Geschichten
(dürfen aber natürlich auch die noch mal lesen, die die Geschichte schon kennen)
„Jetzt ist er weggeflogen.”
Enttäuscht blickte Hubert dem Greifvogel hinterher und drückte die Kappe auf das Objektiv, während die Frau keuchend die kleine Plattform erreichte. Sie erkannte den Vorwurf in seinem Blick und sah ihn fragend an.
„Schwarzmilan.” Hubert war Werbetexter und sonst gar nicht wortkarg. Sonst war er auch nicht so leicht zu frustrieren.
„Isabell Würger. Tut mir leid, Herr Schwarz. Ich wusste ja nicht...”
„Ein Isabellwürger? Wo?“ Sofort steckte er die Kappe wieder in die Tasche und presste das Fernglas an seine Augen. „Im Juni 2002 hab ich einen gesehen, im Mühlviertel. Die sind sehr selten.“
Du bist auch ein seltener Vogel, dachte Isabell. Sie entschied sich für F69. Nicht näher bezeichnete Persönlichkeits- und Verhaltensstörung.
„Was immer Sie da jetzt suchen. Ich heiße so. Würger. Sie dürfen mich gern Isabell nennen.“
„Hubert.“ Er schüttelte ihre Hand. „Hubert Weiss.“
So, so. Aus Milan Schwarz wird mal eben Hubert Weiss. Isabell lugte vorsichtig nach hinten. Den Fluchtweg sichern. „Angenehm“, log sie.
„Poltern sie immer so laut einen Aussichtsturm hoch?“ Hubert war es offensichtlich auch nicht angenehm.
„Ich trainiere.“
„Für die Staatsmeisterschaft im Vögel-Vertreiben?“
Isabell stöhnte und wünschte sich weit weg. Nach Dubai, am liebsten. Dort könnte sie sich wesentlich effizienter auf den Treppenlauf vorbereiten als im Waldviertel. Die Hochhäuser hier waren dünn gesät.
„Für Niesen.“
„Ich verstehe. Sie rennen hier leicht bekleidet herum, holen sich eine Erkältung und werden das Niesen souverän gewinnen. Nehmen Sie auch am Husten teil?“
„Der Niesen. Das ist ein Berg in der Schweiz. Da gibt’s die längste Treppe der Welt. Aber Sie haben recht, ich hole mir noch eine Lungenentzündung hier oben. J18.0 übrigens.“
Hubert lächelte verständnisvoll. „Darf ich Ihnen eine Decke anbieten?“
„Ja, gern.“ Der war offensichtlich doch harmlos. „Sie fotografieren Vögel?“
„Nein, ich beobachte sie nur. Früher war ich Hobbyornithologe. Heute nennen sie uns Birder. Das Tier, das sie mir verscheucht haben, war ein Schwarzmilan. Hier ausgesprochen selten. Noch seltener ist allerdings der Isabellwürger.“
Sie schaute erstaunt. „So einen Vogel gibt es wirklich?“
„Der Würger ist kein Mörder, erfreut das Herz vom Birder. Entschuldigen Sie“, er grinste verlegen. „Und Sie? Warum trainieren Sie ausgerechnet hier für Ihren Treppenlauf? War Ihnen New York zu langweilig?“
„Ich habe beim Pokern verloren.“
„Klar.“ Die Frau war nicht ganz dicht.
„Ich verreise immer gemeinsam mit meiner Freundin“, erklärte sie. „Ich wollte nach Dubai. Aber sie hat gewonnen. Sie gewinnt immer.“
„Vermutlich schummelt sie.“
Isabell lachte. „Ja, aber nicht immer zu ihrem Nutzen. Sie hat mal ein Rendezvous mit einem Mann gewonnen. Und deshalb ist sie jetzt geschieden und will nicht nach Dubai. Der Kerl war Araber.“
„Pssst.“ Er legte seinen Zeigefinger über die Lippen und beugte sich zu ihr. „Horchen Sie mal.“
Sie hörte nur ihr Herz klopfen.
„Halten Sie Ihr Goldkettchen fest“, flüsterte er ihr ins Ohr.
„Warum?“, hauchte sie zurück. „Kommt der Würger?“
„Nicht der Würger. Der Halsbandschnäpper.“
„Meine Güte, ich komm mir vor wie in einem Edgar Wallace-Film. Sind Sie etwa der Frosch mit der Maske?“
„Sehr witzig.“ Hubert verzog beleidigt das Gesicht.
