Geschichten

Sonntag, 20. Januar 2008

Alles wird Hut

„Bitte die Fahrscheine vorweisen!“
Charlotte Paulsen streckte dem Schaffner die beiden Tickets entgegen.
„In Bologna müssen Sie umsteigen. Ich wünsche den Herrschaften eine angenehme Reise.“
Das wünschte Charlotte sich auch. Dreizehn Stunden Anreise im Zug und zwei Tage Aufenthalt in Alessandria lagen vor der Geschäftsführerin von Hab & Hut. Fliegen wäre natürlich schneller und bequemer gewesen, aber Charlotte litt unter entsetzlicher Flugangst. Sie litt auch unter Bauchweh vor der gemeinsamen Reise mit ihrem Hutdesigner, aber Herr Heinrich Hab, der Firmenbesitzer, hatte darauf bestanden, dass sie gemeinsam die Modistenmesse besuchten.
„Waren Sie schon mal im Piemont?“ Ludger Safranski bot ihr einen Kaugummi an.
„Nein, noch nie. Es ist ja auch die erste Hutmesse in Alessandria.“
Anlass der Messe war der 175. Geburtstag von Giuseppe Borsalino, dem Begründer der berühmten Hutfabrik.
„Es gibt aber doch sicher aufregendere Gründe ins Piemont zu reisen als eine Hutmesse.“
„Da haben Sie Recht.“ Charlotte Paulsen repetierte ihr Reiseführerwissen. „Skilaufen in Sestriere. Romantische Bootsfahrten auf dem Lago Maggiore. Trüffelsuche in der Langhe. Mode-Shopping in Turin.“
Den aufregendsten Grund, warum sie hier und jetzt ins Piemont reiste, verschwieg sie aber. Der saß ihr gegenüber und hielt ihr noch immer einen Kaugummi entgegen.
„Nein danke, ich kaue nicht. Davon bekomme ich Muskelkater im Kiefer. Waren Sie schon mal dort?“
„Ja. In Turin.“ Er schaute zu Boden.
„Und?“
„7. März 2006.“ Ludger Safranski winkte ab.
Oh je. Offensichtlich war an diesem Tag in Turin etwas Schlimmes passiert. Vielleicht war seine Verlobte mit einem Italiener durchgebrannt. Oder sein brandneues Cabrio hatte im norditalienischen Verkehrsgewühl einen Totalschaden erlitten. Und er hatte dabei womöglich noch einen Menschen überfahren. Charlottes Magen krampfte sich zusammen. Aus Mitgefühl einerseits, andererseits aber auch, weil sie jetzt nicht bis Venedig traurige Geschichten hören wollte.

„Das tut mir leid“, sagte sie, ohne eine Ahnung davon zu haben, was ihr überhaupt leid tat.
Er nickte. „Ja, mir auch. Werder war die bessere Mannschaft. Und dann lässt Wiese kurz vor Schluss einfach den Ball fallen. Unglaublich.“
Charlotte atmete auf. Nicht etwa, weil sie gern über Fußball redete. Aber lieber über Fußball als über Verblichene oder Verflossene.
„Ich wusste nicht, dass Sie ein Fan von Werder Bremen sind. Ich dachte, Sie stammten aus dem Ruhrgebiet?“
„Aus Paderborn. Das ist zwar Westfalen, aber nicht im Ruhrgebiet.“
Sie errötete leicht. Dabei war ihr klar, dass auch Ludger Safranski noch vor einem Jahr St. Pölten für ein Zentrum des alpinen Schitourismus gehalten hätte. „Und Paderborn liegt bei Bremen?“
„Global betrachtet schon. 250 Kilometer sind ja keine Entfernung. Wir sind nach Bremen gezogen, als ich zwölf war.“
Charlotte überlegte, wie er wohl mit zwölf ausgesehen haben mochte. Hatte die Nase schon damals so viel Platz in seinem Gesicht eingenommen? Waren die Haare so struppig in alle Richtungen gestanden wie jetzt? Oder hatte Mama Safranski dafür gesorgt, dass sie stets sorgfältig frisiert und gescheitelt waren?
„Wollten Sie schon damals Hutdesigner werden?“
„Nein. Ich war fantasielos, wie alle Jungs in dem Alter. Ich wollte Mittelstürmer bei Ajax Amsterdam werden.“ Er grinste. „Amsterdam lag nämlich auch so gut wie um die Ecke. 350 Kilometer sind ja keine Entfernung.“
Zwischen Charlottes und Ludgers Augen lagen etwa neunzig Zentimeter. Und Charlotte konnte nicht sagen, ob ihr das zu weit entfernt oder zu nahe war.

Seit fünf Monaten spielten die beiden nun bereits mit der Distanz und mit der Nähe. Schon am ersten Tag hatten sie einander sympathisch gefunden, als Heinrich Hab sie als „Frau Paulsen“ und „Herr Safranski“ vorgestellt hatte. Eben dieser Heinrich Hab, der in seiner Firma kein Techtelmechtel zwischen seinen Mitarbeitern duldete, der sogar den eigenen Neffen aus der Firma geworfen hatte, weil der sich mit dem Lehrmädchen auf dem Donauinselfest getroffen hatte. Er wünschte es auch nicht, dass einer seiner Hutmacher eine Vorgesetzte duzte. Ludger war es seit der Kindheit gewohnt, sich mit dem Gebaren der Obrigkeit zu arrangieren, ohne deren Ansichten zu übernehmen. Schließlich hatte er die streng katholische Grundschule am Paderborner Dom besucht und war dennoch zu einem gesunden Jungen herangereift. Charlotte arbeitete seit einundzwanzig Jahren in der Firma und fühlte sich ebenfalls jung, reif und gesund.
Sie hielten sich brav an die Regeln und legten umso mehr Betonung auf das „Sie“, je näher sie sich kamen. Seitdem sie erfahren hatten, dass sie gemeinsam nach Italien fahren würden, betonten sie ganz besonders nachdrücklich.
Es knisterte.
Ludger wühlte in seiner Sporttasche und brachte eine Packung Erdnusslocken zum Vorschein.
Charlotte lehnte ab. „Von Erdnüssen bekomme ich so ein Kratzen im Hals.“
„Klar. Darf ich Sie etwas fragen?“
„Wenn es sich nicht um das Ergebnis eines Champions League-Finales handelt, gerne.“
„Sie sind Geschäftsführerin einer Hutfabrik und ich habe Sie noch nie mit einem Hut gesehen. Tragen Sie keine Hüte?“
„Würden Sie eine ähnliche Frage auch stellen, wenn wir in einer Fabrik für Unterwäsche beschäftigt wären?“ Sie amüsierte sich über sein Erröten. Gleichzeitig ermahnte sie sich, nicht zu weit zu gehen. Natürlich hatte sie Spaß daran, mit einem um zehn Jahre jüngeren und spannenden Mann zu flirten. Natürlich hatte sie Lust auf mehr. Auf seine Entwürfe und Trendansagen konnte sie sich verlassen, aber auch auf seine Diskretion? Eine kleine Bemerkung hier, ein verräterisches Lächeln da, und schon wäre ihr Job beim Teufel. Das war kein Mann wert.
„Soll das etwa heißen, Sie tragen keine Unterwäsche?“ Ludger hatte die Fassung schnell wieder gefunden.
„Interessiert Sie das?“ Sie genoss den Blick in seine dunklen Augen.
„Ja.“
Plötzlich war alles dunkel, nicht nur seine Augen. Der Zug war in einen Tunnel eingetaucht. Wie nah mochte er jetzt sein? Sie hielt den Atem an. Der Zug schaukelte sie sanft hin und her.
Er saß im Dunkeln und wagte nicht, sich zu rühren. Er wagte nicht, sie zu berühren. Er spürte den Blick von Heinrich Hab im Nacken, die strengen Augen, die ihn durch die unfehlbare schwarze Hornbrille beobachteten, hier im stockfinsteren Zug zwischen Bruck und Leoben.
Genauso plötzlich, wie es zuvor dunkel geworden war, wurde es jetzt hell.
Charlotte begann wieder zu atmen und schaltete einen Gang zurück: „Sie haben mich vorhin gefragt, warum ich nie Hüte trage.“
Ludger zog die Augenbrauen hoch und schmunzelte. „So? Habe ich das?“
„Haben Sie.“
Er legte den Zeigefinger auf seine Lippen. „Pssst. Sagen Sie nichts. Lassen Sie mich raten: Sie glauben, Sie haben kein Hutgesicht?“
„Ich glaube nicht. Ich weiß.“
Er zog Zeichenblock und Stift aus der Tasche. „So ein Unsinn. Jede Frau hat ein Hutgesicht. Es passt nur nicht jeder Hut zu jedem Gesicht. So wie nicht jeder Deckel auf jeden Topf und nicht jeder Spieler in jede Mannschaft passt. Oder können Sie sich Ronaldinho bei Zhenis Astana vorstellen?“
„Wer ist Zhenis Astana?“
„Kommen Sie näher“, lockte er sie und sie kam näher.
„Zhenis Astana ist kasachischer Fußballmeister“, flüsterte er ihr ins Ohr.
„Schade. Ich hatte gehofft, Zhenis Astana wäre eine aufregende Frau.“
„Du lieber Himmel. Was sollte eine schöne Frau von Ronaldinho wollen?“ Ludger kaute zur Illustration mit Hasenzähnen auf der Unterlippe.
„Muss eine Frau denn schön sein, um aufregend zu sein?“ Auch Charlotte biss sich auf die Unterlippe, was allerdings sehr viel attraktiver wirkte.
„Es gibt Frauen, die sind schön und aufregend.“ Mit geübten Strichen skizzierte er ihr Gesicht.
„Gibt es die?“
Er hörte auf zu zeichnen und blickte ihr tief in die Augen. „Ja.“

„Ist hier noch frei?“ Eine Dame, die vor fünf Jahrzehnten schön und aufregend gewesen sein mochte, betrat das Abteil.
„Ja, natürlich.“ Ludger legte Stift und Papier zur Seite und wuchtete den Koffer der Frau auf die Gepäckablage. „Kompliment zu Ihrem Hut“, sagte er anerkennend, „der Stetson steht Ihnen wirklich gut.“
Die Dame nahm gerührt neben Ludger Platz. „Wissen Sie, ohne Hut fühle ich mich irgendwie nackt.“
Ludger lächelte triumphierend. „Meine Rede. Man behauptet sich leichter, wenn man sich be-hauptet.“
Charlotte richtete sich auf. „Ich behaupte ja gar nicht das Gegenteil. Ich finde Hüte sehr schön. Es ist nur wegen des Hutgesichts.“
Sie wusste nicht, ob sie der Frau für ihr Auftauchen böse oder dankbar sein sollte. Böse, weil sie die angenehme Spannung unterbrochen hatte, oder dankbar, weil sie ohne es zu wissen dazu beitrug, dass zwei Menschen ihren Arbeitsplatz behielten.
„Darf ich Ihnen ein Schweizer Konfekt anbieten?“ Die alte Dame hielt Charlotte ein Holzschächtelchen unter die Nase.
„Das ist ganz lieb“, lehnte Charlotte ab, „aber ich bin allergisch auf Kakaobutter.“
Die Dame verzog das Gesicht, als litte Charlotte unter einer unheilbaren Krankheit, was bei einer Kakaobutterallergie vermutlich auch der Fall war. Ihre Miene heiterte sich aber rasch wieder auf, als Ludger begeistert zugriff.
„Darf ich Ihnen im Gegenzug ein Stück Lübecker Marzipan anbieten?“
„Kommen Sie etwa aus Lübeck?“
„Nein, aus Bremen. Aber 200 Kilometer sind...“
„...sind ja keine Entfernung“, ergänzte Charlotte, die sich langsam ein wenig ausgeschlossen fühlte und keineswegs mehr in Betracht zog, dankbar zu sein. „Wohin reisen Sie?“
Das war die höfliche Umschreibung für: „Wann steigen Sie endlich wieder aus?“
„Ich fahre nach Friesach“, lautete die erleichternde Antwort.
„Friesach ist wundervoll“, befand Charlotte, die nun hoffte, die Nacht im Liegewagen mit ihrem Hutmacher allein zu verbringen. Heinrich Hab war nicht nur streng, sondern vor allem auch geizig. Charlotte hatte den Auftrag die Reisekosten so gering wie möglich zu halten. Deshalb auch keine Fahrt im Erste-Klasse-Waggon und kein komfortables Bett im Schlafwagen, statt dessen eine schmale Pritsche in einem Abteil für sechs Personen. So eine Pritsche konnte man gar nicht teilen, selbst wenn man wollte.
Die beiden anderen tauschten Höflichkeiten, Naschwaren und Visitenkarten aus, und Ludger versprach, die Frau Magister demnächst in Friesach zu besuchen. Charlotte mühte sich damit, sich auf ihren Krimi zu konzentrieren.
„Wir erreichen in Kürze Friesach“, befreite die Stimme aus dem Lautsprecher sie von ihren Qualen. „We will shortly arrive in Friesach.“
Ludger half dem Koffer von der Gepäckablage und der alten Frau aus dem Zug. Dann machte er es sich wieder auf seinem Sitz gemütlich, grad so, als ob nichts geschehen wäre. Aus seiner Tasche zauberte er zunächst einen Kühlbeutel und aus diesem wiederum eine Flasche Sekt. Gekonnt entkorkte er die Flasche, ganz ohne Knallen. Charlotte war sofort bereit ihm seine Unaufmerksamkeit während der letzten Stunde zu verzeihen. Er wickelte eine Sektflöte aus einem Tuch. Eine. Er schenkte sich ein und hob das Glas.
„Prost, Frau Paulsen. Auf schöne Tage in Italien.“
Sie konnte es nicht fassen. „Das ist aber freundlich von Ihnen, mir auch ein Gläschen anzubieten“, schnappte sie beleidigt.
„Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen.“ Er nippte vom Sekt. „Sie sind doch bestimmt überempfindlich gegen die Perlen, nicht wahr?“
„Warum glauben Sie das?“
„Sie vertragen doch weder Kaugummi, noch Erdnüsse oder Kakaobutter. Ich musste davon ausgehen, dass Sie sich von destilliertem Wasser und sterilisierter Astronautenkost ernähren.“
„So? Mussten Sie das? Und wenn Ihre Annahme nun falsch ist?“
„Machen wir die Probe aufs Exempel.“ Ludger öffnete erneut seine Tasche und befreite ein weiteres Sektglas aus dem Tuch.
„Ich habe übrigens gar keine Allergie gegen Kakaobutter. Ich kann nur die Schweizer nicht leiden, da wollte ich kein Konfekt von dort. Haben Sie vielleicht noch etwas Marzipan für mich?“
„Aber gern. Vorausgesetzt, Sie haben nichts gegen Hanseaten.“ Er goss den Sekt in ihr Glas und schaute sie verführerisch an.
„Wollen Sie mich mit dem Alkohol etwa gefügig machen?“
„Nein. Lieber mit dem Marzipan.“
Charlotte trank Sekt. Erst in kleinen, dann in größeren Schlucken. Der Alkohol erreichte ohne Umschweife ihr Gehirn und prickelte darin. Sie kostete vom Marzipan und leckte sich anschließend langsam die Finger ab, sogar die, die gar nicht damit in Berührung gekommen waren. Ludger saß aufrecht in seinem Sitz, in einer Hand sein Glas, in der anderen die Flasche, aus der er Charlotte hin und wieder nachschenkte. Zwischendurch stellte er die Flasche zur Seite und fütterte sie mit Marzipanhappen, sorgsam darauf bedacht, weder ihre Lippen noch ihre Zunge zu berühren. Charlotte legte den Kopf in den Nacken und strich nun mit dem Zeigefinger vom Kinn abwärts, über ihren Hals, bis zur Perlenkette, mit der sie spielte.
„Sagen Sie mir bitte, wenn Sie so weit sind?“
Sie hielt in ihren Bewegungen inne. „Wie weit?“
„Na gefügig.“
„Möchten Sie etwa wieder eine Probe aufs Exempel machen?“
Sie hafteten mit den Blicken aneinander wie zwei Hypnotisierte und ließen ihren Gedanken schweigend freien Lauf, als der Zug in den Bahnhof von Villach einrollte und neben einer Reklamewand zum Stehen kam.
Seien Sie auf der Hut, lautete der Slogan, und kein geringerer als Heinrich Hab selbst hatte sich als Träger seines eigenen Produktes auf dem Plakat ablichten lassen. Seine grauen Augen drangen tief hinein in das Liegewagenabteil des EuroNight-Zuges Allegro Tosca, der in Kürze Italien erreichen sollte.

