werden?“
„Es geht um ein Problem, das zum Himmel stinkt“. polterte Peter Strobel ins Mikrofon, „es war einfach an der Zeit, es anzupacken. Denn Toilette bedeutet Würde.“
„Da wollen wir mal hoffen, dass das kein Griff ins Klo wird, Herr Strobel. Was genau haben Sie vor in Österreich?“
„Schau’n Sie, gnädige Frau, wir leben hier nicht auf einer Insel der Seligen, klotechnisch gesehen. Jeder von uns muss manchmal in der Fremde nötig aufs WC und landet dabei in einem schäbigen Autobahnklo oder auf einem unwürdigen öffentlichen Abort. Damit muss endlich Schluss sein.“
Herr Strobel faselte noch begeistert von der Notwendigkeit, das Thema Toilette aus dem Tabubereich zu holen und Lieselotte nickte wissend. Mit Tabus kannte sie sich aus. Vor zwei Jahren hatte sie für ein Magazin der Landespensionistenheime vom Geriatriekongress über Blasen und Inkontinenz berichtet. Erst seit ein paar Wochen arbeitete sie für das Regionalfernsehen. Damals noch Da.heim, heute schon Überall Daheim, dachte Lieselotte sarkastisch. Was für eine Karriere.
„Vielen Dank, Herr Strobel. Ich habe das Gefühl, Sie wissen, wovon Sie reden. Liebe Zuschauer, damit auch Sie wissen, wovon wir reden, betreten wir jetzt den Tatort. Meine Damen daheim, seien Sie tapfer - folgen Sie mir aufs Männerklo.“
Lieselotte verzog das Gesicht in einer Mischung aus Abscheu, Neugier und Spott. Gefolgt von der Kamera, öffnete sie die Tür mit dem männlichen Emblem und steuerte zielstrebig auf die Stehbecken zu.
„Wird das ein Dogma-Film?“, tönte es wütend aus dem Ohrstöpsel. „Das Bild ist ja völlig verwackelt.“
Der Kameramann schüttelte sich vor Lachen. Drei Urinale waren an der Wand befestigt, und über jedem hing ein Schild. Bier über dem linken, Wein über dem rechten und Alkoholfrei über der mittleren Muschel.
Ein Mann nestelte am Reißverschluss seiner Hose herum und schwankte zwischen den Urinalen hin und her. „Ich hab zuerst einen Radler getrunken und dann einen doppelten Schnaps“, lallte er verzweifelt. „Wohin mit mir?“
Eine Viertelstunde später saß Lieselotte im Sitzungssaal. Sie hatte sich für Wein entschieden. Da die Qualität der Redebeiträge sich dem Thema angepasst hatte, betrachtete sie eingehend die Zuhörer, um nicht einzuschlafen. Die Frauen waren in der Minderheit und trugen überwiegend Kostümjacken in lindgrün oder zartorange. Die vielen Männer waren nicht besonders attraktiv, zu alt, zu dick oder zu geleckt. Auch das Publikum passt zum Thema, entschied Lieselotte. Ein Schlag gegen ihre Rückenlehne schreckte sie auf.
„Vergeving!“, sagte die Männerstimme direkt hinter ihr.
„Pfeffer“, flüsterte Lieselotte, drehte sich um und erschrak. Der dunkelgelockte Kerl war weder alt noch dick. Das Hemd hing lässig aus seinen Jeans und Lieselottes braune Augen blieben in seinen grünen hängen.
Er war so attraktiv, dass es schon kitschig war.
„Ich hoffe, ich habe Sie nicht...“ Er zögerte. „Wie sagt man? Gebumst?“
Sie lachte. „Ja, das sagt man. Aber nicht dazu.“
„Jan van Groningen. Ich bin Holländer.“ Er schüttelte ihre Hand. „Wozu sagt man denn gebumst?“
„Lieselotte“, sagte Lieselotte und leckte sich über die Lippen. „Wollen Sie wirklich, dass ich Ihnen das erkläre?“
Er nickte. „Aber nicht hier. Gehen wir raus?“
Mit Weinglas und Notizblock schlichen sie kichernd an den anderen Gästen vorbei und zur Tür hinaus. Beim Anblick von Jan und den Köstlichkeiten am Buffet lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Sie klaute eine mit gebratenem Speck umwickelte Dörrpflaume.
„Also lassen Sie uns anbumsen“, prostete er ihr zu, „auf einen schönen Abend.“
„Proost. Op uw gezonheid!“
„Sie praaten Nederlands?“
„Nein. Nur ein paar Worte, und selbst von denen weiß ich nicht, was sie bedeuten. Zum Beispiel: Neuken in de Keuken.“
„Oh ja. Wissen Sie, wo hier die Küche ist?“
„Leider nein. Aber können Sie mir vielleicht verraten, was neuken bedeutet?“ Lieselotte war inzwischen ziemlich beschwipst und öffnete heimlich die beiden obersten Knöpfe ihres Kleides.
„Neuken bedeutet... nun ja...“ Jan grinste sie dreist an.
„Bumsen?“ Sie beugte sich so über das Buffet, dass er ihr in den Ausschnitt schauen musste.
„Die Fleischbällchen sehen wirklich verlockend aus“, raunte er ihr zu.
„Greifen Sie nur zu, Jan van Groningen. Hier gibt’s heute alles kostenlos.“
„Wenn die Herrschaften bitte warten würden, bis das Buffet eröffnet ist“, schalt der Oberkellner sie. Lieselotte räusperte sich und wandte sich wieder Jan zu.
„Was treibt einen Mann wie Sie zur Versammlung eines österreichischen Klo-Vereins? Lächerliche Veranstaltung, finden Sie nicht?“
Lieselotte war Expertin im Fettnäpfchenhüpfen, denn Jan antwortete: „700 Millionen Inder leben ohne Toiletten. Aber auch bei uns in Holland ist überall große Notdurft. Wir wollen die Nederlandse Toilet Organisatije gründen. Ich bin hier zu holen ein paar Inputs.“
„Also, ich werde dann besser gehen“, stammelte Lieselotte, „war schön, Sie kennengelernt zu haben.“
„Langzaam, Lieselotte. Als Sie sich gar nicht für die Welt der Toilette interessieren, was machen Sie dann hier?“
„Nun ja. Ich bin Überall Daheim.“ Sie wartete einen Moment um Jans neugierigen Blick auszukosten. „So heißt die Sendung, die ich moderiere. Fürs Regionalfernsehen. Ich bin Journalistin.“
Selbstverständlich war Lieselotte heute ebenso wenig Journalistin wie vor Jahren, als sie noch bei der schreibenden Zunft arbeitete. Sie hielt lediglich ein Mikrofon in der Hand und quasselte hinein, was die Leute hören wollten.
„Journalistin?“
„Ja. Journalistin.“ Sie sonnte sich stolz im Ruhm der Pulitzer-Preisträger.
Jan machte eine abwertende Handbewegung. „Sie haben Recht, es war nett. Tot ziens.“
Wie bitte? Lieselotte traute ihren Ohren nicht. Erst fielen seine grünen Augen förmlich in ihr Dekolleté und jetzt ließ er sie einfach gehen, ohne um sie zu kämpfen? Was bildete dieser Käsefresser sich ein?
Wütend schritt sie zur Garderobe und nahm Mantel und Tasche entgegen. Sie spürte die Blicke von Jan, der an einer der Säulen im Foyer lehnte und sie beobachtete. Als sie einen Blick nach hinten warf, wurde ihr schummrig. Noch immer hing der linke Hemdzipfel schlampig aus seiner Hose. Lieselotte machte kehrte und blieb vor ihm stehen.