„Beschäftigen Sie sich beruflich mit Vögeln?“, versuchte Isabell die Situation zu retten und trat ins nächsten Fettnäpfchen.
„Wäre ich ein plumper, etwas einfältiger Kerl würde ich jetzt mit, nein, das ist mein Hobby, antworten. Bin ich aber nicht. Deshalb übergehe ich diese Ihre Frage souverän.“
„Danke.“
„Bitte.“
Sie schwiegen.
Ich sollte ihm die Decke zurückgeben und zum Campingplatz laufen, dachte sie. Dort würde sie gegen ihre Freundin beim Pokern verlieren und zum vierten Mal in dieser Woche das Essen bezahlen.
Ich sollte die Sache mit dem Schwarzmilan für heute vergessen, dachte er. Nach Wien zurückfahren, ein paar dämliche Werbetexte für Schokokekse schreiben und mir einen guten Film anschauen.
Während sie so dachten, standen sie unbeweglich auf der Plattform. Es dämmerte.
„Darf ich mal?“ Sie deutete auf das Fernglas.
Er reichte es ihr.
Zunächst sah sie gar nichts. Wenig später ein bisschen verschwommenen Himmel. Dann viele Bäume, die langsam schärfer wurden. Plötzlich hielt sie inne.
„Was sehen Sie?“, flüsterte er.
„Still!“, zischte sie und er gehorchte.
Die Frau, die sie im Objektiv hatte, trug Rot. Lehnte am Baum und lachte. Erstarrte im nächsten Moment. Hände, die ein Stück Seil umklammerten. Es gegen den Hals der Frau drückten. Isabell wollte schreien, brachte aber keinen Ton heraus. Sie schwenkte das Fernglas nach links. Eine schwarze Lederjacke. Blaue Augen, die jetzt direkt zu ihr schauten.
Das Fernglas rutschte ihr aus den schweißnassen Händen und landete im hohen Gras. „Schnell.“ Sie zerrte an seiner Jacke. „Ducken Sie sich. Er hat uns entdeckt!“
„Spinnen Sie?“, herrschte er sie an, so leise, wie er konnte. „Wissen Sie, was das gekostet hat?“
„Ich hab ihn gesehen“, stammelte sie.
„Wen haben Sie gesehen?“
„Den Würger.“
„Oh Gott! Beschreiben Sie ihn!“ Er hatte keine Zeit, sich über ihre Ornithologiekenntnisse zu wundern.
„Er ...“, stotterte sie „..blaue Augen. Eine Glatze.“
Er hatte auch keine Zeit, sich über ihre psychische Verfassung zu wundern. „Das kann nicht sein. Der Kahlkopfwürger lebt nur auf Borneo.“ Fassungslos schüttelte er den Kopf.
„Kein Vogel, Sie Idiot!“, presste sie hervor. „Ein Mörder! Ein richtiger Mörder.“
Isabell klammerte sich an ihn.
Sie ist verrückt, dachte Hubert und löste sich von ihr. Sie ist übergeschnappt. Ich hätte es ahnen können. Wer läuft schon freiwillig Treppen hoch? Noch dazu im Waldviertel.
„So schauen Sie doch selbst!“, flehte sie ihn an.
„Das geht nicht. Sie haben soeben mein Glas über Bord geschmissen.“ Er schlich nach unten, kämpfte sich auf allen Vieren leise durchs hohe Gras, fand sein Fernglas wieder und kletterte wieder auf die Ausichtsplattform.
„Da ist eine Lichtung." Sehen Sie die? Und ein paar Birken.“
Er sah die Lichtung. Er sah die Birken. Aber er sah keine Leiche. Nur ein Eichkätzchen sah er. Er wandte seinen Blick zu Isabell. Ihre Augen waren starr. Hubert war kein ängstlicher Mensch, aber jetzt war auch ihm etwas mulmig zumute.
Sie riss ihm das Fernglas aus der Hand. Fand die Stelle. Kein Rot. Kein Glatzkopf. Keine Tote. Kein Seil.
„Aber ... Aber ich hab’s doch genau gesehen. Vielleicht hat er sie verscharrt.“
„In sieben Minuten? Meinen Sie, er trainiert für die Europameisterschaft im Leichenvergraben?“ Er holte den Flachmann aus seiner Brusttasche und reichte ihn ihr. „Hier. Beruhigen Sie sich erstmal. Und dann gehen Sie dorthin, wo Sie hergekommen sind. Die Decke können Sie behalten.“ Und gleich morgen gehen Sie zum Psychiater, hätte er gerne noch hinzugefügt.