Erst als sie die Grenze überschritten hatten, griff Ludger wieder nach Block und Bleistift und setzte sein Werk – noch immer wortlos – fort. Diesen Hut hatte er schon seit ein paar Monaten in seinem Kopf mit sich herumgetragen, auf ihrem Kopf.
Er widmete sich ihren Augen, deren Grün er mit dem Kohlestift in Grauschattierungen auf das Papier bannte. Das linke Lid zuckte und er bemerkte, wie Charlotte versuchte, die Kontrolle zu behalten. Aber in der Tiefe loderte ein Feuer. Seine kühle, souveräne Vorgesetzte brannte. Die Haut über den hohen Wangenknochen glühte. Ihre Lippen blieben zwar geschlossen, aber er konnte genau hören, was sie ihm zuflüsterten. „Ludger“, raunten sie in seiner Fantasie, „berühren Sie mich endlich.“
Und er berührte sie. Auf dem Zeichenblatt. Er verwischte allzu strenge Konturen und ihr Gesichtsausdruck wurde unter seinen Fingern weich und warm. Versunken in sein Modell und das Bild zeichnete Ludger, während Charlotte ihm bewegungslos gegenübersaß und der Zug sich Kilometer um Kilometer Venedig näherte.
„Schon fertig?“
Er schüttelte den Kopf und konzentrierte sich auf den Hut.
„Gibt es so viel an mir zu zeichnen?“
Er lächelte vieldeutig. „Ja. Und nein.“
„Stört es Sie, wenn ich die Augen schon ein wenig schließe?“
„Keineswegs. Schließen Sie nur.“
Und Charlotte schloss die Augen. Hörte das Rauschen des Zuges. Träumte von Venedig und vom Piemont. Von Ludgers Körper und ihrem eigenen. Von prickelndem Sekt, köstlichem Marzipan und gierigem Sex. Ein leichtes Ruckeln riss sie aus den Träumen. Sie fand ihren Körper nicht in seinen Armen, sondern unter einer wärmenden Decke wieder. Ihr gegenüber saß Ludger, schlafend, den Zeichenblock im Schoß. Vorsichtig, damit sie ihn nicht weckte, griff sie danach.

Charlotte sah und staunte. Ein Damenhut ohne Krempe, im 50er-Jahre-Stil mit einer großen, aber schlichten Blume an der Seite, dazu ein schmales Lederbändchen mehrmals lässig um den Hut gewickelt. Wollfilz vom Merinoschaf, bordeauxrot mit weißer Maulbeerseide, hatte er dazugekritzelt. Mit dieser Kopfbedeckung könnte sie sich tatsächlich anfreunden, und nicht nur damit. Er hatte sie schmeichelhaft abgebildet, die Fältchen um Augen und Mund nur angedeutet, und selbst die kleine Narbe am Kinn hatte er dankenswerterweise weggelassen.
Sanft strich sie über die Zeichnung, löste das Blatt aus dem Block, faltete es zusammen und steckte es in ihren Ausschnitt. Sie fragte sich, woher er von dem Muttermal an ihrem rechten Oberschenkel wusste. Aber alles wusste er scheinbar nicht. Sonst hätte er ihre Brustwarzen größer gezeichnet. Den Rest hatte er sich ein wenig schöner als die Realität vorgestellt, fand sie und kroch mit Herzklopfen unter die Decke.

Sonntag, 11. November 2007

Gegen den Wind

Eine Freundin hat sich von mir eine Geschichte über ihre Geschichte gewünscht. Da ich im Moment ohnhin nichts schenken kann, das mit Kosten verbunden ist, sondern höchstens meine Zeit, hab ich das gerne getan. Hier ist sie:



Against the wind
Well I'm older now and I'm still running
Against the wind...
(Against the wind – Bob Seger)



Mit sechzehn steht sie an der Bundesstraße, den Daumen nach oben. Wie alle Sechzehnjährigen träumt sie von der Freiheit, der Ferne und der ewigen Liebe.
Irgendwann setzt sie sich auf den Gehsteigrand und legt ihr Ohr auf die Straße. Sie hört den vorbeirasenden Motorrädern zu. Das Brummen der Motoren und die Reibung der Reifen auf dem Asphalt vibrieren auf ihrer Haut. Manche nennen diese Melodie ahnungslos Lärm. Sie können die Musik nicht hören, denkt sie und lauscht der Symphonie der Straße.
Einer der Biker hält und klappt das Visier seines Helms nach oben. In ihren Augen sieht er die Sehnsucht nach Freiheit, Ferne und ewiger Liebe.

She's harley and
She's bad say yeah
Can I take you for a ride
On my motorbike
(Harley – The Jackson 5)



Sie steigt auf und stellt fest: Manchmal dauert die Ewigkeit nur wenige Wochen. Manchmal ist das gut so.
Männer und Ewigkeiten kommen und gehen, die Liebe zum Motorrad bleibt. Irgendwann wird sie ihr eigenes haben. Daran glaubt sie. Dafür spart sie. Doch kaum ist der Boden ihres Sparschweines mit Münzen bedeckt, kommt auch schon etwas dazwischen. Ein Mann, ein Kind, ein Haus. Eine Trennung, kein Haus mehr, Schulden. Sogar der Tod mischt sich in ihr Leben und will ihre Träume zerstören. Die wanken zwar bedrohlich, aber sie sterben nicht. Sie sind stärker.

Right now I'm just learning to ride, man
Oh but I'll have a Harley someday.
(David Allan Coe – A Harley Someday)


Weil es mit den großen Zielen nicht klappen will, setzt sie sich kleine. Wenn schon keine Harley für sich allein, dann wenigstens viele, die anderen gehören. Mit dem Zug reist sie in den Süden, zum Harley-Treffen am See. Im Gepäck Vorfreude und die alte Sehnsucht.
Ihre Samtstulpen hat sie gegen lederne Bikerhandschuhe eingetauscht, die hochhackigen Schuhe gegen Boots. In der Hand den Helm, der Zugehörigkeit demonstriert.
Inmitten des Duftes von Leder, Rauch und Freiheit ist sie endlich angekommen. Wie eine Bienenkönigin fühlt sie sich im Gewühl von blitzenden und surrenden Maschinen und Menschen. Menschen, die unterschiedliche Sprachen sprechen und trotzdem alle die gleiche, die keine Worte braucht. Nur Chrom, Benzin und Motoröl.

I like smoke and lightning, heavy metal thunder,
racing with the wind and the feeling that I'm under.
Yeah, darling, gonna make it happen.
(Born to be wild – Steppenwolf)


Am Abend schlürft sie anstatt Nektar Prosecco. Rundherum fließen Bier und Wein, in ihr fließen tausend Glückshormone. Wild und frei ist sie. Ihre Ängste, ihre Sorgen und ihren Alltag hat sie zu Hause gelassen, im Wissen, dass die dort geduldig auf sie warten.
Denn endlich ist sie wieder da. Diese unbändige Lust aufs Leben. Und weil ihr nach Tanzen zumute ist, tanzt sie. Einen Unbändige-Lust-aufs-Leben-Tanz tanzt sie.

Look at her now, look at her go
Out from the shadows, into the show
Ridin it hard, ridin it low
Flyin her colors, she's ready to roll
(Haley’s got a Harley – Van Zant)


Mitten im Tanz verfangen sich ihre Blicke in blauen Augen.
„Nimm sofort den Magneten weg“, sagt sie und denkt: „Zieh mich an. Zieh mich hin. Zieh mich aus.“
Auch er spricht eine fremde Sprache, denn er ist Deutscher. Aber manchmal braucht es ohnhin nicht viel Gesagtes.
Anstatt in ihr Glas, lässt sie den Eiswürfel in sein Shirt fallen.
„Kalt?“
Er schüttelt den Kopf. „Nein. Heiß. Sehr heiß.“
Nicht nur der Eiswürfel schmilzt.
Vielleicht ist es falsch, was sie tun. Aber warum fühlt es sich dann so verdammt richtig an?

Highway lady, high on wheels
make you smile again
How she feels
(Ufo)


Am nächsten Morgen sitzt sie auf dem Sozius seiner Harley-Davidson und hält sich an ihm fest. High Wheels statt High Heels. Sie gewährt ihm Einblicke in ihre Welt. Serpentinen hinauf und hinunter. Ein Kaffee bei der Mutter. Berge. Wiesen. Seen. Kärntner Kasnudeln bei einer lieben Freundin. Sie teilt ihm ihre Gedanken mit und teilt mit ihm ihre alte Heimat. Noch ahnt sie nicht, dass ihr Herz gerade im Begriff ist, eine neue zu finden. Das Leben teilt großzügig Geschenke aus und sie breitet beide Arme aus, um sie einzufangen.

Moses used to sniff the lines
Noah used to rock the boat sometimes
Mary used to get undone
Jesus rode a Harley Davidson
(Jesus rode a Harley – Ugly Kid Joe)


Nachts gewährt sie ihm Ausblicke in ihre Seele. In dem kleinen Zelt hören sie „Du bist vom selben Stern“. Auf der schmalen Matratze kann er ihren Herzschlag hören. Während Ich + Ich vom Du singen, werden er und sie zum Wir.
Zärtlich streichelt sie über den Harley-Motor auf seinem Oberarm, zaghaft kriechen Körper aufeinander zu, gierig gleiten Hände, süchtig suchen Münder.
„Bist du gekommen?“ fragt sein unverschämtes Lächeln, als die Sonne aufgeht.
„Ja. Um zu bleiben.“

Dann sagt ihr: "Schau! The end is near now
bitte face your final curtain."
Aber wir sind schlau,
wir bleiben hier für die Gesichter, die empörten
Diese Geister singen schief
und sind nicht einfach auszutreiben.
Enschuldigung ich sagte:
"Wir sind gekommen um zu bleiben"
(Gekommen um zu bleiben – Wir sind Helden)


*

In ihren Augen blitzt die Liebe, wenn sie ihn anschaut. Die Sehnsucht nach Freiheit ist immer noch da, und sie ist immer noch so stark wie damals, als sie sechzehn war und am Straßenrand saß. Aber jetzt ist sie Hand in Hand mit der Gewissheit gekommen, dass sie bei ihm zugleich frei und daheim sein kann.
Wenn sie zärtlich über den glatten, kühlen Körper seiner Geliebten streicht, dann blitzt und donnert sie besonders heftig. Die Hoffnung, dass diese Liebe ewig hält.