„Ich habe nichts gegen Klos", sagte sie. "Könnten Sie mich nicht bitten, noch ein bisschen zu bleiben?“
„Warum?“
„Weil Sie ...“, Lieselotte erinnerte sich an ihr Erlebnis am Geriatriekongress. Was würde Jan von einer Frau halten, die so um seine Aufmerksamkeit bettelte und ihm Honig ums Maul schmierte? Ein bisschen mehr Selbstbewusstsein, Frau Pfeffer, beschwor sie sich und richtete sich auf, „ach, ganz einfach, weil ICH interessant bin und witzig. Halbwegs intelligent. Vielleicht sogar attraktiv.“
„Ja, vielleicht.“ Er musterte sie.
„Vielleicht? Was soll das heißen?“
„Das haben Sie gesagt.“
„So, hab ich das?“
„Ja.“
„Und was sagen Sie?“
„Wahrscheinlich sind Sie attraktiv.“
„Nur wahrscheinlich?“
„Nun ja. Ich habe noch nicht alles gesehen.“
„Wollen Sie mich etwa zum Objekt Ihrer stochastischen Methoden machen?“
„Oh nein. Ich mag keine Gewalt beim Sex.“
Lieselotte lachte laut. „Stochastik ist Wahrscheinlichkeitsrechnung.“ Vor Jahren hatte sie Berichte für das Informatikermagazin Unberechenbar geschrieben. Wenn er sie schon nur wahrscheinlich attraktiv fand, dann hielt er sie jetzt ganz sicher für halbwegs intelligent.
„Wie wäre es, wenn Sie sich bald entscheiden würden, Lieselotte?“
„Wofür?“
„Ob Sie gehen oder bleiben. Ich werde Sie gewiss nicht darum bitten. Sie sind eine erwachsene Frau. Sie werden wohl selbst am besten wissen, was gut für Sie ist.“
„Na gut.“ Sie kam ihm sehr nahe. „Wenn Sie so darauf bestehen, dann bleibe ich eben.“
„Gehen wir?“, fragte er.
„Wohin?“
„Zur Toilettenausstellung. Vielleicht. Oder in mein Hotelzimmer. Ihre Entscheidung.“
„Wie Sie schon bemerkt haben dürften, interessiere ich mich nicht für Toiletten.“
„Interessieren Sie sich denn für mein Hotelzimmer?“
Lieselotte leckte sich amüsiert über die Lippen. „Vielleicht.“
Sie drückte ihm zwei Gläser und eine Flasche Sekt vom Buffet in die Hand. Am Treppenabsatz schlüpfte sie aus ihren Stilettos. Es wäre ein denkbar ungeeigneter Moment gewesen, um sich den Fuß zu brechen.
„Und? Gefällt es Ihnen?“, fragte er zwei Stockwerke höher.
„Wahrscheinlich. Ich habe ja noch nicht alles gesehen.“
„Werden Sie auch nicht.“
Jan ließ die Jalousien herunter und schaltete das Licht aus.
Unter ihren Füßen fühlte Lieselotte den weichen Teppich, in ihrem Nacken Jans Atem und an ihren Hüften Hände, die sie zu ihm drehten.
Durch die plötzliche Dunkelheit nahm sie nicht einmal seine Konturen wahr und tastete mit ihren Fingern nach seinem Gesicht.
Seine Hände wanderten in der Zwischenzeit zu ihrem Hintern, von dort weiter abwärts bis zum Saum ihres Rockes und an der Innenseite ihrer Schenkel wieder hinauf.
.„Du fühlst dich verdammt schön an“ flüsterte Jan.
Jetzt zog sie das Hemd vollends aus seiner Hose und berührte seine Haut.
„Was willst du, Lieselotte?“
Sie schluckte. „Glück. Gesundheit. Und mehr Geld. Oder wenigstens das ewige Leben und den Weltfrieden.“
„Ich mag bescheidene Frauen. Und was willst du jetzt?“
„Hmmm...“
„Komm, nimm dir, was du willst.“
„Würde ich ja gern. Aber ich finde den Sekt im Dunkeln nicht.“
„Dann musst du darauf warten, bis ich das Licht wieder anmache.“
„Wann machst du es wieder an?“
„Wenn wir fertig sind mit Bumsen.“
„Gut. Aber beeil dich, bitte.“
Wahrscheinlich hätte Jan sich beeilt, wenn Lieselotte ihn gebeten hätte, ganz langsam zu machen. So aber sah er keine Veranlassung zur Eile, sondern nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie auf den Mund. Zärtlich, lustvoll und ein kleines bisschen gierig. Sehr gierig, um ehrlich zu sein.
Lieselottes Finger waren noch immer unter seinem Hemd und krallten sich in seinen Rücken. „Darf ich dich kratzen?“ fragte sie leise, als seine Zunge ihren Mund wieder verlassen hatte.
„Warum fragst du?“
„Ich will nicht, dass du Ärger kriegst.“
„Kratz nur. Darf ich auch?“
Lieselotte antwortete mit wohligen Lauten der Zustimmung, als sie Jans Fingernägel in der Haut spürte. Irgendwann hörten Jans Finger auf zu kratzen und begannen zu streicheln. Irgendwann wurden Lieselottes Knie so weich, dass Jan sie aufs Bett legte, wo er langsam weiterstreichelte. Irgendwie war er plötzlich in ihr und die wohligen Laute wurden lauter.
Und irgendwann nach dem Sex gab es Licht und Sekt.
„Bleibst du heute Nacht bei mir, Lilo?“
Sie nippte und nickte. „Ja. Mein Sohn schläft bei einem Freund.“
„Und...“, er zögerte, „... und gibt es einen Mann in deinem Leben?“
„Es gab. Aber wir hatten unterschiedliche Vorstellungen. Nicht nur vom Geschirrspülen.“
Er küsste sanft ihre Brüste. „Das war eben wunderschön mit dir.“
„Du darfst das gern wiederholen, Jan. Nach dem Sex ist vor dem Sex.“
„Bist du auf Entzug? Wann hattest du denn zuletzt?“
„Gestern.“ Sie grinste frech. „Leider allein.“
„Erzähl mir davon“, forderte er sie auf. Lieselotte errötete und wandte ihr Gesicht ab.
„Nein. Schau mich bitte an, wenn du es mir erzählst.“
„Nun ja, ich war im Funkhaus. Und ich musste einen Beitrag über die finnische Sauna vorbereiten, da hab ich plötzlich wahnsinnig große Lust gekriegt und konnte mich nicht mehr auf meine Arbeit konzentrieren. Also bin ich aufs Klo und ...“
„Auf’s Klo?“
„Ja. Dort hab ich meine Ruhe. Ich lehn mich da ganz entspannt gegen die Wand.“
„Tust du das oft?“
„Nun ja.“ Sie spürte seinen Blick.
„Da siehst du, wie wichtig saubere, gemütliche und hygienische Toiletten sind. Am schönsten sind übrigens die japanischen. Wahlweise mit Musik oder Vogelzwitschern. Da hört dich auch niemand.“
Sie schmiegte sich an ihn und legte ihren Kopf auf seine Brust. „War ich so laut?“
„Gerade richtig laut, Lilo. Zeigst du mir, wie du es dir machst, an die Wand gelehnt?“
„Jetzt? Um Himmels Willen. Ich bin doch keine Dreißig mehr.“
„Keine Sorge, ich auch nicht. Darf ich dich wecken, wenn ich vor dir wach bin?“
Sie nickte. „Wann musst du wieder heim, Jan?“
„Keine Ahnung. Weißt du, Lilo“, er küsste sie auf die Stirn, „irgendwie bin ich überall daheim. Bei dir ganz besonders.“
testsiegerin - 19. Nov, 16:58
„Aufgrund eines defekten Triebwerks wird der Zug sich um etwa fünfzig Minuten verspäten.“
Na super, denkt sie, wenn ich mich jedes Mal verspäten würde, nur weil ich einen Schaden habe. Sie vermeidet es, die Frau ihr gegenüber anzusehen, denn sobald diese einen Blik von ihr erhascht, legt sie los und versucht, sie in ihr Gespräch einzuwickeln. Ob die sich wohl öfter verspätet?
Demonstrativ schaut sie in die andere Richtung. Ein Kugelschreiber steckt im Halsausschnitt eines T-Shirts. Das T-Shirt steckt in einem grauen Sweater. Ein Arsch steckt in bermudabeigen Cargohosen. Der Typ hat schöne Waden. An den schönen Waden hängen Füße. Die Füße stecken in ... in nichts.
„Sie möchten mich bestimmt auf einen Kaffee einladen“, würde sie gern souverän lächelnd sagen, aber sie hat Angst, dass die schönen Waden mit den schönen Füßen erstaunt sagen könnten: „Wer ich? Nein. Ich bestimmt nicht.“. An den schönen Fßen sind schöne Zehen dran.
Zehen sagen viel über den Charakter eines Menschen aus, denkt sie. Knorrig knöcherne Zehen sind ein Hinweis auf kleinliche, geizige Männer. Sie kann geizige Männer nicht ausstehen. Auch keine Männer, bei denen die zweite Zehe die große um Längen überragt. Wäre das so gewollt gewesen, hätte die große Zehe schließlich nicht ihren Namen. Bei solchen Männern ist etwas aus dem Gleichgewicht geraten, physisch wie psychisch.
Bei ihm nicht. Bei ihm ist nichts aus dem Gleichgewicht geraten, das sieht sie an seinen Zehen.
„Können Sie den Elektriker schicken?“, bittet die Frau ihr gegenüber die Zugbegleiterin und reißt sie aus ihren Schönezehengedanken, „die elektrische Reserviert-Anzeige ist defekt.“
Die Frau trägt Socken, zum Glück.
Auf seiner Nase sitzt eine Brille und die Brille steht ihm gut. Sie passt zu den Zehen, denkt sie. Die Brille verleiht ihm einen Hauch erotischen Intellekt und eine Prise maskuliner Souveränität. Dazu gesellt sich eine Handvoll Lässigkeit, als er sich mit der Hand übers Kinn streicht. Eine unbemühte Lässigkeit. Bestimmt bemüht er sich sehr, diese unbemühte Lässigkeit zu wahren.
„Was ist jetzt verdammt noch mal mit dem Kaffeee?“, möchte sie schreien, aber sie schreit nicht. Sie flüstert nicht mal, ihre Worte hocken zitternd auf den Lippen und trauen sich nicht zu springen. „Raus mit euch, oder ich schlucke euch hinunter!“, droht sie, doch die Worte lassen sich nicht ausschüchtern und beeindrucken und bleiben wo sie sind.
Sie erinnert sich an ihre letzte Therapiestunde. Was wäre das Schlimmste, das passieren könnte, wenn sie ihn fragte, fragt sie sich. Der Geschäftsmann neben ihm würde kurz von seinem Laptop hoch blicken und sich wieder auf die Riskikominimierung konzentrieren. Die Frau gegenüber, längst in die Lade „psychisch krank“ gesteckt, würde nach dem Installateur rufen. Die schönen Zehen würden im schlimmsten Fall „Danke nein“ sagen. Aber sie sagen nichts. Weil sie nicht fragt. Aus Angst vor der Ablehnung. Die hat es sich seit ihrer Kindheit in ihrem Körper bequem gemacht.
Watzlawick würde unserer Protagonistin vermutlich die Worte: „Stecken Sie sich ihren Kaffee doch einfach in den Arsch!“ in den Mund legen.
Oh. Die schönen Zehen haben eben gemerkt, dass sie beobachtet werden, aber sie tun, als würden sie keine Ahnung davon haben. Er bläst Luft aus seinem Mund. (Das bringt sie auf vesaute Gedanken.) Wahrscheinlich braucht es viel Anstrenung, zu signalisieren, dass man sich unbeobachtet fühlt, während man genau merkt, dass man beobachtet wrid.
„Einen Kaffee?“, fragt die Zugbegleiterin.
Sie – also nicht die Zugbegleiterin – lässt die Augen böse funkeln. „Was hat sie, das ich nicht habe?“, denkt sie. „Außer Kaffee?“
Die Frau gegenüber ruft nach dem Fliesenleger.
Er lächelt. Das Lächeln gilt ihr, nicht der Schwachsinnigen ihr gegenüber. Wer von uns beiden wohl schwachsinniger ist, überlegt sie.
Die schönen Zehen mit dem schönen Mann dran mit der schönen Brille drauf stehen auf. Gleich werden sie aussteigen, auf dem Bahnsteig seine Frau küssen und ihr auf den Arsch greifen. Die Frau der schönen Zehen – selbst gestraft mit geizig verkümmerten verbogenen und verlogenen Zehen wird „Wie war die Fahrt?“ murmeln und er „geht so“ antworten.
Ihr Herz klopft. Jetzt oder nie. „Wissen Sie zufällig, wann ich einen Anschluss nach Mainz habe?“ Sie beißt sich auf die Lippen. Der blödeste Anmachspruch ihres Lebens war das.
„Erst morgen wieder“, lächelt er sie an.
„Wunderbar. Kann ich die Nacht bei ihnen verbringen?“, fragt sie grinsend.
Natürlich nicht. Sie schaut entsetzt und schreit: „Um Gottes Willen! Erst morgen!?“
Er lächelt noch immer. „War nur ein Scherz. Auf Wiedersehen.“
„Auf Wiedersehen. Ein schönes Leben noch.“
Über den versäumten Anschluss ärgert sie sich nicht. Nur über die versäumte Chance. Über zehn versäumte schöne Zehen.
testsiegerin - 7. Jul, 09:17
An jenem Freitag im Mai bog Horst Kleindienst an der Kreuzung beim Stadtbad nicht rechts in die Kirchdorfer Straße ab.
Er würde weder pünktlich am Bahnhof noch vor der Landesberufsschule sein. Das war Horst Kleindienst in seiner Laufbahn als Postautobuschauffeur erst wenige Male passiert. Einmal war ein Auffahrunfall, an dem er nicht beteiligt gewesen war, Grund für die Verspätung gewesen, zwei Mal Schneeverwehungen und einmal eine Straßensperre aufgrund einer unangemeldeten Demonstration. Immer waren äußere Umstände an Verspätungen schuld gewesen, nie innere. Bis auf jenen Freitag im Mai.
Für einen kurzen Augenblick hatte es ihn in den Fingern gejuckt und beinahe hätte er – wie jeden Tag – den Blinker eingelegt, aus Gewohnheit einerseits, aus Angst vor seinem Mut andererseits.
„Das ist mein kleiner Feigling“, hatte ihn seine Mutter ihren Freundinnen vorgestellt und ihm dabei die Wange getätschelt. „Er fürchtet sich sogar vor dem Nikolaus.“
„Ich kann nicht mehr, Horst“, hatte seine Frau nach nur achtzehn Monaten Ehe geseufzt, „du bist ein unheimlich lieber Kerl, aber ich langweile mich mit dir. Du bist ... wie soll ich sagen ... du bist so ... so berechenbar. Am Mittwoch gehst du zum Bauernschnapsen, am ersten Samstag im Monat zum Friseur und am Valentinstag schenkst du mir Blumen. Ich brauche mehr Leben in meinem Leben, verstehst du?“
Ja, er verstand.