Mittwoch, 17. Oktober 2007

Der Posaunist

„Hat es geklopft?“, fragte Britta und die anderen verstummten oder ließen ihre Instrumente sinken.
„Ich hab nichts gehört.“ Dorothea, die Diva, wie die anderen sie nannten, fühlte sich gestört. Gerade diese Stelle war so schwierig. Jetzt musste sie noch mal von vorne anfangen. Dabei war sie hungrig und wollte nach der Probe noch mit Susi essen gehen.
Aber jetzt hörte auch sie das leise Klopfen an der großen Holztür. „Könnte jemand von euch aufmachen?“, fragte sie in einem Tonfall, wie er sich für eine Diva gebührte. Britta rollte zwar die Augen, legte aber die Geige zur Seite, ging zum Eingang und öffnete.
„Hallo“, sagte ein junger Mann, hübsch anzusehen. „Hier bin ich!“ In seiner Hand hielt er einen Notenständer und einen Instrumentenkoffer.
Britta lächelte ihn freundlich an.
„Ich bin Kurt“, sagte der groß gewachsene, gut gebaute Mann. „Ein Freund hat mir von eurem Orchester erzählt. Und ich möchte gerne hier mitspielen!“
„Herzlich willkommen“. Sie begleitete ihn zur Bühne.

Dorothea sah seine dunkelbraunen Augen und leckte sich die Lippen. Au ja, dachte sie, ich möchte auch gern mit dir spielen.

„Welches Instrument?“, fragte Richard mit seiner Bassstimme neugierig.
Der Fremde mit den schwarzen Locken lächelte verlegen. „Posaune. Könnt ihr eine Posaune brauchen?“
„Po-sau-ne hat uns noch ge-fehlt!“, trällerte die Diva ihre A-Dur Tonleiter. Und wieder hinab ganz leise. „Und so ein hüb-scher noch da-zu.“

Susi grinste. Sie hatte Dorothea nicht ausstehen können, früher. Weil sie sich so wichtig machte. Weil sie glaubte, die Beste zu sein. Zugegeben, sie sang gut und war recht witzig, aber Susi hasste es, wenn sie sich so in den Mittelpunkt drängte. Und kein Verständnis hatte für die, die nicht jeden Ton trafen. Wenn sie hier singt, dann höre ich auf , hatte Susi gesagt. Aber ihr Stolz war stärker als ihr Trotz und ihre Neugierde auch. Und irgendwann hatte sie Dorothea als hilfsbereite, liebenswerte Frau kennen gelernt.

„Wunderbar“, riss der Neue sie jetzt aus ihren Erinnerungen und packte seine Posaune aus. „Dann wollen wir mal loslegen.“
Und er legte los.

Die Klarinettistin versteckte sich hinter Dorothea, kramte in der Handtasche und stopfte sich Ohropax in ihre Gehörgänge. Der Trompeter räusperte sich kurz und schaute hilflos zu seinem Freund an der Pauke. Der verzog das Gesicht und flüsterte dem Mann mit den Becken etwas ins Ohr.

Niemand sagte etwas.
„Und?“, strahlte Kurt stolz in die Runde, und als niemand etwas sagte: „Es ist das erstes Mal, dass ich wo vorspiele.“
„Ähm“, setzte Richard an, sah aber Brittas Blick und entschied sich, zu schweigen. Die anderen taten es ihm gleich.

„Es war Scheiße“, durchbrach Dorothea schließlich die Stille. „Kein einziger Ton war richtig. Aber du schaust verdammt gut aus.“
Susi kicherte und Britta schaute die Diva voller Verachtung an. Die ließ sich aber nicht unterbrechen.
„Ich will ehrlich sein, Kurt. Du kannst leider nicht spielen, und du hast überhaupt kein Rhythmusgefühl“, meinte sie verärgert. „Ich schlag vor, du gehst jetzt nach Hause, nimmst ein paar Jahre lang Unterricht und dann kommst du wieder.“
„Dooooo – reeeee – miiiiii – faaaaaaa .....“, Richard begann zu singen, denn die Situation war ihm peinlich.

Dorothea sah, dass Kurt sich verschämt ein paar Tränen aus dem Gesicht wischte. Jetzt tat er ihr leid. Vielleicht war sie ja doch etwas zu schroff gewesen?
„Soll ICH blasen?“, versuchte sie einen Witz, aber Kurt verstand ihn entweder nicht oder aber er hatte keinen Sinn für Humor.

„Also ich find schön, dass du bei uns bist“, lächelte Britta ihn warmherzig an. „Und ich hoffe, du fühlst dich wohl bei uns.“

Er aber zerlegte seine Posaune, packte sie in den Koffer und rannte damit zur Tür hinaus. „Ich spiele überhaupt nie wieder einen Ton!“, schrie er, bevor er die Tür zuknallte.
Vielleicht auch besser so , dachte Dorothea, schluckte es aber hinunter, um ihn nicht noch mehr zu kränken.

„Ich muss mit dir reden.“ Britta nahm die Diva zur Seite.
„Ja?“
„So geht das wirklich nicht, Doro“, sagte sie. „Siehst du denn nicht, wie du Kurt verletzt hast?“
„Aber“, verteidigte Dorothea sich, „hast du denn nicht gehört, wie falsch der gespielt hat? Das geht doch auf keine Kuhhaut.“ Sie schüttelte sich. „Nur hübsch auszuschauen ist ein bissl zu wenig.“
„Du hättest ihm das viel netter sagen können. Oder hättest du halt einfach nicht hingehört! Es ist zwar nicht von Nachteil, wenn jemand ein Instrument beherrscht, wenn er hier mitmacht, aber es muss doch nicht unbedingt sein. Jetzt hast du sein Selbstwertgefühl zerstört!“
„Sind wir eine Therapiegruppe oder ein Orchester?“, schnappte die Diva schnippisch und stopfte wütend die Noten in ihre Tasche.
„Natürlich sind wir ein Orchester. Ein Hobby-Orchester. Aber wir sind hier weder bei den Sängerknaben noch bei den Wiener Philharmonikern“, belehrte Britta sie. „Sogar Richard trifft hin und wieder einen Ton nicht.“ Offensichtlich hielt sie musikalische Dissonanzen besser aus als menschliche. „Verstehst du das denn nicht? Hier sollen sich alle wohl fühlen und auch die eine Chance haben, die nicht so gut sind. Wir müssen ihnen helfen!“
Dorothea hatte keine Lust, weiter zu diskutieren. Ihre Stimme musste sie nicht mehr einpacken, sie warf sich nur die Jacke über und lief hinaus.

Auf den Stufen hockte Kurt.
„Es tut mir Leid. Ich wollte dich nicht kränken.“ Dorothea reichte ihm ein Taschentuch, aber er winkte ab. Sie steckte das Taschentuch wieder ein und ersetzte es durch eine Visitenkarte.
„Hier. Mein Bruder unterrichtet alle möglichen Blasinstrumente. Ruf ihn einfach mal an, ja?“
Er nickte.
„Darf ich mich zu dir setzen?“
Er nickte noch einmal. Dorothea betrachtete ihn von der Seite. Er hatte schöne Lippen. Viel zu schade für eine Posaune.
„Warum willst du unbedingt mitspielen?“ wollte sie von ihm wissen.
„Ach, vielleicht war es blöd von mir. Aber ich hab mich in ein Mädchen verliebt, das auf Musiker steht.“
Jetzt war sie es, die nickte. Ah ja. Dafür hatte sie Verständnis. „Und was machst du, wenn du nicht Posaune spielst?“
„Ich habe ein kleines Restaurant beim Prater“, erzählte er. „Außerdem spiele ich Basketball.“
Ihr Hunger meldete sich wieder. „Weißt du?“, sie dachte nach. „Ich kann auch nicht kochen. Und Im Supermarkt treffe ich nicht mal mit den Tomaten in den Einkaufskorb. Wie wäre es, wenn du dich in eine Musikerin verliebst, die auf Köche steht, die Basketball spielen?

Sonntag, 23. September 2007

Gerümpel des Alltags

Rosa verließ die Buchhandlung. Trotz der leichten Lektüre war die Tasche schwer. Trotz der schweren Tasche war ihr Herz leicht. Sieben Bücher hatte sie gekauft und freute sich auf vergnügte und belesene Abende in der Badewanne, vorm Kamin und im Bett. Auf eines war sie besonders gespannt. Feng Shui gegen das Gerümpel des Alltags.

„Wie wär’s, wenn du bei deinen Büchern anfängst?“, hatte Bogey, ihr Mann vorgeschlagen, als sie es bestellt hatte. Bogey hieß im richtigen Leben natürlich nicht Bogey wie Par und Birdy, sondern Joachim Bogner. Er spielte auch nicht Golf. Rosa hatte gelächelt und gesagt: „Ich hab’ eher an dein Computergerümpel gedacht.“ Ihre gemeinsame Tochter war auf leisen Sohlen in ihr Zimmer geschlichen und hatte hinter sich zugesperrt, aus Angst, dass die Feng-was-auch-immer-Aktion auch sie und ihr Reich betreffen könnte.

Im Buchladen hatte Rosa ein bisschen geschmökert, und es las sich vielversprechend an. Ich habe das Gefühl, dass ich in den letzten sechs Monaten nicht nur jeden Schrank daheim, sondern auch jeden Bereich meines Lebens durchforstet habe , so eine Frau in einem Dankschreiben an die Autorin. Ich fühle mich bereits jetzt schon so gesund und glücklich wie seit Jahren nicht mehr.
Rosa war zwar gesund und glücklich, aber noch gesünder und glücklicher konnte ja nicht schaden.

Von Dingen, von Menschen und von anderen Belastungen wollte sie sich befreien. Nein, nicht von Bogie, der war mehr Lust als Last.

Sie rührte in ihrem Kaffee und las.
Das Buch inspirierte mich meine Rumpelkammer auszuräumen und zum Flohmarkt zu fahren. Dabei habe ich 600 Euro verdient. Mit dem Geld finanzierte ich meinen ersten Urlaub seit Jahren.
Au ja, das klang gut. Sie sah sich schon am Hotelpool in Kreta liegen. Nicht drei Koffer würden sie begleiten, sondern nur ein kleines Rucksäckchen. Ob sich die 346 Marmeladegläser verkaufen ließen am Flohmarkt? Die 3 Tonnen schwere Holzbearbeitungsmaschine? 34 gebrauchte Lippenstifte?

Ausmisten würde also ihr Leben grundlegend verändern. Wollte sie das? So ganz sicher war Rosa noch nicht, als sie umblätterte.
Gerümpel ist aufgestaute Energie. Aufgestaute Energie ist klebrig. Aha. So klebrig wie ihr Küchenboden. So lustvoll haben Sie noch nie entrümpelt. Das stimmte sogar ganz sicher, Rosa hatte nämlich noch überhaupt nie entrümpelt. Bis jetzt hatte Rosa vorwiegend gesammelt.

Noch spürte sie nichts von der positiven Energie, die von diesem Ratgeber ausgehen sollte. Gerümpel macht depressiv. Es war wohl eher diese Lektüre, die sie da grad depressiv machte. Der Besitz von Krempel hält einen in der Vergangenheit fest. Unordnung verwirrt.
Das schlechte Gewissen fraß sich fest in Rosa. Lag das an ihrem emotionalen Gerümpel? An der Tatsache, dass sie nicht loslassen konnte? Dass sie abhängig war von Menschen, von Dingen, von Kitsch?
Gut, von Tante Annas Vasen und der zerschlissenen Bettwäsche würde sie sich ohne Problem trennen können. Das wäre ein Anfang. Oder die Festplatte ihres Computers. Aber sie konnte doch nicht einfach die ganzen Liebesbriefe wegschmeißen, die sie je bekommen hatte. Die wollte sie irgendwann noch ihren Enkelkindern zeigen. Sentimentaler Schrott , hieß das im Buch. Die Stofftiere ihrer Tochter. All die Bücher, die sie vielleicht doch irgendwann zum zweiten Mal lesen würde.

Es half nichts. Es musste entrümpelt werden. Körperlich und emotional. Wo aber sollte sie anfangen? Im Keller? Auf dem Dachboden? Auf ihrem Schreibtisch?
Sie schlug in ihrem klugen Ratgeber nach. Der Keller symbolisiert ihre Vergangenheit und ihr Unterbewusstes. Dinge, die dort gelagert werden, stehen für unerledigte Angelegenheiten im Leben.
Hm. Rosa dachte nach. Der Wein war ja in der Tat noch unerledigt. Was aber hatte er mit ihrer Vergangenheit zu tun? War sie in ihrem früheren Leben Alkoholikerin gewesen? Sie stöhnte. Sie würde das mit ihrem Therapeuten besprechen. Der Tiefkühlschrank stand auch im Keller. Ein Symbol für ihre unterkühlte Ehe?

Sie beschloss gerade, wieder in die Buchhandlung zurück zu pilgern und ihre Neuerwerbung gegen das neue Buch von Hera Lind umzutauschen, eine wirklich leichte Lektüre, da sprang sie folgende Geschichte an:
Eine Frau wurde von diesem Buch so inspiriert, dass sie bis auf fünf Kleidungsstücke alles aus ihrem Schrank ausräumte, auch die alte Stereoanlage und haufenweise Ramsch. Dadurch wurden Riesenmengen angestauter Energie freigesetzt, die Platz machte für Neues. Eine Woche später bekam sie von ihrer Mutter per Post einen Scheck über 5.000 Euro.
Boahh. Um fünftausend Euro würde Rosa sich eine Menge neuer Kleider kaufen können. Und neue Lippenstifte.

Am besten, sie schob die Sache nicht auf die lange Bank, sondern begann gleich damit.
Packen wir’s an, hieß das erste Kapitel.
Also packen wir’s an, sagte Rosa laut, voll klebriger Energie. Jetzt. Sofort. Auf der Stelle. Sie krempelte die Ärmel auf.

Der Aschenbecher. Er war hässlich und Rosa rauchte seit Jahren nicht mehr. Weg damit. Der antike Salz- und der Pfefferstreuer wären etwas für den Flohmarkt. Sie ließ ihn in ihre Tasche gleiten. Das Tischtuch würde sie der Caritas bringen. Gleich morgen. Die Zeitschrift auf dem Tisch war von vorletzter Woche. Raus damit. Der Sessel alt und gebrechlich. Den könnte man einheizen. Knack, ab mit dem Stuhlbein. Die Stofftulpe in der Vase. Hässlich und völlig unnütz. Ein Staubfänger. Runter vom Tisch und rein in den Mistkübel.
Rosa wunderte sich, wie leicht das alles war. Richtig Spaß machte das Entrümpeln. Es befreite. Und wie es befreite!