Die Helden in den Büchern, die er abends oder an seinen freien Tagen verschlang, waren ganz anders als er. Die fuhren keine Postautobusse, sondern überfielen Postzüge, legten sich neue Identitäten zu und setzten sich nach Brasilien ab. Die erlegten in der sibirischen Taiga sibirische Tiger und liebten sich vor dem knisternden Kamin auf den selbst erlegten sibirischen Tigerfellen mit selbst erlegten russischen Geliebten.
Horst Kleindienst war kein Held. Zeitlebens war er ein Feigling, ein lieber Kerl, ein verlässlicher Angestellter gewesen. Er hielt sich an Gesetze, seinen Dienstplan und die Straßenverkehrsordnung. Er hatte einen Hamster namens Rambo und eine Ölheizung.
An jenem Freitag im Mai aber sollte Horst Kleindienst etwas völlig Verrücktes tun. Etwas, das niemand von ihm erwartete, schon gar nicht er selbst.
Tausendmal hatte er tausend verschiedene Filme in seinem Kopfkino abgespult.
In einem von ihnen – seinem liebsten - warf er alle Leute aus dem Bus – bis auf die Brünette, die immer in der ersten Reihe saß und nach wildem Jasmin roch. Ihren Namen wusste er nicht, denn es war ihm verboten, während der Fahrt mit den Fahrgästen zu sprechen. Seinen Bus der Linie L377 lenkte er in diesem Tagtraum auf die A2 und fuhr nach Italien. Kurz vor der Grenze überfiel er eine Tankstelle und kaufte sich in der Toskana mit dem erbeuteten Geld ein kleines Häuschen. Na ja, vielleicht ließ er den Raub aber auch einfach aus und mietete das Haus nur. Schließlich hatte sich in den letzten Jahren genug Erspartes auf seinem Konto angesammelt, um eine Zeitlang ohne Einkommen auszukommen. Dort wollte er sich also niederlassen, inmitten der Toskana, umgeben von Weinbergen; bei seinen italienischen Nachbarn würde er Speck, Käse und Oliven kaufen und jeden Sonntag mit der Brünetten ans Meer fahren.
Nach so einem aufregenden Leben sehnte er sich manchmal.
An jenem Freitag fuhr Horst Kleindienst an der Kreuzung Brucker Straße / Kirchdorfer Straße geradeaus. Vorbei am Hauptplatz, am Bezirksgericht, vorbei an der Autobusgarage, in der sein Chef vermutlich gerade den Dienstplan für Juni erstellte.
Im Bus regten sich Verwunderung und Fassungslosigkeit.
„Sagen Sie, wo fahren Sie überhaupt hin?“, fragte die Brünette und ihre Stimme schmeckte nach türkischer Rosenmarmelade.
Horst Kleindienst legte den Zeigefinger auf die Lippen und deutete mit einem Kopfnicken auf das Schild, das den Fahrgästen das Sprechen mit ihm strengstens untersagte.
Kurz nach der Ortstafel betätigte er den rechten Blinker und brachte den Bus am Straßenrand zum Stehen. Auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen und sein Herz raste, wahrscheinlich vor Empörung über diese Ungeheuerlichkeit. Er griff nach dem Strauß mit den orangefarbenen Tulpen auf der Ablage, zog den Zündschlüssel ab, stieg aus dem Bus und schritt mit erhobenem Kopf durch das steinerne Tor.
„Siehst du, ich bin gar kein Feigling, Mutter.“ Horst Kleindienst legte den Tulpenstrauß auf die Grabplatte aus Marmor. „Bist du jetzt endlich stolz auf mich?“
Ohne die Antwort abzuwarten, drehte er sich um und verließ den Friedhof.
„Liebe Fahrgäste, aufgrund von inneren Umständen werden wir den Fahrplan heute nicht einhalten können und uns voraussichtlich um fünfzehn Minuten verspäten. Ich bitte höflich um Entschuldigung.“
Bevor er anfuhr, blickte er in den Rückspiegel. Die Frau mit der Rosenmarmeladenstimme lächelte.
testsiegerin - 10. Feb, 17:11
Laszlo lag auf dem Bett und wartete, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Sein Blick wanderte über die drei Meter entfernte Zimmerdecke. Er liebte den brüchigen Stuck, ebenso wie die hohen Rundbogenfenster, die dem Raum etwas Sakrales gaben, gerade jetzt, wo er fast leer war. Das schmiedeeiserne Bett war das einzige Möbelstück. Daneben stand ein Kübel mit Eis und einer Flasche Sekt. Zwei Gläser. Ein Dutzend Kerzen.
Er hörte sie bereits im Treppenhaus. Als die Tür mit einem leisen Klicken einschnappte, schloss Laszlo die Augen. Entspannt. Gespannt.
Es war still. Sie schaut sich um im leeren Raum, dachte er. Wahrscheinlich vermisst sie die Bilder an den Wänden. Den alten Schreibtisch. Den Flügel. Ob sie wohl Tränen in den Augen hatte? Gerne hätte er sie in den Arm genommen, tröstend vielleicht, liebend auf jeden Fall. Aber er tat nichts. Lag da und lauschte. Jetzt kam sie auf ihn zu. Ihre Schritte auf dem Parkettboden wurden von keinen Vorhängen und Möbeln verschluckt. Er wollte alles festhalten. Diesen Moment. Diese Frau. Und die Erinnerung an ihre Schritte.
Sie musste jetzt am Fußende angelangt sein. Zwei oder drei Minuten mochten so bereits vergangen sein, bevor Laszlo die Augen öffnete. Paula stand dort im halblangen schwarzen Kleid mit leicht gespreizten Beinen. Ihm wurde heiß, als sich ihre Blicke trafen. Sie zerbiss ein angedeutetes Lächeln auf der Unterlippe, dann öffnete sie den Mund, um tiefer und schneller atmen zu können. Laszlo beobachtete, wie sich ihre Brüste hoben und senkten. Sie öffnete die Knöpfe auf der Vorderseite des Kleides, langsam und gleichmäßig, einen nach dem anderen, bis der dunkle Stoff zu Boden glitt. Sie schlüpfte aus ihren Schuhen und kroch neben ihn auf das Laken, ohne ihn anzufassen.
Laszlo drehte sich zur Seite und schaute sie an. Betrachtete ihren Körper, den er so liebte. An dem er gar nichts, sie aber so viel auszusetzen hatte. Zu jeder Narbe hatte sie ihm eine Geschichte erzählt.
„Nein, bitte nicht“, flüsterte sie, als er mit einem Finger über ihren Hals streichen wollte. Er zog seine Hand wieder fort. Obwohl er sie nicht berührte, spürte er, wie ihr Körper bebte.
„Ich verstehe“, log er.
„Zieh dich aus, bitte“, forderte sie ihn auf. „Ganz nackt.“
Laszlo tat, was sie verlangte. Natürlich konnte er sich nicht so aufregend schön ausziehen, wie Paula es vorher getan hatte.
„Ganz“, wiederholte sie bestimmt. Er sah sie fragend an.
„Die Socken“, raunte sie ihm zu.
Sie lagen auf dem Rücken und blickten jetzt gemeinsam an die Zimmerdecke. Lediglich ihre Fingerspitzen berührten sich. Paula und Laszlo kosteten die Minuten aus, in denen ihre Herzen aufeinander zu krochen. Sich vorsichtig aneinander schmiegten.
„Ich will deine Seele“, sagte Paula leise. „Ganz nackt.“
„Sie gehört längst dir.“ In seiner Stimme schwang Wehmut. „Und sie hat auch keine Socken an.“
„Dort, wo du hingehst, wirst du dicke Socken brauchen, Laszlo.“
„Ja. Und du wirst es schön warm haben. Darum beneide ich dich.“
„Ohne dich wird es in Burkina Faso aber genauso kalt sein wie in Litauen.“
Erst war der Anruf aus Vilnius gekommen. Sie wollten ihn. Als Dirigent des symphonischen Staatsorchesters. Laszlo hatte lange nachgedacht. Nicht der Kälte wegen, sondern wegen Paula. Er wollte mit ihr leben. Gemeinsam in einem Haus, und nicht in über zweitausend Kilometer Entfernung. An dem Tag, an dem er beschlossen hatte, das Angebot auszuschlagen, stand sie vor ihm. Aufgelöst. Strahlend. Zerzaust. Mit einem Brief in der Hand. Endlich eine Beschäftigung. Bei Ärzte ohne Grenzen. In Afrika. Mehr als zehntausend Kilometer würden sie nun trennen, zwei Jahre lang.
„Laszlo, du...“ Weiter kam Paula nicht, weil er ihr den Zeigefinger auf den Mund legte.
„Wenn ich dich nicht anfassen darf, dann darfst du nicht reden.“
„Du hast mich jetzt eh berührt“, erwiderte sie und küsste seine Finger. Laszlo zögerte nicht lange und schob sich durch ihre Lippen. Sie mochte den salzigen Geschmack und begann unwillkürlich zu lecken. Er mochte die Gier, die jetzt so offensichtlich aus ihren Augen funkelte.
„Und?“, flüsterte er im sicheren Gefühl des Sieges. „Was hättest du gern als nächstes in deinem Mund?“
„Sekt.“ Paula grinste. „Nun mach endlich die verdammte Flasche auf.“
„Martini Spumante“, schenkte er ein. „Du magst ja dieses klebrige Zeug.“
Sie saßen im Bett, die teuren Kristallgläser in der Hand. Schon oft hatten sie auf diese Art Abschied gefeiert, allerdings noch nie für so lange.
„Und du? Magst du es lieber extra dry?“
„Keine Ahnung.“ Er schmunzelte. „Ich kenn dich ja nicht mal halbtrocken.“
„Laszlo“, sie wischte sich eine Träne aus dem Auge. „Pass auf dich auf. Und auf mich auch, ja?“
Er nützte diese Schwäche aus, griff in ihre Haare und zog sie zu sich. Ein kleiner Rest Sekt floss ins Laken, als ihr das Glas aus der Hand kippte. Von einer Sekunde auf die andere stürzte Paulas Abwehr in sich zusammen. Eine Abwehr, die sie nur aufrechterhalten hatte, um diesen Augenblick des Zusammenbruchs mit allen Sinnen auszukosten.
Jetzt würde er sie gleich fest aufs Bett pressen und sich auf sie schieben. Erwartungsvoll spreizte sie ihre Schenkel, zwischen denen sich glitschige Wärme ausbreitete.
Doch dann spürte sie den Stoff im Gesicht, kühl und rau. Paula liebte es, eines ihrer Sinne beraubt zu sein. Sich aufs Fühlen zu konzentrieren, nicht abgelenkt zu werden von dem, was sie sah. Aber nicht heute.
„Nein, du. Bitte nicht.“ Sie schob das Tuch weg. „Ich will ein letztes Mal deine Lust sehen, wenn du eindringst in mich. Ich mag in deinen Augen ertrinken, wenn du gleich in meine Möse tauchst. Ich möchte sehen, wie du meine Seele fickst.“
Laszlo öffnete die Lippen, um etwas zu antworten, aber er kam nicht mehr dazu. Paulas Zunge drängte sich in seinen Mund.
Im Gegenzug schob er sich zwischen ihre Beine. Sie hielt den Atem an, um ihre Schreie für später aufzuheben. Spürte seine Schwanzspitze an ihrer Klit. Riss die Augen auf, damit er seinen Raubtierblick tief in ihr Inneres bohren konnte. Krallte ihre Hände in sein Fleisch. Erwartete seinen Stoß.
Aber Laszlo stieß nicht zu. Und als Paula ihm ihr Becken entgegendrängte, weil sie es nicht mehr aushalten konnte, drückte er sie fest gegen das Laken.
„Du wirst schön warten, Tiger“, sagte er.
„Bitte nicht. Ich muss dann eh zwei Jahre lang warten. Das ist genug. Ich will dich in mir. Jetzt.“
Er schüttelte den Kopf. „Geduld zählt wohl nicht zu deinen Stärken, wie?“
Nein. Definitiv zählte Geduld nicht zu ihren Stärken. Und Litauisch zählte nicht zu Laszlos Stärken.
„As tave myliu“, mühte er sich.
„Was bedeutet das, bitte?”
„Ich liebe dich.“
„Ja, das weiß ich doch, Laszlo. Aber was hast du da eben gesagt? Das klang hübsch.“
„Das war Litauisch.“ Er grinste. „Möchtest du etwas Langes und Hartes?“
„Oh ja!“ Paula konnte nicht still halten unter Laszlos Körper. „Gib es mir.“
Er holte tief Luft. Und dann gab er es ihr. Das längste litauische Wort. Er sprach es so hart aus, wie er konnte: „Nebeprisikiskiakopusteliaudavome.“
„Ohh“, sie seufzte vor Wonne. „Und was heißt das?“
Er grinste. „Ich glaube, das kann man sinngemäß übersetzen mit: Ich werde dich jetzt auf der Stelle aufficken. Gierig und voll Lust.“ Er griff ihre Hüften und dann stieß er zu. Endlich.
Während der nächsten Minuten sprachen die beiden kein Wort. Aber leise waren sie trotzdem nicht.
Laszlo kam zuerst. Kam in ihr. Keuchend und stöhnend. Dann leckte er sie. Hörte wie sie immer lauter wurde. Genoss ihr Schreien. Und Paula genoss es auch.
Danach lagen ihre feuchtwarmen Körper lange engumschlungen und sie schliefen zufrieden ein.
Als sie aufwachten roch das Bett nach Sex und Lust und Glück.
„Dreh dich zu mir“, bat Paula ihn. Sie hielten einander fest. „Une seule nuit“, sang sie leise. Eine einzige Nacht.
„Es war nicht die einzige, Kleines. Wir hatten schon viele und werden noch mehr haben.“
„Ich weiß. Ich übe nur. Das ist die Nationalhymne von Burkina Faso.“
„Fis“, besserte er sie aus. „Der zweite Ton muss ein Fis sein.“
Draußen ging die Sonne auf und drinnen drängte sich Traurigkeit zwischen Paula und Laszlo. Sie würde ihn nicht zum Flughafen begleiten, das tat sie nie. Das Letzte, an das sie sich erinnern wollte, wenn sie an den Abschied dachte, sollte ein intimer Moment mit viel Laszlo, viel Liebe und viel Haut sein, und kein verschämter Kuss vor der Passkontrolle.
Es war über Ostrau oder Kattowicz, oder schon über Czenstochau, als Laszlo das kleine Päckchen öffnete, das Paula ihm auf den Fenstersims gelegt hatte, bevor sie ging.
Ich will, dass du nie wieder die Socken beim Sex anlässt, stand auf einem kleinen Zettel. Also trag bitte immer Socken, während Du in Litauen bist. Diese hier hab ich bei Hugo Boss für Dich geklaut. Ich hatte ziemliche Angst. Aber das bist Du mir wert. In Liebe, Paula.
In einer schwülen Abflughalle irgendwo in Afrika wartete sie auf ihren Anschluss nach Ougadougou. Gespannt löste sie das Bändchen von ihrem Geschenk. Netzstrümpfe. Wo bitte sollte sie die anziehen? Sie würde ihre Nächte nicht in verrauchten Bars, sondern in armseligen Lehmhütten verbringen.
Trägst du die bitte für mich, wenn wir mal ungestört telefonieren?“, las sie. „Ich hab extra welche mit ganz großen Löchern gekauft, damit du nicht so schwitzt. Dein Laszlo.