Da spürte sie eine Hand auf der Schulter.
„Frau Bogner?“, flüsterte der Ober ihr besorgt ins Ohr. „Alles in Ordnung mit Ihnen?“

Vielleicht hätte Rosa doch nicht ausgerechnet in ihrem Stammkaffeehaus beginnen sollen.

Mittwoch, 19. September 2007

Oh, du lieber Augustin

Wien ist ein Aphrodisiakum für Nekrophile
(André Heller)


Sibylle war gern hier. Der Zentralfriedhof war für sie der schönste Ort in Wien. Sie fühlte sich immer unverstanden, wenn Freunde von auswärts den Kopf schüttelten, weil sie ihnen als eines der Wahrzeichen den Wiener Zentralfriedhof zeigen wollte.
Sie war eine Frau in den besten Jahren, also knapp über vierzig. Dank einer sensationellen Anwältin erfolgreich geschieden, von ihrem Mann großzügig abgefunden und Eigentümerin einer stilvollen Altbauwohnung im siebenten Wiener Gemeindebezirk. Als Unternehmensberaterin hatte sie einen Beruf, der sie ausfüllte und ihr Spaß machte. Mit ihrem Leben war Sibylle also ganz zufrieden.
Aber neben dem Leben mochte Sibylle auch den Tod. Deshalb zog es sie immer wieder hierher. Bei schönem Wetter, denn sie liebte zwar die Trauer, aber die Kälte und Nässe hasste sie.
Am liebsten war sie am Friedhof, wenn Beerdigungen stattfanden. An diesen Tagen zog sie ihren schwarzen Rock, eine schwarze Bluse und schwarze Strümpfe an und mischte sich unter die Hinterbliebenen.

Der freie Mensch denkt an nichts weniger als an den Tod; und seine Weisheit ist ein Nachsinnen über das Leben.
(Spinoza)



Sibylle bevorzugte Bestattungen mit sichtbarem, überwältigendem Schmerz. Der wurde am deutlichsten spürbar, wenn Kinder oder junge Menschen begraben wurden. Sie bekam Herzklopfen und weiche Knie, wenn eine Mutter von den Totengräbern zurückgehalten werden musste, weil sie ihrem Kind am liebsten in das offene Grab folgen wollte. Oder ein junger Mann am Grab stand, der gerade seine Frau verloren hatte und stumm weinte, während sein Gesicht Fassungslosigkeit, Schmerz und unendliche Liebe spiegelte. Und wenn die Kinder verloren und voller Fragen, die sie nicht zu stellen trauten, selbst gezeichnete Bilder in die Grube warfen.
Es war nicht so, dass sie Freude empfand oder Genugtuung, wenn sie Szenen wie diese beobachtete. Ganz und gar nicht. Auch Sibylle litt. Trotzdem, wenn ihr dann endlich die Tränen über die Wangen liefen, dann war da auch ein warmes, sattes Gefühl, dessen sie sich nicht einmal schämte.

Quem dei diligunt, adulescens moritur - Wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben
(Titus Maccius Plautus)


Die anderen Beerdigungen, die Sibylle so liebte, waren die, zu denen kaum Leute kamen. Oder höchstens eine Nachbarin oder eine entfernte Kusine, die völlig abwesend wirkten. Diese Abschiede waren viel einsamer als die Begräbnisse voller ohnmächtiger Verzweiflung der Liebenden. Wenn sie dann so hinter dem Sarg des Verstorbenen herging und das Laub unter ihren Füßen raschelte, entstanden in ihrem Kopf Geschichten. Da sah sie obdachlose Penner, erfroren vor Bahnhöfen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung verschlossen blieben. Die alte Frau, die erst gefunden wurde, als Verwesungsgeruch durch den Briefschlitz drang. Den Studenten vom Land, der dem Tempo der Großstadt und dem Druck der Universität nicht standhielt und sich in seinem Untermietzimmer das Leben nahm.

Ich fürchte, dass mein Tod nicht bemerkt wird, außer durch meine zurückgelassene Unordnung.
(Armin Mueller-Stahl)


Zu Prominentenbegräbnissen ging sie nie und an den Ehrengräbern blieb sie nicht stehen. Sie mochte das einfache Leben und den einfachen Tod. Sibylle wusste von den Toten in der Regel nicht mehr als in den Todesanzeigen stand. Sie wollte auch gar nicht mehr wissen, denn es waren nicht die wahren Geschichten, die sie so aufwühlten, sondern ihre erdachten.
Sie wollte dabei sein, wenn es um den Tod ging. Vielleicht, um sich zu vergewissern, dass es sie selbst wieder einmal nicht getroffen hatte.
Der Hang zur Morbidität floss seit jeher durch ihre Venen. Als kleines Mädchen war sie am liebsten bei der Tochter des Bestatters zum Spielen gewesen, schaurig fasziniert von den Särgen und den ernsten Mienen. Während andere Kinder dem Oster- und Weihnachtsfest entgegenfieberten, wartete sie sehnsüchtig auf Allerheiligen. Und wenn ihre Mitschülerinnen einander „Mach es wie die Sonnenuhr, zähl die heit´ren Stunden nur“ ins Poesiealbum schrieben, so entschied sie sich für Sprüche aus den Todesanzeigen.

Wie ein Blatt vom Baume fällt,
So fällt ein Mensch aus seiner Welt,
Die Vögel singen weiter.
(Matthias Claudius)



Oft malte Sibylle sich ihr eigenes Begräbnis aus. Eine richtig schöne Leich, wie man hier sagte, wollte sie. Alle in Schwarz und ein Kranz mit weißen Rosen auf dem Sarg. Mozarts Requiem. Totengräber mit langen zerfurchten Gesichtern. Die weinerliche Stimme von Pater Gregor, der die „liebe Verstorbene“ huldigte und Freunde, die ihr mit feuchten Augen ein Schäuferl Erde ins Grab nachschmissen, während der Geistliche sagte: „Asche zu Asche, Staub zu Staub.“ Und die Tränen würden in Strömen fließen.
Auf jeden Fall sollte keine kalte Platte aus Marmor auf ihr liegen. Nur feuchte, weiche Erde würde ihren Sarg bedecken. Und darauf wunderschöne Kränze mit rührenden Abschiedsworten auf den Trauerschleifen. „Wir werden dich nie vergessen“. Danach würden sie alle beim Wirten sitzen zum Leichenschmaus. Wiener Schnitzel mit Erdäpfelsalat. Zur Nachspeise Apfelstrudel. Und viel Wein. Den würden sie auf Sibylle trinken. Die Traurigkeit müsste dann dem Lachen weichen und irgendjemand das Wienerlied „Es wird ein Wein sein, und wir wer´n nimmer sein...“ anstimmen. Wahrscheinlich der Onkel Franz.
Eigentlich schade, dass sie das alles nicht mehr erleben konnte.

Rien, je ne regrette rien
(Edith Piaf)


würde auf der Todesanzeige, die hier Partezettel hieß, stehen. Gleich neben dem Foto, das sie an ihrem vierzigsten Geburtstag aufgenommen hatte. Mit Selbstauslöser auf dem Zentralfriedhof. Rien de rien. Ich bereue nichts.
*
„Die Angst vor dem Scheintod veranlasste Manchen anzuordnen, dass nach seinem Tod durch die Vornahme des Herzstichs die Möglichkeit des Lebendig-Begraben-Werdens ausgeschlossen wurde. Der Herzstich durfte jedoch ausschließlich von einem Arzt und erst nach der Totenbeschau vorgenommen werden“ , erklärte der Museumsreferent bestimmt schon zum tausendsten Mal.
Sibylle betrachtete gerade ein Stilett mit Holzgriffen und Stahlklinge, entstanden um 1900. Wenn der Spätherbst sich mit seinen feuchten kalten Nebeln über Wien legte, dann wurden Sibylles Besuche auf dem Friedhof seltener und die im Wiener Bestattungsmuseum häufiger.
„Sie sind nicht zum ersten Mal hier, nicht wahr?“ flüsterte ihr ein Mann zu, der sie schon eine ganze Zeit von der Seite betrachtet hatte. Erschrocken blickte sie auf.
„Ich?“ Sie lächelte verlegen und stammelte: „Nein ... ich ... wieso ... wie kommen Sie darauf?“ Sie fühlte sich ertappt.
„Oh!“ Er grinste liebenswert. „Ich habe ihre Lippen beobachtet. Und nicht nur, weil sie so schön rot sind, sondern, weil sie gleichzeitig mit dem Museumsführer seinen Text gesprochen haben.“
Sie schämte sich. Er würde sie jetzt wahrscheinlich für eine Verrückte halten, die nichts anderes zu tun hatte, als sich in ihrer Freizeit im Bestattungsmuseum herumzutreiben. Dabei stimmte das gar nicht, sie war ja meistens auf dem Friedhof. Die Geschichten hier waren zwar skurriler als die ausgedachten vom Friedhof, aber der Tod draußen fühlte sich lebendiger an.
Der Mann war etwas jünger als sie und sah gut aus. Groß und schlank war er und dunkelblond. Sibylle errötete und überlegte sich gerade eine überzeugende Erklärung, doch er sprach einfach weiter.
„Ein schönes Stilett, nicht wahr? Wussten Sie, dass Arthur Schnitzler und Johann Nestroy den Herzstich testamentarisch verfügt haben?“

Die Doctoren - selbst wenn sie einen umgebracht haben - wissen nicht einmal gewiß, ob man todt ist.
(Nestroy)


Natürlich wusste sie das, sie war ja nicht zum ersten Mal hier.
„Bösendorfer auch“, sagte sie und die Faszination am Tod hatte ihre vorübergehende Scham besiegt. „Sie wissen schon, der berühmte Klavierbauer.“ Er nickte. Er wusste. „Kommen Sie mit, ich zeig Ihnen etwas!“ Sibylle nahm den Fremden einfach an der Hand und führte ihn in den Nebenraum.
„Mein Lieblingsstück“, sagte sie, als sie vor dem Josephinischen Gemeindesarg standen, einem Holzsarg mit Bodenklappen und einem Öffnungsmechanismus aus Schmiedeeisen.
„Der Verblichene wurde nackt in einen Leinensack genäht und in diesem Sarg deponiert. Dann wurde der Sarg auf das Grab gestellt, der Totengräber klappte den Boden auf und der Leinensack plumpste ins Grab hinein“, erklärte Sibylle voller Leidenschaft und er lauschte mit offenem Mund. „Sparpolitik anno 1784“, fügte sie noch lächelnd hinzu.
„Ich bin übrigens der August“, sagte er, noch immer mit einem Grinsen auf dem Gesicht.
„Oh, der lieber Augustin!“, antwortete sie und sie strahlten einander an. Jeder hier kannte die mythische Figur des Sängers Augustin, der in einer Pestgrube übernachtete, um dann fröhlich weiter zu singen.
„Ich heiße Sibylle.“ Sie wollte ihm gerade die Hand entgegenstrecken, als sie bemerkte, dass sie die seine während des Monologs die ganze Zeit gehalten hatte.
„Komm, wir gehen wieder zur Gruppe, ja?“ Vorsichtig entzog sie sich ihm und schaute auf die Uhr. „Jetzt kommt nämlich gleich die grausige Geschichte von den Pestopfern.“
Der Museumsführer erzählte erst von der Pest und später von alten und neuen Beerdigungsriten. Sie lauschten und fühlten, wie ihre Herzen ein bisschen heftiger pochten als noch eine halbe Stunde zuvor. Und das lag nicht nur an den makabren Geschichten.

Stirbt ein Bediensteter während einer Dienstreise, so ist damit die Dienstreise beendet.
(Bundesreisekostengesetz 1973)


Draußen regnete es in Strömen. Sie standen da und sahen einander an. „Gehen wir noch auf einen Kaffee?“ fragte sie fast ein bisschen scheu.
„Nur, wenn du mich an der Hand nimmst.“
„Ich glaub, das geht“, sagte sie, griff nach seiner Hand und sie rannten zum Kaffeehaus um die Ecke und sangen dabei:

„Rock ist weg, Stock ist weg
Augustin liegt im Dreck,
Oh du lieber Augustin, alles ist hin“

Sibylle war nicht bloß zufrieden. Dies war einer der wenigen Momente, in denen Sibylle glücklich war.
„Hast du eigentlich Angst vor dem Tod?“ fragte August, während sie ihm durchs nasse dunkle Haar strubbelte und die Tropfen in ihren Kaffee spritzen.
„Nein. Hab ich nicht.“ Ihre Antwort kam schnell, aber wenig überzeugend. In Wahrheit mischte Angst davor sich mit der Sehnsucht danach.
„Magst du Friedhöfe?“ fragte sie und er nickte.
„Ich bin oft auf dem Grinzinger Friedhof draußen“, sagte August. „Meine Eltern sind dort begraben. Möchtest du mitkommen nächste Woche?“ Ja. Sie mochte.
Sie tranken ihren Kaffee und dachten nach. Und redeten. Über den Tod hauptsächlich. Aber, weil der Tod ein Teil vom Leben war, auch übers Leben. Und über den Sinn.

Das, was dem Leben Sinn verleiht, gibt auch dem Tod Sinn.
(Antoine de Saint-Exupéry)



Sie waren oft in dem Kaffeehaus. Meistens an Freitagen, an denen das Wetter ihren Friedhofsbesuchen einen Strich durch die Rechnung machte.