P.S. Nebeprisikiskiakopusteliaudavome. (Das ist ein litauischer Zungenbrecher und heißt: Wir haben kein Hasenkraut gesammelt. Aber hätte dich das erregt?)
testsiegerin - 9. Feb, 11:37
In vier Tagen spielt Deutschland gegen Österreich.
Deshalb hier und heute: Cordoba
„Kleines? Könntest du mir eine Flasche Bier mitbringen, bevor das Match beginnt?“ Sie klappte den Laptop zu. Der Artikel für ihre wöchentliche Kolumne in der Zeitung „Weiberwirtschaft“ war fertig. Über eine Winzermeisterin hatte sie geschrieben und deren Liebe zum Wein. Aber jetzt gab es keinen Wein. Jetzt gab es Fußball, und Fußball bedeutete Bier. Bier, Erdnüsse und Zeit fürs Zehennägel Lackieren. Sie schnalzte mit der Zunge, als ihr Mann mit zwei Flaschen und einer Schale Erdnüsse ins Wohnzimmer kam. Er trug sein Werder Bremen-Trikot. Dabei gab es heute Deutschland gegen Österreich, aber das Nationaldress war in der Wäsche. Er war erst wenige Stunden vorher vom Biochemikerkongress aus Baltimore zurückgekommen. Obwohl sein Anblick sie auch nach fünf Jahren Ehe noch immer erregte, hatte sie abgewinkt, als er ihr langes dunkelbraunes Haar zur Seite legte und sie liebevoll in den Nacken biss. Der Artikel musste noch heute in der Redaktion sein.
Wie immer, wenn es gegen Österreich ging, waren im Sektor mit den deutschen Fans zahlreiche Transparente mit hämischen Kommentaren zu lesen, wie: „30 Jahre nach Cordoba – Ösis frei zum Abschuss!“ Oder für die noch schlichteren Gemüter: „Zeigt’s den Schluchtenscheißern!“ Aber Jogi Löw verkündete vor den Mikrofonen artig seinen Respekt. „Das nächste Spiel ist immer das Schwerste.“ Rosalind liebte solche abgedroschenen Fußballweisheiten. Sie unterstrichen den archaisch-maskulinen Charakter dieses Sports. Dabei musste ihre Einstellung durchaus als radikalfeministisch bezeichnet werden.
Mit ihrer Gesinnung nahmen es die beiden ohnehin oft nicht so genau, so wie damals, als sie an der Treibjagd teilgenommen hatten. Konrads schneidiger Anblick im reaktionären grünen Loden hatte Rosalind dazu verleitet, ihn gierig ins Gebüsch zu zerren, wobei ihm der einzige Schuss an diesem Tag gelungen war, der sein Ziel nicht verfehlte.
Das deutsche Team trug Schwarz-Weiß, während die Österreicher in Rot-Weiß-Rot antraten. Zur Halbzeit lagen die Schwarz-Weißen 2:0 in Führung und Rosalinds Zehennägel waren schwarzkirschenrot.
„Schade eigentlich, dass sie die Hemden nicht auch zur Halbzeit tauschen.“ Ihre Hände krochen unter den grün-weißen Stoff und spürten warmes nacktes Fleisch. Sie betrachtete die durchtrainierten Körper der Stars auf dem Weg in die Kabinen und knetete den Ring am Bauch ihres Mannes, in dem sich seit Jahren das Fett der Erdnüsse ablagerte.
„Magst du das Trikot tauschen mit mir?“ schlug Konrad begeistert vor.
„Später, Liebes. Ist ein wichtiges Match heute.“ Sie küsste ihn flüchtig auf den Mund und zog die Hand wieder zurück. Er nickte und freute sich auf später. Hoffentlich trug sie die grüne Unterwäsche, die er ihr zur neuen Saison geschenkt hatte.
„Aus der prachtvollen Kulisse des Ernst Happel-Stadions begrüßen wir Sie zurück zur zweiten Hälfte, meine Damen und Herren“, ertönte die leicht überdrehte Stimme des Kommentators, die Rosalind jedes Mal aufs Neue erregte. Ihre und Konrads Fingerspitzen suchten und fanden einander in der Schale mit den Erdnüssen.
„Abseits!“ rief sie, als der Linienrichter die Fahne nach oben riss, und Konrad strahlte. Er liebte es, wenn seine Frau begann, ihm die Regeln zu erklären.
„Oh ja, Baby, sag es mir. Ich will es hören. Bitte!“ schmachtete er sie an.
„Eine Abseitsstellung liegt vor, wenn im Moment der Ballabgabe ein Spieler der angreifenden Mannschaft in der gegnerischen Hälfte näher zur Torlinie steht als zwei Spieler der verteidigenden Mannschaft“, zitierte Rosalind und platzierte lächelnd ein paar halbe Erdnüsse als Angreifer und Verteidiger und eine ganze als Ball auf dem Tisch. „Die Abseitsregel ist außer Kraft gesetzt, wenn der Ball vom Gegner zuletzt berührt wurde und wenn er unmittelbar von einem Eckball oder einem Einwurf kommt.“
Jetzt steckte sie verführerisch und ein wenig lasziv ein paar Spieler in den Mund. Konrad hing an den Lippen seiner Liebsten. Aber deren Aufmerksamkeit galt Josef Hickersberger, der an der Seitenauslinie stand und seinen Burschen Anweisungen zubrüllte: „Geht’s zuwe!“
Es war eine typische zweite Halbzeit. Abseitsstellungen wechselten mit Fehlpässen und auf dem Boden liegenden Akteuren, die zu Rosalinds Freude stets in Nahaufnahme gezeigt wurden. Sie hatte ihre rasierten Beine auf Konrads Schoß gelegt und ließ sie sich von ihm streicheln und massieren. Zum Ausgleich hatte sie seine Erdnussversorgung übernommen. Einmal schoben sich seine Hände etwas unter ihren Rock, was sie mit einem unmissverständlichen „Foul an der Strafraumgrenze!“ und fünfminütigem Erdnussentzug quittierte.
Die löchrige Abwehr der Österreicher bescherte den Deutschen noch eine Hand voll bester Gelegenheiten, die sie aber leichtfertig vergaben. „Tore, die man nicht schießt, die bekommt man“, überbrückte der Sprecher eine Verletzungsunterbrechung. Rosalind grinste, als habe er einen anzüglichen Witz gemacht und leckte sich einen Erdnusskrümel von den fett-salzigen Lippen.
Sie ärgerte sich, als Löw ausgerechnet den jungen Clemens Fritz heraus nahm und durch den wenig attraktiven Hilbert ersetzte. Sie fand, dass Fritz durchaus eine gute Figur gemacht hatte.
„So verlieren wir noch“, sagte sie und rieb unruhig ihren Fuß auf Konrads Oberschenkel. Der griff nach ihren Fesseln und dirigierte sie ein bisschen höher und weiter ins Mittelfeld. Als Rosalind spürte, wie seine alte Muskelverhärtung wieder aufbrach, schmiegte sie ihre Sohle ein wenig fester an ihn. Er schaute sie vorwurfsvoll an. „Gefährliches Spiel!“
Sie hörte aber nicht auf mit dem Schmiegen.
„Wir erkennen auf Vorteil!“ sagte sie und grinste herausfordernd. „Du bist ja im Ballbesitz.“ Mit den Zehen machte sie ihm klar, welche Bälle sie meinte. Durch das langweilige Geschiebe auf dem Bildschirm und das ganz und gar nicht langweilige Forechecking seiner Frau wurde auch Konrad mutiger.
„Revanchefoul!“ Er schob seine Finger unter ihren Pulli und sie ließ ihn gewähren, obwohl das klares Handspiel war.