Irgendwann, der Winter war längst vorbei, saßen sie wieder hier.
„Hast du Angst vor dem Tod?“ Diesmal war es Sibylle, die diese Frage stellte. August fütterte sie mit Topfenstrudel und sagte zärtlich:
„Ja. Hab ich.
Vor deinem.“

Mittwoch, 8. August 2007

Fleißiges Lieschen

„Mein Beileid“, heuchelte er am Grab und warf dem Verstorbenen ein Schäuferl Erde nach. Elisabeth hätte ihm gern ins Gesicht gespuckt. Stattdessen senkte sie nur den Blick. Da unten lag Martin, ihr Mann. Ihre große Liebe. In einem Eichensarg. Dem billigsten, den sie hatte kriegen können.

Am Montag saß sie ihm gegenüber. Rüdiger Werdenich, Direktor, stand auf dem Messingschild und das Schild stand auf einem Schreibtisch aus Birnenholz. Darauf lag ein teurer Füller. Elisabeths Stolz lag neben dem Sarg ihres Mannes in der feuchten Erde. Sie weinte, bettelte und flehte. Direktor Werdenich gab sich weich, aber er blieb hart.
„Ich kann Ihnen nur anbieten, die Raten ein wenig herabzusetzen. Für ein halbes Jahr. Aber wenn Sie bis zum Zwanzigsten nicht bezahlen, sehe ich mich gezwungen, Ihr Haus versteigern zu lassen. Es gibt da sogar einen Interessenten.“
„Sie wollen mich auch ins Grab bringen, wie?“ Elisabeth stand auf. „Und wie erklären Sie das dann meinen Kindern?“
„Ich verstehe ja Ihre Aufgebrachtheit, Frau Dirisamer.“ Rüdiger Werdenich klopfte unsichtbaren Staub von seiner weißen Weste. „Aber für den Freitod Ihres Mannes können Sie mich wirklich nicht verantwortlich machen.“

Martin hatte sich erhängt. In der Garage, der das Tor fehlte und die noch unverputzt war. Wie der Rest des Hauses auch.

„Sie wissen genau, dass Sie ihn auf dem Gewissen haben. Sie sind ihm nicht einen Zentimeter entgegengekommen. Mit jeder Rate, die er pünktlich zurückgezahlt hat, obwohl wir es uns längst nicht mehr leisten konnten, wurde er depressiver. Mit jeder Rate haben Sie ein Stück seiner Selbstachtung genommen. Er war nicht der erste. Und ich werde nicht die letzte sein.“

Sie hatte Martin vom Abschleppseil geschnitten. Und mit ihm ihre Träume, ihre Hoffnungen, ihre Zukunft. Sie küsste und betrauerte ihren toten Mann, bevor sie die Polizei rief. Den Abschiedsbrief gab sie nicht weiter. Sie wollte, dass seine letzten Worte nur ihr gehörten. Wenigstens die.

„Dreihunderfünfzig Euro“, knallte sie Werdenich das Geld pünktlich am Zwanzigsten auf den Birnenholzschreibtisch. „Mehr hab ich beim besten Willen nicht zusammengekriegt.“
„Frau Dirisamer“, er lächelte sie an. „Sie wissen, was das bedeutet, nicht wahr?“
„Ja.“
„Und? Ist Ihnen das denn plötzlich egal?“ Er nahm seine Brille von der Nase und putzte sie.
Dir geht’s nur um Macht, dachte Elisabeth. Wenn du mein Haus versteigert hast, hast du keine Macht mehr über mich. Aber ich hab dann kein Dach mehr über dem Kopf. „Ich hab wirklich nicht mehr“, sagte sie leise. „Ich hab meine Tochter sogar vom Fußball abgemeldet. Aber es reicht nicht.“
„Nun“, sein Tonfall war plötzlich jovial. „Ich hätte da eine Idee.“

Eine Haushaltshilfe suchte er, weil seine Frau neuerdings auf dem Selbstfindungstrip war, wie er sagte. Die würde sich plötzlich weigern, seine Wäsche zu machen. Elisabeth konnte seine Frau gut verstehen. Auch sie ekelte sich vor dem Gedanken, seine Unterhosen zu waschen. Trotzdem willigte sie ein. Für ihre Kinder.

Im Wald fand sie Ruhe. Schöpfte die Kraft, die sie brauchte, um ihren Alltag zu bewältigen. Dachte an die vielen schönen Augenblicke mit Martin. Pflückte Wildblumen, die sie zu Hause auf den Tisch stellte, um den Kindern wenigstens ein bisschen den Eindruck einer heilen Welt zu vermitteln.

„Nehmen Sie das nicht“, sagte eine junge Frau in zerrissenen Jeans, als Elisabeth am Bach saß und gedankenverloren die Blüte einer Staude zwischen ihren Fingern zerrieb.
„Warum nicht? Steht sie unter Naturschutz?“
„Das ist der blaue Eisenhut“, erklärte die Frau ihr. „Aconitum Napellus. Hochgiftig. Vor allem die Wurzeln. Papst Hadrian wurde damit ermordet. Und angeblich auch Claudius, der römische Kaiser.“
Diese Frau wusste eine Menge. Aber das Flackern in Elisabeths Augen sah sie nicht.
Sie trafen sich hin und wieder im Wald und redeten über alles, was wuchs. Pflanzen, Menschen, Sorgen.

„Na, mein fleißiges Lieschen.“ Werdenich strich Elisabeth übers Haar und sie zuckte zusammen.
„Möchten Sie etwas essen, Herr Direktor? Ich hab Spargelcremesuppe gekocht.“
„Danke nein. Ich esse später noch mit einem Kunden.“
Elisabeth hob hilflos die Schultern und versuchte die Enttäuschung zu verbergen.
„Ich richte Ihnen noch die Wäsche für morgen her, bevor ich gehe“, sagte sie dann. „Die Jeans und das blaue Hemd.“

Der nächste Tag war der Zwanzigste. Trotz des warmen Sommertages fröstelte Rüdiger Werdenich, als er aus dem Haus ging. Eine Stunde später tropfte kalter Schweiß von seiner Stirn. „Bringen Sie mir ein Glas Wasser“, bat er eine seiner Angestellten. „Mein Mund ist so trocken.“ Er nahm einen Schluck, aber das Brennen im Mund hörte nicht auf. Die Stimme seines Kunden schien plötzlich weit weg. Werdenich stand auf, schüttelte ihm die Hand und verabschiedete sich.

„Fünfhundert genau.“ Elisabeth stand vor ihm. Er hatte darauf beharrt, dass sie ihm das Geld in die Bank brachte. „Meine letzten“, fügte sie noch leise hinzu.
In seinen Fingern und Zehen kribbelte es. Er bekam keine Luft und löste den Knoten seiner Krawatte. Er wollte etwas sagen, um Hilfe rufen, aber seine Zunge gehorchte ihm nicht. Alles begann sich zu drehen, und alles war gelb und grün. Dann brach er zusammen. Krümmte sich vor Schmerzen. Röchelte. Starb.

Elisabeth wurde blass, als sie die Frau aus dem Wald wiedererkannte. Mit zerrissenen Jeans und ihrem Arztkoffer kniete sie neben dem Verstorbenen und ließ sich von einem Mitarbeiter der Bank die Symptome schildern. Sie zog sich die Handschuhe an und untersuchte den toten Direktor.

Es gibt keinen Beweis, dachte Elisabeth.
Sie hatte die Wurzeln vom Blauen Eisenhut gut ausgekocht. Das Gift wird auch durch die intakte Haut aufgenommen, hatte die Frau im Wald gesagt. Im Sud schwemmte sie erst die Unterwäsche, dann Hemd und Hose. Während die Sachen an der Sonne trockneten, spülte sie die Giftbrühe ins Klo und putzte es gründlich. Die Handschuhe verbrannte sie im Ofen.

Die Ärztin schaute vom toten Direktor zur lebendigen Elisabeth. Diese senkte den Blick. Die Frau Doktor dachte lange nach, und schüttelte den Kopf. Dann warf sie Elisabeth ein unmerkliches Nicken zu.

Herzinfarkt, schrieb sie in den Totenschein.

Donnerstag, 12. Juli 2007

Sergej in Siena oder Die Macht der Mandeln

Sergej öffnete die Fahrertür seines rostigen Skodas, in dem er vierzig Stunden fast ohne Pause gefahren war. So ähnlich musste sich Juri Gagarin damals gefühlt haben, nachdem sie ihn aus seiner Kapsel gezurrt hatten. Das also war Siena.
Seit fünfunddreißig Jahren träumte Sergej davon, einmal nach Siena zu fahren, aber immer war etwas dazwischengekommen. Erst unüberwindbare Grenzen und große Geldnot. Die Grenzen fielen, die Geldnot blieb. Dann kam seine Frau dazwischen und die Kinder, und sie ließen die Erinnerung verblassen. Die Erinnerung an eine Sammlung kolorierter Postkarten in der Schreibtischschublade seines Großvaters. Unter einem grünblauen Himmel quoll pures Gold aus der Fassade der Kathedrale. Die Piazza del Campo leuchtete in orange und violett wie ein Spielcasino in Las Vegas. Und die ganze Stadt roch nach Großvaters billigen Zigarren aus Georgien.

Sergej atmete die kühle Luft des Morgens ein. Hier roch es nicht nach Zigarren, sondern nach Olivenöl. Er schlenderte über den Markt, inhalierte den Duft von Zitrus- und Meeresfrüchten, bewunderte die Artischocken und fragte sich, warum man hier am Gemüsestand Blumen verkaufte.
Bei einer besonders italienisch aussehenden Italienerin kaufte er ein paar Kekse. „Kann-tu-tschi-ni“, erklärte sie. Ihre weißen Zähne blitzten und ihre Brüste wippten auf und ab, während sie lachte. Wahrscheinlich lachte sie ihn aus, weil er mit Geld aus dem Jahre 1957 bezahlen wollte. Das hatte er auch in Großvaters Lade gefunden. Er streifte den Schein sorgfältig glatt und steckte ihn in die Hemdtasche. Damit wollte er noch mehr Zähne zum Strahlen und Brüste zum Wippen bringen.

Sergej schnupperte an den Keksen. Sie rochen nach Mandeln und aufdringlich süß. Er steckte eines in den Mund. Hart und trocken. Ernüchtert kaute er weiter und schluckte. „Schade ums Geld“, schimpfte er auf Russisch. Aber Sergej hatte Hunger, und deshalb quälte er sich zwei weitere Kekse durch den Gaumen. Den vierten und fünften aß er ganz in Gedanken, ohne auf den Geschmack zu achten. Er beobachtete eine weitere Italienerin, die Wein verkaufte. Ihre Zähne strahlten nicht so wie bei der anderen, aber dafür wurde noch mehr gewippt.

Sie hielt ihm eine kleine Flasche Wein hin. Vino santo, stand drauf. Hier war wohl alles heilig. Den alten Schein ließ er unberührt, weil es auch so schon genug wippte. Er schraubte die Flasche auf und nahm einen Schluck.
„Mamma mia! No! No!“, schrie die Weinverkäuferin auf und gestikulierte wild.
Er sprach nur ein paar Brocken italienisch und sie gar keinen Brocken russisch, aber keine dreißig Minuten später hatte er ein Rendezvous und saß gemeinsam mit Amanda vor einer kleinen Bar. Nach ihren weichen italienischen Anweisungen tunkte er harte italienische Kekse in süßen italienischen Wein. Nicht zu lange und nicht zu kurz.
Zuvor hatten sie ein Wörterbuch gekauft. Italienisch-Russisch. Russisch-Italienisch. Lächelnd tauschten sie das kleine Buch und Höflichkeitsfloskeln hin und her. Nach etlichen Tauschereien und noch mehr getunkten Cantuccini gelang es Sergej, den Text auf Amandas T-Shirt zu übersetzen:
Ich habe auch Augen.
Das hatte er schon längst gemerkt. Warm und braun waren die. So wie der Espresso, den sie jetzt tranken. Aber sehr viel tiefer als die kleine Tasse. Und ganz in der Tiefe las er darin: Ich habe auch Brüste.
„Vieni con me “, sagten ihre Lippen, nachdem sie sich den Kaffeeschaum abgeleckt hatte.

Sie zeigte ihm die Sehenswürdigkeiten der Stadt: Die goldglänzende Front des Domes Santa Maria. Den Palazzo Communale mit dem Schwindel erregenden Torre del Mangia.
Dass Siena nicht nach alten Zigarren roch, wusste er ja nun bereits, aber er war beeindruckt von den kräftigen Braun- und Rottönen, die mit dem bonbonfarbenen Kitsch der Ansichtskarten nichts gemein hatten. Billig wirkte hier nichts, weder der Himmel noch die Erde, und schon gar nicht Amanda mit ihren sienaroten Haaren.

Er folgte ihr, als sie sich durch die engen Gassen der Altstadt schlängelte und stellte fest, dass nicht nur ihre Augen und ihre Brüste sehenswert waren. Sie ist viel zu jung für mich, ging es durch seinen Kopf, aber zu gerne hätte er sie angefasst, die Sehenswürdigkeiten der Amanda.