„Alles sieht nach einem sicheren Sieg für unsere Elf aus, aber vergessen wir eines nicht...“ Die Kicker droschen planlos das runde Leder durch die Luft und der Sprecher die nächste Phrase: „Der Ball ist rund.“
„Plural, mein Lieber, Plural!“ Ballverliebt spielte Konrad weiter, während Rosalind offensiv in die Spitze ging. Sie schaute ihm dabei in seine braunen Augen. Ganz in ihre Blicke und in ihre spannende Begegnung vertieft, zuckten sie zusammen, als Österreich den Anschlusstreffer erzielte.
„Da haben wir den Salat!“ Schmollend zog sie ihren Fuß aus seinem Schoß und seine Hand unter ihrem Pulli zurück. Er war über das abrupte Ende ihrer ganz privaten Abtastphase viel enttäuschter als über den Gegentreffer.
„Metzelder!“ benannte er vorwurfsvoll den in beiderlei Hinsicht Schuldigen, dessen peinlicher Fehlpass in der eigenen Verteidigung das Tor ermöglicht hatte. Konrad wusste, dass mit Rosalind in einer solchen Situation nicht gut Erdnussessen war, und vertiefte sich ohne große Begeisterung wieder in das Geschehen auf dem Monitor.
Jogis Mannen hingegen konzentrierten sich immer weniger auf das Spiel und so häuften sich die brenzligen Situationen. In der fünfundsiebzigsten Minute säbelte Frings den flinken Harnik zwanzig Meter vor dem Tor einfach um und erhielt die rote Karte. „Ein sensationeller Freistoß! Ein traumhaftes Ballgefühl!“ schwärmte der Reporter bei Ivanschitzs Ausgleichstreffer in der Zeitlupe.
Rosalind hielt sich die Hände vors Gesicht. Ihr Mann umarmte sie tröstend von hinten und inhalierte den Melonenduft ihrer Körperlotion.
„Ich will auch sofort wieder traumhaftes Ballgefühl haben. Und dann einen Freistoß!“ flüsterte er ihr lüstern ins Ohr. Für ein paar Sekunden rührte sie sich nicht, und er bereitete sich auf einen Feldverweis vor.
„Aber Konrad! Ausgerechnet in dieser wichtigen Phase?“ Er sah aber ihre Augen blitzen und ihre Mundwinkel bewegten sich leicht nach oben.
„Och, möchtest du etwa auf die Verlängerung warten? Dabei wäre er doch schon lang genug“, neckte er sie.
„Aber der Ton bleibt an, ja?“ Rosalind drehte sich um und küsste ihn. Kaum spürbar erst, ganz sanft auf die Lippen. Dann ein kleines bisschen heftiger. Sie spielte mit seiner Zunge und zeigte als Schmankerl ein technisch sauberes Dribbling. Ihre Gedanken waren aber gar nicht mehr sauber, ebenso wenig wie die verschwitzten Trikots beider Mannschaften.
„Jetzt scheinen sie noch einmal alles zu geben, die Österreicher!“ dröhnte es aus dem Lautsprecher und Rosalind flüsterte: „Gibst du mir auch alles, was du hast?“
Konrad nickte, nahm sie in seine kräftigen Biochemiker-Arme und legte sie auf die Ersatzbank. Ihre Abwehr war längst außer Gefecht, als er ihr den Rock höher und den hellgrünen Slip zur Seite schob. Den Fernsehkommentar nahmen beide jetzt nur noch als Wortfetzen wahr. „Schauen Sie nur, wie da am Stoff gezerrt wird!“ Gemeint war allerdings das Trikot von Ballack, der inzwischen nur noch über den Platz humpelte. „Es wird Zeit, dass er rausgenommen wird.“ Das fand Rosalind allerdings auch und knöpfte freudig Konrads Hose auf. „Wir bräuchten jetzt jemanden, der zupacken kann. Das täte dem Spiel gut.“ Rosalind konnte. Und Konrad tat es gut. „In dieser Situation muss Löw Fingerspitzengefühl beweisen.“
Die Beiden auf der Ersatzbank mussten nichts mehr beweisen. Sie fühlten die Fingerspitzen des anderen und schauten sich gierig und leise stöhnend in die Augen. Was dann folgte war gleichermaßen Kellerduell und Spitzenspiel. Konrad wurde offensiver, und Rosalind konnte und wollte seinen Angriffen nichts mehr entgegensetzen. Sie warf ihren Kopf nach hinten und schrie auf. Konzentrierte sich nur noch auf ihren Körper. Seine Hände. Ihre Lust. Seine Zunge. Er genoss es, wenn seine Frau so die Kontrolle über sich verlor.
„Gib ihn mir. Bitte gib ihn mir. Du!“ bettelte sie.
„Was soll ich dir geben?“ fragte er, während er sie nun streichelte. Ganz liebevoll und sanft, nur mit der Sturmspitze sozusagen. „Was willst du denn, Baby?“
„Die Latte!“, tönte es aus dem Fernseher und Rosalind nickte nur.
„Ja, genau. Das will ich.“
Konrad ließ sie noch etwas schmoren. Er liebte es, sie durch kleine Phallrückzieher verrückt zu machen und auf Zeit zu spielen. Er würde schon noch auf seine Kosten kommen. Wie hatte Hickersberger in der Pause so schön gesagt: „Wir werden die Wuchtel schon noch im Netz versenken.“
Sie spreizte einladend die Beine, aber Konrad wollte sich vorher noch ein bisschen warmlaufen und sein Spieler drängte sich zwischen ihre weichwarmen Brüste, die ihn jedoch sofort in die Zange nahmen.
Er streichelte dabei sanft Rosalinds lindrosa Brustwarzen. Als der Druck immer stärker wurde, verwarnte sie ihn: „Die Begegnung droht etwas einseitig zu werden, Darling!“
Gehorsam änderte er seine Taktik und suchte den direkten Weg zum Tor. Während seine Hände so fest nach ihrem Po griffen, wie Jens Lehmann nach dem Ball, spielte er mit der Zunge gefühlvoll in die Tiefe. Durch das Stadion ging ein Raunen, als Martin Stranzl den Pfosten traf, durch das Wohnzimmer ging Rosalinds Stöhnen.
In Wien entwickelte sich die Auseinandersetzung zusehends zur regelrechten Fehde. Immer offensichtlicher wurde gefoult und schließlich flog auch der Österreicher Standfest vom Platz. „Wer so von hinten einsteigt, der muss einfach Rot sehen“, stellte der Sprecher fachkundig fest. Wenn es so war, wollte Konrad auch Rot sehen. Seine Frau kniete sich auf den Teppich, so dass beide einen guten Blick auf den Fernseher hatten.
Der Reporter sah nun „Torchancen hüben wie drüben“, das Spiel auf ein Tor im Wohnzimmer sah er aber nicht. „Jetzt ist alles drin!“ kam es aus dem Lautsprecher, und das spürte auch Rosalind beim nächsten Tempogegenstoß. Längst war das Stadionpublikum aufgewacht. „Da kommt sie endlich, die La-Ola-Welle“, brachte der Kommentator seine unvermeidliche Tautologie. Auch bei Rosalind kamen sie endlich, die ersehnten Wellen, die ihr aus der Möse durch Bauch, Brust und Rückenmark bis ins Gehirn liefen und von dort mehrfach zurückschwappten. Der gute Blick auf den Bildschirm war dabei zweitrangig, und der Ton war ohnehin nicht mehr zu hören.
Konrad befand sich somit bereits in der Nachspielzeit, als Harnik sich in der eigenen Hälfte den Ball erkämpfte und zu einen atemberaubenden Solo ansetzte. „Was für ein brillanter Techniker! Jetzt könnte er frei zum Schuss kommen!“ Das ließ sich Konrad nicht zweimal sagen.
„Jaaaaa!“ entfuhr es ihm befreit.
„Neeeiiin!“ schrie Rosalind gleichzeitig.
Nicht, dass sie ihm seinen Orgasmus nicht gegönnt hätte, ganz im Gegenteil. Aber während er gekommen war, hatte auch Harnik einen Treffer gelandet, genau in den rechten Torwinkel.
Konrad ließ sich erschöpft nach hinten fallen und zog sie in seine Arme. Rosalind weinte. Aber sie weinte oft nach einem Höhepunkt, wenn die ganze Spannung sich auflöste und Nähe und Vertrautheit die Erregung ablösten.
„Der Geist von Cordoba ist auferstanden! Eine blamable Niederlage, wenn auch nur in einem Freundschaftsspiel.“
Die Beiden hingegen genossen erschöpft den gemeinsamen Sieg in ihrem Liebesspiel. Konrad drückte auf die Eject-Taste des Videorekorders. Deutschland-Österreich 2008 stand auf dem abgegriffenen Etikett der Kassette.
„Immer wieder spannend, oder?“ Rosalind lächelte zufrieden.
testsiegerin - 2. Feb, 12:05
In der Savanne lebte ein Löwe. Ein prächtiger Löwe mit mächtiger Mähne. Er war der schönste weit und breit, der stolzeste, und er brüllte lauter und tiefer als sämtliche Tiere der Steppe.
Der Löwe liebte eine Gazelle. Eine Damagazelle, sie war im Gegensatz zu ihren unifarbenen Artgenossinnen gemustert und hatte einen weißen Fleck an der Kehle, der sie zu etwas ganz Besonderem machte. Der Löwe nannte sie zärtlich „meine Dramagazelle“, denn er liebte nicht nur die Gazelle und das Leben, er liebte auch das Drama. Tiefe Leidenschaften, große Gefühle, heftige Szenen. Großes Theater - wie es sich für den König der Savanne ziemte.
Auch die Gazelle liebte den Löwen von ganzem Herzen, sie schätzte das Vertraute und bewunderte das Fremde in ihm. Die Gier, mit der er die Fleischlieferung verschlang, die vom Lastwagen fiel, der das nahe Hotel belieferte. Sie beneidete ihn um seinen Hang zum Müßiggang und die Leichtigkeit seines Seins, die – aber das entdeckte die Gazelle erst später – oft mehr Schein als Sein war. Während die anderen Bewohner der Savanne jagten und sammelten, ums Überleben kämpften oder auf der Flucht waren, lehnte der Löwe an einem Baum und philosophierte.
In die Bewunderung der Gazelle mischte sich manchmal die Angst. Nämlich dann, wenn er seine Pranken ausfuhr, sie zärtlich damit kraulte und ihr ins Ohr flüsterte: „Ich hab dich zum Fressen gern.“
Als eines Tages der Löwe wieder einmal in der Sonne lag, sich von Hyänen und Erdmännchen bewundern und befürchten ließ und ihnen Abenteuer aus seinem Leben erzählte, hüpfte die Gazelle, die das Stillsitzen nicht gewohnt war, über die grasbedeckten Hügel an einen nahen See. Und ohne dass der Löwe eingreifen konnte, nahm die Geschichte ihren Lauf. Noch ehe die Sonne untergegangen war, waren Gazelle und Springbock ein Paar.
„Mein Dramagazellchen hat mir Hörner aufgesetzt“, vergaß der stolze Löwe seinen Stolz und schluchzte. So heftig schluchzte er, dass der trockene Boden zitterte.
„Hilfe! Ein Erdbeben!“ Die Erdmännchen, die das Paar seit vielen Jahren kannten und schätzten, krochen aus ihren Löchern. Sie sahen den leidenden Löwen und hatten großes Mitleid mit ihm.
„Wenn es wenigstens ein anderer Löwe wäre!“, fauchte der Löwe wütend, „aber nein, ein Bock. Ein geiler Bock. Ein Pflanzenfresser! Der weiß ja nicht einmal, wie man eine Hyäne reißt!“
„Die Damagazelle war sehr, sehr böse“, raunten die Erdmännchen dem Löwen zu, „weil sie dir so weh getan hat. Sie wird sich bestimmt bald besinnen, dass der Neue nicht zu ihr passt und dass du viel schöner und klüger bist als dieser Bock, der so seltsam über Stock und Stein springt.“
Der Affenbrotbaum, an dem der Löwe Tag für Tag sein Fell rieb, lauschte den Worten der Erdmännchen und schüttelte ein paar Blätter ab. Viel hatte er gesehen hier in der Savanne in den letzten tausend Jahren, und viel hatte er erlebt. An manches aber würde er sich nie gewöhnen.
„Kein Baum sagt einem anderen, wie er wachsen soll“, dachte er, „wann verstehen das die Vier- und Zweibeiner endlich?“
Der Löwe klagte allen Tieren des Landes sein Leid.
„Schau her“, zeigte er dem Tiger das Schlammloch, das er sich aus Kummer gegraben und mit Tränen gefüllt hatte, „schau, wie dreckig es mir geht. Bring mir die Gazelle wieder zurück, du bist doch ihr Freund. Und meiner. Wir Raubkatzen müssen jetzt zusammenhalten!“
„Hm“, knurrte der Tiger und wusste keinen Rat, denn für die Weisheit war die Schleiereule zuständig, die ganz oben im Geäst des Baumes lebte, aber nur am ersten Vollmond im Jahr Gäste empfing. „Ich will doch nur“, fuhr der Tiger fort, „dass die Gazelle glücklich ist, egal mit wem. Und ich will, dass auch du glücklich bist, auch egal mit wem. Vor allem aber will ich, dass ich glücklich bin. Nicht egal, mit wem.“
In einer Höhle im afrikanischen Baobab, wie der Affenbrotbaum heißt, hockte ein Langflügelpapagei und sang ein trauriges, aber wunderschönes Lied. „Das Glück ist ein Vogerl“, flötete er, „wenn es bei dir ist, kannst du es kurz fest halten, aber du darfst es nicht festhalten, sonst erstickt es. Du musst es fliegen lassen“, und schon flog er davon, der Papagei mit den bunten Kleidern und der schönen Stimme.
Keiner kann mir helfen, grummelte der Löwe und schlief traurig ein.
Nur ich selbst kann mir helfen, dachte er, als er aufwachte, denn er hatte bemerkt, dass die Traurigkeit für jemanden, der das Leben und die Lust liebte, auf die Dauer alles andere als lustig war. Außerdem fühlte er sich nicht mehr wohl in seiner schlammverkrusteten Haut und mit seiner verklebten Mähne. Bestimmt sah er richtig jämmerlich aus.
Als die Sonne aufging, stapfte er zur Quelle und spülte sich den Kummer vom Körper. Als er sauber war, besah er seinen Löwenleib im Wasserspiegel. Das Fell glänzte wieder und sein Schwanz war geschmeidig und weich. Sein Körper war voller Narben, die das Leben ihm zugefügt hatte. Und ich habe sie alle überlebt, dachte er stolz. Jede einzige. So oft, wie ich hingefallen bin, bin ich auch wieder aufgestanden.
Er trank von dem klaren Wasser und blickte in die Weite der Savanne. In der Ferne erkannte er die funkelnden Augen einen Gepardin.
Bevor er sich auf den Weg machte, blickte er noch einmal zurück. Zurück auf seine Vergangenheit und die aufregende Zeit mit der Gazelle. Es tat noch immer weh. Trotzdem sagte er: „Ich wünsche dir alles Glück der Welt.“
testsiegerin - 24. Jan, 20:49