Sie passierten das Haus der Heiligen Katharina. Während Sergej sich noch daran erinnerte, dass dies die Schutzpatronin Italiens war, fasste Amanda ihn an der Hand und zog ihn in einen schummrigen Hauseingang. Sergejs Herz klopfte.
Sie drückte eine finstere Holztür auf und schob ihn hindurch.
Im Innenhof war es so hell, dass Sergej blinzeln musste. Durch einen Urwald von Topfblumen folgte er ihr die Treppe hinauf und wieder durch eine Tür. Jetzt betraten sie einen bestimmt vier Meter hohen Raum, den große Rundbogenfenster mit buntem Glas säumten. Vor einem der Fenster saß ein Mann im Rollstuhl.
Amanda nahm eine Flasche und drei Gläser aus einem antiken Wandschrank, küsste den alten Mann auf die Wange und setzte sich zu ihm. „Mio nonno “, erklärte sie und Sergej blätterte im Wörterbuch. Das war also ihr Großvater.
Sie schenkte ein. Sergej holte eines der restlichen Cantuccini aus der Jackentasche, um es einzutunken, aber Amanda winkte ab. „Porca miseria, no! Grappa. Salute.“
„Sergej parla il russo“, sagte sie und das erste Mal seit ihrem Besuch zeigte der Alte eine Regung.
Auf seinen Wink trat sie näher an den Rollstuhl heran. Sergej konnte hören, wie der Großvater tuschelte, aber verstehen konnte er absolut nichts. „Si“, sagte Amanda immer wieder, und ab und zu blickte sie dabei zu Sergej herüber und lächelte.
Mit einem krächzenden „Okay“ beendete der Alte das Gespräch und klang dabei wie Marlon Brando als Pate. Dann rollte er langsam zum Wandschrank, zog eine Schublade auf und nahm etwas heraus. Einen Moment rechnete Sergej damit, dass er eine Pistole auf ihn richten würde, aber dann klappte er ein kleines Buch auf.

„Sicuro?“, fragte der Pate noch einmal und Amanda nickte. „Sicuro.“ Sicher.
Mit zitternden Fingern reichte er Sergej ein paar Zettel.
„Brief von russische Frau. Augen kaputt“, grummelte er. „Bitte vorlesen.“
Sergej betrachtete erst die sauber geschriebenen kyrillischen Buchstaben und las dann. Er schmunzelte. Eine gewisse Valerija schwärmte von wunderschönen Tagen und Nächten in Siena. Dankte Paolo für seine Gastfreundschaft. Die Pasta. Den Wein. Und für das, was danach gekommen war. Der Großvater lächelte entrückt und Amanda wartete ungeduldig und hatte keine Ahnung, worum es ging und warum das Schmunzeln auf den Gesichtern der Männer immer breiter wurde. Hier ist das Rezept von Borschtsch, schrieb Valerija, einer russischen Nationalspeise mit roten Rüben. Und ob Paolo ihr dafür verraten könnte, wie man diese harten Mandelkekse zubereitete.
Acht Jahre war dieser Brief jetzt alt und offensichtlich der letzte in einer ganzen Reihe von Briefen. Danach hatte Paolo nicht mehr geantwortet. Der Augen wegen.
“Bitte, du schreibst Antwort?”
“Sicuro.” Sergej nickte und lernte Italienisch.

“Brjansk liegt praktisch auf meinem Weg”, murmelte Sergej, als er vor dem Briefkasten stand und steckte den Umschlag wieder in die Tasche.

“Valerija Mandlikova?”
“Ja, die bin ich.” Die dunklen Augen der alten Dame funkelten lebhaft.
“Sie haben Post.”

Sonntag, 3. Juni 2007

Coming out

Gregor war nicht schwarz, nicht schwul und nicht schwindsüchtig. Er war kein Kommunist und kein Mormone. Und trotzdem gehörte er einer Minderheit an.
Seine Frau wusste nichts davon. Sie hätte es ohnehin nicht fassen können. Auch Ferdinand und Wolf waren ahnungslos. „Komm Gregor, trink noch ein Bier!“, würden sie ihn auslachen. Gewiss, sogar Wolf pinkelte im Sitzen und Ferdinand putzte manchmal das Klo, aber was jetzt in ihm vorging, das würden sie nicht verstehen. Dabei war Gregor weder ein Weichei noch ein Schlappschwanz. Er konnte rückwärts einparken, kleidete sich ebenso schlecht wie andere Männer auch und schraubte mit kindlicher Begeisterung IKEA-Regale zusammen. Montags bis freitags arbeitete er im Labor, mittwochs ging er zum Sport und samstags zum Angeln.
Und doch. Er war anders. Anders als die anderen.
Alle zwei Monate schwänzte er den Sport und fuhr heimlich zum Flughafen. Dort kannte ihn niemand, außer der freundlichen Frau am Kiosk, die ihm lächelnd das Gewünschte aushändigte. Gregor schaute nervös nach allen Seiten, bevor er die Emma zusammenrollte und in der Jackentasche verschwinden ließ.
*

Gregor entriegelte die oberste Lade seines Schreibtisches, kramte nach dem Umschlag und nahm den Brief heraus. Sehr geehrte Frau Felber, stand da. Woher hätten sie auch wissen sollen, dass G. Felber keine Frau war? Wir freuen uns, Sie beim diesjährigen feministischen Kongress begrüßen zu dürfen, der unter dem Motto Gleich! Berechtigung steht, und haben Sie für den Arbeitskreis Geschlechtliche Diskriminierung im Alltag - erfahren, empfinden, entgegnen vorgemerkt.
*

Gregor atmete noch einmal tief durch, bevor er das Tagungszentrum betrat. In der Eingangshalle standen Frauen in kleinen Gruppen zusammen.
Kaum hatte er das Foyer betreten, als ihn auch schon eine kräftige Hand an der Schulter packte. Erschrocken drehte er sich um und blickte einer drallen Rothaarigen ins Gesicht, die ihn nervös ansah.
„Gut, dass Sie da sind“, keuchte sie hastig und zog ihn am Arm. „Kommen Sie mit!“
Noch ehe Gregor ein Wort erwidern konnte, hatte sie ihn durch eine schwere Eisentür in einen dunklen Raum geschoben, in dem es nach Öl und Elektrizität roch. Ihm wurde mulmig.
„Bitte, Herr Katschmarek!“, bedrängte sie ihn. „In zehn Minuten soll es losgehen, und wir haben in der Küche weder Strom noch Heizung. Das Mineralwasser wird warm und der Kaffee bleibt kalt.“ Gregor seufzte erleichtert auf. Sie hielt ihn offensichtlich für den Hausmeister. Er krempelte die Ärmel hoch. Dann starrte er auf die vielen Drähte und Schalter vor sich und fühlte sich plötzlich sehr hilflos. Er war Chemiker, kein Elektriker.

„Vielleicht ist ja nur eine Sicherung durchgebrannt“, versuchte er es. „Wo ist denn der Schutzschalter?“
“Wer soll das wissen, wenn nicht Sie?“, begann die Rothaarige sich aufzuregen. Er legte sich gerade die Worte zurecht, mit denen er das Missverständnis aufklären wollte, als die Tür aufging und sich noch zwei Frauen hereindrängten. Sie trugen Latzhosen. Mit der Aufschrift Donna & Blitz. Die Elektrikerinnen.
„Na, dann brauchen wir Sie wohl nicht mehr”, verabschiedete die Rothaarige ihn und wandte sich den Profis zu.
*

Er ging mit erhobenem Haupt an den Frauen in der Halle vorbei, um ihren Blicken nicht begegnen zu müssen. Gregor nahm verschämt in der hintersten Reihe Platz. Sollten sie ihn doch alle für den Katschmarek halten.
Während vorne die Stadträtin ihre Begrüßung herunterbetete, ließ sich ausgerechnet die Rothaarige seufzend neben ihn auf den Klappsitz plumpsen. Gregor lächelte ihr unsicher zu, sie blickte ihn interessiert an. Was wollte die denn jetzt schon wieder von ihm?

„Sie sind gar nicht der Hausmeister, stimmt's?“
Er nickte. „Stimmt. Ich bin nicht der Hausmeister.“
„Sind Sie von der Presse?“
Gregor schüttelte den Kopf.
„Politiker?“
„Nein, nichts dergleichen. Ich bin ein ganz normaler Konferenzteilnehmer. Ich bin ...“, er holte noch mal Luft, „...ich bin Feminist.“ Jetzt war es draußen.
„Margot Hübner.“ Sie schüttelte ihm unerschrocken die Hand. „Ich koordiniere die Abläufe hier.“
„Gregor Felber. Ich hoffe, ich störe Ihre Abläufe nicht.“
*

Information ist Macht war der Titel des ersten Referats. Es ging um die digitale Kluft zwischen den Geschlechtern. Er zuckte immer zusammen, wenn es die Männer hieß. Und er spürte, wie manche Frauen ihn von der Seite betrachteten. In ihren Augen war er bestimmt einer von denen. Eines dieser Schweine, die Frauen klein halten wollten und ihnen den Zugang zur Information und damit zur Macht verwehrten. Aber was konnte er denn dafür, dass seine Frau sich einfach nicht für den Computer interessierte? Gleich morgen beim Frühstück würde er das zum Thema machen und ihr seinen neuen Laptop schenken.

In der Pause stellte er sich unsicher zu einer kleinen Gruppe von Frauen.
„Was machen Sie denn hier?“, fragte eine von ihnen, die sich gerade eine Zigarette anzündete.
„Ich bin Feminist“, antwortete Gregor.
„Feminist? Ich dachte, dieses Wort existiert nur in der weiblichen Form?“ Die zierliche Dunkelhaarige schien Germanistin zu sein.
Ich reduziere sie auf Haarfarbe und Figur, ertappte sich Gregor. Auch das musste sich ändern.
Er hielt ihr einen Zettel unter die Nase.
„Sehen Sie mal. Ich habe diesen Test gemacht.“
SIND SIE FEMINISTIN? stand in Großbuchstaben auf dem Blatt Papier. „Ich habe 28 von 30 möglichen Punkten. Ich bin also waschechter Feminist.“ Gregor konnte sich gar nicht mehr erinnern, seit wann er feministisch fühlte und dachte. Es war immer schon in ihm.
„Haben Sie keine eigenen Probleme, um die Sie sich kümmern können?“, provozierte ihn eine Frau mit Sommersprossen, die zufällig blond war.
„Doch“, entgegnete Gregor ruhig. „Ich habe genug Probleme. Unser Sohn wurde beim Klauen erwischt, der Mazda hat einen hoffnungslos durchgerosteten Unterboden und mein Cholesterinspiegel ist zu hoch. Aber wo kommen wir denn hin, wenn sich jeder nur um seine eigenen Angelegenheiten kümmert und keiner mehr für seine Ideale kämpft?“
„Wo er Recht hat, hat er Recht.“ Die vermeintliche Germanistin nickte wohlwollend und wandte sich wieder an ihn: „Ich find es ganz schön mutig, dass Sie hier teilnehmen.“
„Also, herzlich willkommen im Namen der Gleichberechtigung“, stimmte eine andere zu.
Gregor genoss die Akzeptanz durch die Frauen, ähnlich wie damals, als er in der Jugendfußballmannschaft sein erstes Tor geschossen hatte und danach richtig zur Mannschaft gehörte.

“Wer hat denn den süßen Kerl mitgebracht?”, fragte eine zarte blasse Frau in die Runde und leckte sich die Lippen.

Gregor spürte, wie er rot wurde. Eine der Frauen kicherte. Erst war er der Hausmeister und jetzt irgendein Schatzibutzi. Die nahmen ihn hier nicht ernst, nur weil er ein Mann war.
Wie gerne hätte er jetzt eine freche Antwort gegeben, aber dann wäre er gleich wieder ins Abseits gelaufen.
„Sind Sie etwa Chauvinistin?“, gab er mutig zurück.
Eine Glocke beendete die Pause. Mehr wie im Boxring als auf dem grünen Rasen, dachte Gregor.
*

Die nächste Runde hieß Workshop und Gregor traute sich nicht in den Ring. Die meisten Frauen saßen schon im Kreis, während er draußen nervös auf und ab ging. Dabei könnte er nach seinen heutigen Erfahrungen wahrlich genug zur alltäglichen Diskriminierung aufgrund des Geschlechts beitragen. Er überlegte gerade, ob er sich den Schlägen unter die Gürtellinie wirklich aussetzen oder nicht doch lieber das Handtuch werfen sollte, als Margot ihm über den Weg lief.
„Verfolgen Sie mich?“, grummelte er gereizt. „Ich komme auch ohne Ihre Unterstützung ganz gut klar.“ Das war gelogen. Sie lachte und hängte sich bei ihm ein.
„Ich leite den Arbeitskreis.“ Sie tätschelte beruhigend seine Wange. „Und wir zwei gehen da jetzt ganz tapfer hinein.“
Das hatte seine Mutter damals auch gesagt, als er mit acht Jahren zur Mandeloperation ins Krankenhaus musste. Weder seine Mutter noch Margot hatten in der jeweiligen Situation große Tapferkeit beweisen müssen. Und ebenso wie damals ließ er sich jetzt willenlos zum Helden rekrutieren.
Margot stopfte Gregor auf einen freien Platz, ausgerechnet zwischen der zartblassen Chauvinistin und der germanistischen Dunkelhaarigen.

„Liebe Feministinnen“, begann Margot. „Und liebe Feministen“, ergänzte sie. Gregor spürte ein Dutzend Augenpaare wie Rasierklingen auf der Haut.
„Wenn der Schwanzträger bleibt, geh ich“, revoltierte prompt eine Teilnehmerin und zerbrach theatralisch ihren Bleistift. Ein paar Frauen applaudierten und Gregor zuckte unter dem seelischen Schmerz zusammen.
„Männer in den Herd!“, schrie eine andere, wurde aber dafür ausgepfiffen. Margots Beschwichtigungsversuche gingen im allgemeinen Tumult unter.
Gregor fühlte sich schuldig, weil er die Frauen mit seiner bloßen Anwesenheit so aus dem Konzept gebracht hatte. Seite an Seite hatte er mit ihnen für die Emanzipation kämpfen wollen, nicht gegen sie. Aber er passte wohl nicht ins Team. Gregor ging zu Margot und schüttelte ihr die Hand.
„Tut mir Leid, jetzt habe ich Ihre Abläufe doch gestört.“ Achselzuckend verließ er den Seminarraum.
„Warten Sie!“ Margot war ihm nachgelaufen und drückte ihm eine Visitenkarte in die Hand. „Rufen Sie mich an. Bitte.“
*

Nachdenklich schlich Gregor zu seinem Wagen. Diesen Abend konnte er abhaken. Sein Coming out in der Familie und im Freundeskreis musste er bis auf weiteres verschieben. Hoffentlich erfuhr keiner etwas von seinem Versagen heute.
Mit der Rothaarigen würde er beizeiten telefonieren. Er nahm ihre Visitenkarte aus der Jackentasche. In der Tat, sie war Expertin für ungestörte Abläufe. Gregor lächelte und las:

Dr. med. Margot Hübner
Fachärztin für Urologie

Samstag, 19. Mai 2007

Haare

Haare. Haare. Und immer wieder Haare. Ich erinnere mich an Unmengen von Haaren, wenn ich an den Sommer bei Tante Ingrid denke. Schwarze, blonde, rote und graue.

Mein Vater hatte eine Glatze, aber das war in diesem August völlig egal, denn er lag zwei Meter unter der Erde auf dem Friedhof von Mühlbach. Meine Mutter lag mit einem gebrochenen Bein im zweiten Stock des Krankenhauses. Sie war ins Grab gefallen, als sie ihm „Du versoffenes Arschloch!“ hinterher gerufen hatte.

Zum Glück gab es Tante Ingrid. Sie schleifte mich zu sich nach Hause, zog den schwarzen Mantel aus und eine weiße Kleiderschürze an und ärgerte sich darüber, dass der Hut ihre Frisur zerdrückt hatte.
„Zum Spielen hab ich keine Zeit“, sagte sie, „ich muss nach der Mittagspause wieder das Geschäft aufsperren. Wennst magst, kannst den Holzkopf frisieren, Bub.“
Ich war überrascht. „Der Onkel Otto hat aber doch auch eine Glatze, so wie der Papa. Wie soll ich ihn da frisieren?“
„Ach Bub“, schüttelte die Tante den Kopf. Erst als wir im Friseursalon waren, verstand ich, was sie meinte. Dort stand nämlich ein Kopfmodell aus Holz, an dem die Lehrmädchen das Lockenwickeln lernten.

„Den nennen wir auch Onkel Otto“, flüsterte mir Agnes zu, die schon jede Menge Übung im Wickeln hatte. „Deine Tante weiß das aber nicht.“
„Natürlich weiß sie das“, schallte eine brummige Männerstimme durch den Salon.
Es roch nach feinen Damen, nach Dauerwellen und Trockenhauben. Und nach der Zigarre, die im Mundwinkel von Onkel Otto, dem ohne Holzkopf, eingeklemmt war. Mich wunderte, dass er mit dem Stumpen reden konnte, aber er hatte offensichtlich jahrelange Routine darin. Tante Ingrid hatte jedoch mindestens genauso viel Routine darin, ihm den Kopf zu waschen.
„Hier wird nicht geraucht, Ottilein“, sagte sie ihrem Gatten, „das ist nämlich mein Reich. Und tschüs!“ Mit diesen Worten zwängte sie den fetten Onkel durch die schmale Tür.

Auf die Dauer war es für einen Neunjährigen etwas fad, kleine Plastikröllchen in eine Kunstperücke einzuwickeln. Deshalb drückte mir Agnes einen großen Besen in die Hand.
„Hier gibt’s den ganzen Tag etwas zu fegen. Und dort drüben im Schrank ist der Schacht.“ Hinter der grauen Tür verbarg sich ein großes Loch, in dem sich die Haare der Kunden türmten.
Als Agnes und Tante Ingrid im Hinterzimmer Kaffee tranken, wühlte ich im Schacht nach den dichten blonden Haaren von Frau Paltram. Die Frau Paltram war meine Lehrerin, und wenn ich ihr während des Unterrichts über den seidigweichen Kopf streicheln wollte, klopfte sie mir mit dem Lineal auf die Finger und meine Mitschüler lachten mich aus.
Mama hatte auch blondes Haar, doch das war strähnig und fettig. Während ich so wühlte und fühlte, geriet mir etwas kleines, hartes zwischen die Finger. Ein Ring. Verstohlen blickte ich mich um, aber niemand hatte mich beobachtet. Ich ließ meinen Fund schnell in der Hosentasche verschwinden und verzog mich aufs Klo.
Ein Siegelring war das. Er passte genau auf meinen Mittelfinger, also gehörte er bestimmt einer Frau. Auf dem dunkelblauen Stein prangte in silbernen Initialen: G.P. - Gundula Paltram! Mir wurde warm.
Ich strich behutsam über den Stein und konnte dabei ihre Stimme hören. Schneiden, Waschen und Legen, Frau Ingrid. Ich drückte einen Kuss auf den Ring.
„Aber nein, Frau Paltram. Hier kommt gewiss nichts abhanden. Und Sie sind sicher, dass Sie ihn hier verloren haben? Hm, hm. Ja. Ich werde alles durchsuchen. Ja doch. Ja. Auf Wiederhören, Frau Paltram.“

Tante Ingrid trommelte ihr Personal zusammen. Sogar Onkel Otto durfte und musste in den Salon kommen. Silberner Siegelring. Lapislazuli. Initialen G.P. Die Fahndung lief auf Hochtouren. Und die leitende Kommissarin kniete höchstpersönlich vor dem haarigen Grab. Nach einer halben Stunde bestand ihre Ausbeute aus einem Hosenknopf, zwei Haarklammern und einem benutzten Kondom. Ein finsterer Blick traf Agnes, die am Abend immer das Geschäft abschloss.
Ich bilde mir noch immer ein, dass Onkel Otto in seiner Ecke errötete, als er sich eine Zigarre ansteckte.
Wenn ich jetzt den Ring aus der Hosentasche zog, würde ich als Dieb dastehen, als Taugenichts. Wenn ich ihn drin ließ, war ich einer. Der Sohn eines Nichtsnutzes. Tante Ingrid würde mich hinausschmeißen und ich müsste unter der Brücke am Mühlbach schlafen. Meine Mama würde sich vor lauter Gram auch das zweite Bein brechen.
Als sich alle im Herrenstudio tummelten, schlich ich unbemerkt in den Damensalon. Ich krabbelte über den Fußboden und schnippste den Ring unter einen der Frisierstühle. Dann sprang ich auf und flitzte wie ein Pfitschipfeil durch den ganzen Laden. „Ich hab ihn gefunden! Hurra!“
Tante Ingrid strich mir stolz über den Kopf und Agnes drückte mich an ihren Busen. Wahrscheinlich hatte sie Angst gehabt, dass sie erst nach Hause gehen durfte, wenn der Ring gefunden worden war. Ihre Motivation beschäftigte mich in diesem Augenblick aber nicht, Hauptsache, mein Gesicht war zwischen ihren warmen Brüsten.
„So ein braver Bub“, waren sich alle einig. Erst jetzt bemerkte Tante Ingrid den Qualm, nahm Onkel Otto die Zigarre aus dem Mund und hielt sie unters Wasser.
Und weil ich so ein braver Bub war, durfte ich den Ring mit einem langen Draht unter dem Stuhl hervorangeln. Dann griff mich die Tante bei der Hand und sagte: „Jetzt fahren wir beide zur Frau Paltram. Die wird staunen, wie tüchtig zu bist.“
Ich kletterte zu ihr ins Cabrio, einen Volkswagen 1600 Karmann Ghia. Noch heute kriege ich feuchte Hände, wenn ich so einen Wagen sehe. Tante Ingrid gab Gas. Der Motor heulte auf und mein Herz klopfte.

Die Frau Paltram saß im Garten, trank Pfefferminztee und las. Sie trug ein kurzes Kleid mit großen Veilchen drauf und ihre Beine lagen ausgestreckt auf einem Stuhl. Als sie uns sah, legte sie ihr Buch zur Seite und brachte Gläser und Kekse. Ich öffnete die Faust und sie schaute auf den Ring. Und dann strahlte sie, wie ich sie noch nie hab strahlen sehen. „Das ist aber lieb von dir, Gusti. Dafür darfst du dir was wünschen von mir.“
Jetzt wurde ich rot, denn am liebsten hätte ich mir gewünscht, endlich ihre Haare streicheln zu dürfen, oder dass auch sie mich an ihre Brust presste, aber das ging natürlich nicht. Auch eine gute Schulnote konnte ich mir schlecht wünschen, das war ihr bestimmt nicht erlaubt. Und so fand ich es fast schon ein bisschen gemein, dass ich mir selbst eine Belohnung ausdenken musste. Einerseits durfte ich nicht unverschämt sein, andererseits wollte ich mich nicht mit einer Kleinigkeit zufrieden geben.
„Am dringendsten braucht er gescheite Unterwäsche“, fiel mir die Tante ins Wort, noch bevor ich überhaupt eines von mir gegeben hatte.
Hätte Tante Ingrid gesagt, dass ich mir eine Spielzeugeisenbahn wünsche oder sogar ein Buch, hätte ich freundlich geschaut und mich artig bedankt. So aber blitzten meine Augen zornig. „Das ist nicht wahr! Ich will keine Unterhosen. Was ich mir wirklich wünsche ist, dass Sie mich adoptieren, Frau Lehrerin“, platzte es mir in der Aufregung heraus.
Tante Ingrid verpasste mir eine Ohrfeige und Frau Paltram begann bitterlich zu weinen. Erst am nächsten Tag erfuhr ich, warum.

Auf dem Rückweg klopfte der Motor und ich heulte. „Hör auf zu flennen, du frecher Bengel“, sagte die Tante ein halbes Dutzend Mal zu mir, aber den Gefallen tat ich ihr nicht. Im Gegenzug steckte sie mich ohne Abendessen ins Bett, was nicht so schlimm war, weil mir der Appetit ohnehin vergangen war.
Ich nahm mir vor, das ganze am nächsten Morgen in einen Hungerstreik umzuwandeln.
Als ich wach wurde, stand Tante Ingrid längst schnippelnd, lockenwickelnd und fönend in ihrem Salon. Onkel Otto saß mit der Zigarre im Mund und der Zeitung in den Händen am Küchentisch. Er nickte mir freundlich zu, wobei ihm eine Portion Asche auf den Sportteil rieselte.
Angesichts des gezuckerten Marmeladekrapfens vor mir setzte ich den geplanten Hungerstreik kurzfristig aus und biss in das duftende Gebäck.
„Adoptiert willst werden von der Lehrerin?“ Es war das erste Mal, dass Onkel Otto mich direkt ansprach.
Ich schwieg, erstens, weil es mir peinlich war und zweitens, weil man mit vollem Mund nicht spricht. Es war ihm aber ohnehin egal, ob ich antwortete oder nicht.
„Die wollte eh immer Kinder, aber sie kann keine eigenen kriegen.“
Da war sie wieder, die Hoffnung. Möglicherweise wäre Mama ganz froh, mich loszuwerden. Oft hatte sie sich beklagt, dass sie sich einen Haufen Geld und noch einen größeren Haufen Ärger erspart hätte, ohne Mann und Kind. Ohne Mann war sie ja nun.

„Und jetzt trink deinen Kakao aus, Gusti. Wir fahren ins Spital. Du hast nämlich schon eine Mama, vergiss das nicht.“
Er strubbelte mir mit seinen Zigarrenfingern durch die Haare. Aber irgendwie begann der Geruch mir zu gefallen und mein Onkel auch. Im Gegensatz zu meiner Tante drehte er im Auto sogar das Radio an.
“Shalala-Lala-Lalala”, schmetterten wir gemeinsam mit Tony Christie auf seinem Weg nach Amarillo. Bei Am Tag als Conny Kramer starb summten wir leise mit und verstummten, als wir uns der Unfallstelle näherten, an der das Blaulicht von Polizeiwägen unablässig aufblitzte.
Onkel Otto blieb stehen und stieg aus. Um herauszufinden, ob es lange dauert, wie er versicherte. Ich glaube, er war einfach neugierig.
„Um Gottes Willen.“ Er ließ sich auf den Fahrersitz plumpsen und zitterte. Ich traute mich nicht zu fragen und hielt mein Plastiksackerl mit beiden Händen umklammert. Haare waren da drin, für die Mama. Sie hatte mal erwähnt, sie hätte gern schwarzes langes Haar. Ich hab sie heimlich aus dem Schacht geholt, die Haare, um ihr eine Freude zu machen.
„Ein hellblauer Käfer“, stammelte mein Onkel jetzt. „Der schaut schlimm aus.“
Die Frau Paltram, schoss es mir durch den Kopf, die fährt so einen hellblauen Käfer. Natürlich fuhren damals Millionen Menschen ein solches Modell, aber um all diese wildfremden Leute machte ich mir gar keine Sorgen.
„Weiterfahren, bitte", dirigierte uns ein Polizist an der Unfallstelle vorbei. Ich verrenkte mir im Vorbeirollen den Hals, aber ich konnte nichts erkennen.

Als wir im Krankenhaus ankamen, war ich immer noch wie betrunken vom Schreck, obwohl ich damals natürlich noch nicht wusste, wie man sich fühlte, wenn man betrunken war. Ich wusste bloß, wie es war, wenn mein Vater betrunken war. Es stank, es war laut und manchmal tat es weh.

Onkel Otto ließ mich alleine ins Krankenzimmer gehen. Ich strahlte Mama durch meine Zahnlücke an, so glücklich war ich, als sie mich umarmte. Sie duftete nach Gips und nach Krankenhaus. Jetzt schämte ich mich dafür, dass ich heute früh noch adoptiert werden wollte. „Wenn ich wieder zu Hause bin, fangen wir ein neues Leben an“, sagte Mama fröhlich und lachte über die schwarzen Haare.
Wenig später kam Onkel Otto ins Zimmer. Er drückte Mama einen Kuss auf die Wange und eine Flasche Traubensaft in die Hand. In dem Moment öffnete sich die Tür und ein Bett wurde herein geschoben.
„Ah, endlich etwas Gesellschaft“, freute sich meine Mutter.
In dem Bett lag eine Frau mit zwei eingegipsten Beinen und einem monströsen Kopfverband. Sie schluchzte fürchterlich und die Krankenschwester redete beruhigend auf sie ein. „Aber Frau Paltram, die Haare wachsen doch wieder nach. Wir mussten sie abrasieren, damit wir die Wunde nähen konnten.“

*

Versonnen stecke ich die blonde Strähne wieder in den Briefumschlag und streiche über meine Glatze. Es war der August 1972. Haare, Haare, nichts als Haare.

Donnerstag, 26. April 2007

Sonnenblumen und Rosmarin

Luzia erschrak, als sie den Briefumschlag mit dem Trauerrand aus dem Postkasten nahm. Erst als sie die Sonnenbrille abnahm, erkannte sie, dass der Rand nicht schwarz, sondern weinrot war. Was hatte das zu bedeuten?
Mit dem Zeigefinger riss sie noch im Stiegenhaus das Kuvert auf. Sie setzte sich auf die Stufen und strich das Blatt Papier glatt.
Ein Partezettel, ebenfalls mit dunkelroter Umrahmung und mit dem Namen ihrer Freundin drauf. Beate Schwimmer. Nein, bitte nicht. Lieber Gott,wenn es dich gibt, lass das nicht wahr sein. Das ging ja gar nicht, fiel ihr ein, ich hab doch heute Vormittag noch mit ihr telefoniert. Hatte sich jemand einen bösen Scherz erlaubt?

Anstatt des Kreuzes eine Sonnenblume. Rechts oben, wo für gewöhnlich die tröstlichen Worte standen, die die Angehören aus der Vorlagenmappe des Beerdigungsinstituts ausgewählt hatten, stand:
Non, je ne regrette rien. Rien de rien. (Edith Piaf).
Und für die, die kein französisch verstanden, die Übersetzung: Nein, ich bereue nichts.

Luzia zitterte und las. Atmete tief ein und erleichtert aus. Beate selbst lud zum Abschiedsfest. Am Samstag in zwei Wochen. Im Schlosspark. Abschied? Hatte sie vor, länger zu verreisen?

Liebe Freunde, liebe Verwandte, schrieb Beate,
ich hoffe, ich habe euch nicht erschreckt. Wenn doch, dann tut es mir leid. Es geht um folgendes: Ich werde sterben. Ich weiß, ihr werdet alle zu meinem Begräbnis kommen, um euch von mir zu verabschieden. Sogar du, Onkel Jeff, wirst aus Irland anreisen. Und du, Peter, aus Heidelberg. Es ist nur so: Ihr werdet einander dann zwar sehen, um mich weinen und euch über mich unterhalten, aber ich werde nicht dabei sein. Also dabei sein werde ich schon, aber ich werde nicht mitweinen können, nicht mitlachen. Nicht mitsaufen, obwohl Jeff diesen fantastischen irischen Whiskey mitgebracht haben wird.
Ich werde die salbungsvollen Worte des Pfarrers nicht hören, sondern ein paar Meter (six feet, oder?) unter der Erde anfangen zu vermodern.
Um die Worte des Pfarrers tut es mir nicht leid, der kennt mich ohnehin nicht, weil ich nie in der Kirche war. Aber ihr seid mir wichtig. Ich hätte euch so gern noch einmal alle hier bei mir. In meinen Armen, an meinem Tisch, in meiner Nähe. Zu meinem nächsten runden Geburtstag wärt ihr vielleicht auch alle gekommen, um ein halbes Jahrhundert Beate mit mir zu feiern, aber bis dahin sind es noch neun Jahre.
Ja, ich will, dass ihr mir die Blumen schenkt, so lange ich noch lebe. Ich will, dass ihr euch zu meinen Lebzeiten für mich schön macht.
Darf ich mir etwas wünschen von euch?
Also passt gut auf: Von dir Michaela und von dir Elisabeth, meine lieben Schwestern, wünsche ich mir, dass ihr euch spätestens bei meinem Abschiedsfest versöhnt. Legt endlich eure Sturheit ab und tut das, wonach ihr euch sehnt, dass es die andere tut. Schließt euch in die Arme und verzeiht einander.
Mit dir, Susanne, möchte ich zu Gloria von Patti Smith tanzen, vor dem Schlossbrunnen. Und du, Brigitte, kriegst du das bis zum übernächsten Samstag hin, es zu singen? Jesus died for somebody else, not for me ...
Das will ich so sehr.
Den Wein besorg ich selber, Uwe, sonst kommst du wieder mit diesem billigen, grausigen Fusel angetanzt. Tante Ingeborg, du bring bitte Nusstrudel mit, mit ganz viel Fülle und ganz wenig Teig. Du weißt ohnehin, wie ich ihn gern habe.
Von allen, die gerne möchten, besonders aber von dir, Luzia und von dir, Hermann, wünsche ich mir einen Nachruf. Einen richtig schön-schaurigen, witzigen, schwarzen, ehrlichen Nachruf. Einen, wo alle anderen zu heulen anfangen. Heißt ein Nachruf zu Lebzeiten überhaupt Nachruf? Na gut, eine Laudatio halt. Aber wer weder den Pulizter-Preis noch den Oscar verliehen bekommt, der kriegt halt normalerweise keine Laudatio.
Ach ja, noch eine letzte Bitte. Kein Wort über den Tod und meine Krankheit. Weder zu mir noch untereinander. (Ich weiß, das wird schwer für dich, Elli.) Ihr wisst, wie sehr ich es hasse, übers Kranksein zu reden.
Ich freu mich auf euch, meine Lieben.
Eure Beate


Luzia schluckte. Puh. War Beate übergeschnappt? War sie tatsächlich todkrank, obwohl sie aussah wie das blühende Leben? Warum wusste sie das als beste Freundin dann nicht? War etwa alles ein Scherz, und das mitten im Sommer? Man scherzte nicht mit dem Tod, dachte Luzia und hörte Beates unausgesprochene Antwort: Man vielleicht nicht, ich schon. Luzia griff nach ihrem Handy, legte es aber gleich wieder zur Seite. Wenn Beate betonte, sie wolle nicht über die Krankheit, welche auch immer, sprechen, dann meinte sie es auch so. Beate war die hartnäckigste Frau, die sie kannte. Und die konsequenteste. Dass sie einen schweren Hang zum Morbiden hatte, überraschte Luzia nicht wirklich.
„Alles in Ordnung?“, fragte der Nachbar, der sich an ihr vorbeischwindelte.
„Keine Ahnung.“
War es nicht eigentlich egal, warum Beate sich dieses Fest wünschte? Zählte nicht allein die Tatsache, dass sie das tat? Und hatte sie, Luzia ihr nicht ewige Freundschaft und Treue geschworen, damals, als sie am Waldbach einen Stausee gebaut hatten, vor tausend Jahren?

„Ich möchte einen Kranz bestellen“, sagte Luzia ein paar Tage später zum Blumendealer ihres Vertrauens.
„Mein Beileid“,kam es wie aus der Pistole geschossen, „wer ist denn gestorben?“
„Noch niemand.“ Mit verschränkten Armen signalisierte Luzia, dass sie keine Lust auf ein Schwätzchen hatte.
„Was darf es denn sein? Rosen? Lilien? Gerbera?“
„Sonnenblumen. Dazwischen Rosmarin, Salbei und Minze.“
„Ähm...“ Als er Luzias bestimmten und unnachgiebigen Blick sah (den hatte Beate ihr beigebracht) nickte er. „Marokkanische Minze oder Apfelminze?"
„Marokkanisch klingt gut. Und ein bisschen Gras.“ Er schaute sie fragend an und sie flüsterte verschwörerisch: „Marihuana, Sie wissen schon.“ Er lächelte und wusste.

Der Nachruf war beinahe fertig. Mehr als eine Woche lang hatte sie jede freie Minute daran herumgestrichen, hinzugefügt, ausgebessert, gefeilt. Und trotzdem würde er nicht gut genug sein. Nicht gut genug für Beate.
Was sollte sie anziehen? Bei einer Hochzeit durften die Gäste nicht schöner sein als die Braut. Galt das bei einer Trauerfeier auch? Aber Beate hatte ausdrücklich darum gebeten, sich schön zu machen. War schwarz angebracht? Oder gar weiß? Luzia entschied sich für ein knielanges, türkisfarbenes Sommerkleid. Das passte auch wunderbar zum Kranz, denn ihn zierte eine Schleife aus Seide, ebenfalls in türkis. Ich bereue auch nichts, stand mit sichtbaren, gestickten Goldbuchstaben darauf. Und mit unsichtbarer Tinte: Schon gar nicht, deine beste Freundin zu sein.

Die Sonne knallte vom Himmel und die Luft flirrte in der Hitze. Zum Glück spendete die riesige Rotbuche Schatten. Die Tische waren mit Köstlichkeiten gedeckt. Es gab Griechisches Zitronenhuhn mit Rosmarinkartoffeln, das hatte Onkel Paul in seinem Restaurant gekocht, und natürlich gab es auch all die anderen Lieblingsspeisen von Beate und ihren Freunden. Und zwei Meter Nussstrudel von Tante Ingeborg. Viel Fülle, wenig Hülle.
„Tschuldigung, darf ich ein bisschen Minze aus dem Kranz zupfen, für die Bowle?“, zwitscherte ihre Arbeitskollegin und auch der Kollege zupfte, rollte das Gezupfte in ein Paper und inhalierte.

Beate trug ein tief dekolletiertes, langes Leinenkleid in Sonnenblumengelb und war wunderschön.
„Dürfen wir wenigstens weinen?“, wollte ihr Ex-Mann wissen und sie drückte ihn an ihre Brust. „Vor fünfzehn Jahren hättest du heulen sollen“, schnappte sie, „da hätte ich vielleicht rechtzeitig gemerkt, dass du zu Emotionen fähig bist. Nimm dir noch ein Glas Chardonnay, ja?“, zwinkerte sie. „Aber pass auf, dass deine Frau das nicht merkt. Übrigens, hast du Michaela und Elisabeth gesehen?“
„Deine zerstrittenen Schwestern? Wahrscheinlich duellieren sie sich im Schlosshof!“

Brigitte sang eine Zwanzigminuten-Version von Gloria und trotz des lauen Abends bekamen die Gäste Gänsehaut. Bei den dreiundzwanzig Nachrufen, einer schöner und gefühlvoller als der andere, wurde geschluchzt, gelacht und gewiehert. Der allerschönste kam natürlich von Luzia. Er enthielt alle jugendlichen und gar nicht mehr jugendlichen Schandtaten, strich liebevoll über Beates Macken und Perversionen und endete mit „der liebenswertesten und altruistischsten Egoistin, die ich kenne.“
Jeder schenkte Beate etwas ganz Besonderes. Ein selbstgemaltes Bild, ein selbstgeschriebenes Gedicht, selbstgefädelte Ketten und selbstverfasste Liebeserklärungen.
Onkel Paul jonglierte mit fünf reifen Mangos, Gertrud steppte zu "Singing in the Rain" und Jeff öffnete die dritte Flasche Jameson Gold. Sláinte!

Trunken vor Glück und Alkohol lehnte Beate sich an Thomas, an der einen Hand hielt sie Stefan, an der anderen Georg. „Ich liebe euch alle“, lallte sie. „Und jetzt, wo ich auch weiß, wie sehr ihr mich liebt, werde ich mir das mit dem Sterben noch einmal überlegen.“
Die Leute verstummten und Patrizia legte die Gitarre zur Seite. Es war das erste Mal an diesem Abend, dass jemand eines der verbotenen Wörter in den Mund genommen hatte.
„Auf’s Leben“, erhob Beate ihr Glas. „Prost.“

Als ihre beiden Schwestern gemeinsam und strahlend das Geschirr weggepackt und sich die letzten Gäste umarmungsreich verabschiedet hatten, nahm Luzia Beate an der Hand. „Lass uns im Mondschein spazierengehen.“ Sie wanderten am Schloss vorbei, am kleinen Teich, an den beiden Reiterstatuen. Sie rochen Wilden Jasmin, reife Himbeeren und die klare Nacht. Sie fühlten die Nähe der anderen.
Gerne hätte Luzia die Frage gestellt, die ihr die ganze Zeit durch den Kopf spukte, aber sie schluckte sie tapfer hinunter. Beinahe hätte sie vergessen, dass Beate verschluckte Gedanken lesen konnte, als diese mit klarer Stimme sagte: „Ja, ich muss sterben. Früher oder später. Wie du auch.“

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

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"Pinguin"
"Pinguin"
bonanzaMARGOT - 11. Mär, 11:11
Sleepless im Weinviertel
Ich liege im Bett. Ich bin müde. Ich lese. Eine Romanbiografie...
testsiegerin - 13. Jan, 11:30
... ich könnte mal wieder...
... ich könnte mal wieder eine brasko-geschichte schreiben.
bonanzaMARGOT - 8. Jan, 07:05
OHHH!
OHHH! Hier scheint bei Twoday etwas nicht zu stimmen. Hoffentlich...
Lo - 7. Jan, 13:36
OHHH!
OHHH! Hier scheint bei Twoday etwas nicht zu stimmen. Hoffentlich...
Lo - 7. Jan, 13:36
loving it :-)
loving it :-)
viennacat - 2. Jan, 00:51
Keine weiße Weste
Weihnachtsgeschichte in 3 Akten 1. „Iss noch was,...
testsiegerin - 16. Dez, 20:31
ignorier das und scroll...
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testsiegerin - 27. Okt, 16:22

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