Sie trank. Vielleicht bin ich verrückt, dachte sie. Erkrankung aus dem Schizophrenen Formenkreis, vielleicht hab ich das. Die zugehörige Zahl fiel ihr nicht ein. Isabell tippte bei der Krankenkasse Diagnosen in den Computer, da gingen viele Krankengeschichten durch ihre Hände. Unter anderem solche von Menschen, die tote Kinder im Keller sahen, oder der Nachbarn auf dem Dachboden. Sie halluzinierte. Sah Leichen, wo gar keine waren. Was würde ihre Mutter sagen, wenn sie eine Karte aus der Psychiatrie schrieb? Ob es dort ausreichend Treppen gab? Mit wem und worum würde ihre Freundin ohne sie pokern?
„Ich kann nicht gehen.“ Trotz Decke bibberte sie. „Er hat mich gesehen. Er wird mich auch töten.“
Er tätschelte ihren Kopf, wie eine Mutter den Kopf ihres Kindes tätschelte, das sie trösten wollte, aber nicht ernst nahm. „Ist schon gut. Ich bringe Sie dann zurück. Aber ein bisschen mag ich gerne noch schauen.“
Sie nickte, kuschelte sich fester in die Decke und trank die Flasche leer. Hin und wieder wurde sie von Weinkrämpfen geschüttelt, was Hubert hilflos machte. Irgendwann schlief sie ein.
„Oh Gott!“ rief er und schüttelte sie."Schauen Sie mal!"
„Was ist da?“ fragte sie benommen, bevor die Erinnerung zurückkehrte. Er drückte ihr das Fernglas in die Hand. "Dort drüben, bei den Eichen. Sehen Sie den roten Fleck?"
Plötzlich war sie hellwach. "Die tote Frau?"
„Ach was, Sie schon wieder mit Ihren Leichen. Viel aufregender. Ein Rotmilan.“
testsiegerin - 1. Jun, 21:57
„Ja. Ich kümmere mich drum. Sobald ich kann. Ja. Wiederhören.“
Sie stellte das Telefon zurück in die Ladestation. Ich kann aber sobald nicht, dachte sie. Das Kümmern wuchs ihr in letzter Zeit oft über den Kopf. Sie hätte sich auch gern manches Mal in so eine Ladestation gelegt. Schon fast halb zwei. Wenn sie jetzt keine Mittagspause machte, dann konnte sie auch ganz darauf verzichten. Ihr Magen knurrte. Ihre Nerven bellten. Und ihre Lendenwirbelsäule biss zu.
„Ich bin in zwei Stunden zurück“, sagte sie zu ihrer Sekretärin, „vielleicht“. Sie spürte das Prickeln in ihrer eigenen Stimme. So etwas Ungehöriges hatte sie in den letzten 40 Arbeitsjahren nicht gesagt.
Die Sekretärin starrte sie an, als hätte sie eben verkündet, auf den Mars zu fliegen. „Gut. Wenn etwas wirklich dringend und wichtig ist, ruf ich Sie am Handy an.“ Immerhin konnte sie endlich zwischen wichtig und dringend und wirklich wichtig und wirklich dringend unterscheiden.
„Nein, das werden Sie nicht tun.“ Das machte ja richtig Spaß.
„Tschuldigung, Frau Inspektor. Guten Appetit.“
Noch zwei Jahre sollte sie durchhalten. Noch zwei Jahre Kümmern. Wann hatte sich eigentlich zuletzt jemand um sie gekümmert? Kümmerte sie sich überhaupt genug um sich selbst? Jetzt helfe ich mir selbst, so hieß das kleine Büchlein, das sie sich gekauft hatte, als sie noch den alten hellblauen Käfer fuhr. Heute fuhr sie einen schwarzen Chrysler Cherokee, gebraucht zwar, aber er funktionierte tadellos. In ihrem Leben war alles Second Hand, die Kleidung, der Ehemann, die Kinder und eben das Auto.
Damals, mit dem hellblauen Käfer, hatten noch reihenweise Autofahrer angehalten, wenn sie am Straßenrand liegen geblieben war. Nun hatte sie seit zwanzig Jahren nicht mal mehr eine Panne gehabt. Früher war überhaupt alles besser. Früher war alles früher. Ganz in Gedanken lief sie gedankenlos durch die Fußgängerzone.
„Eine Sushi-Bento-Box bitte, mit Miso-Suppe und...“ Sie biss sich auf die Lippen. Verdammt. Sie war in dem Wäscheladen neben dem Japaner. Sie lachte laut und verlegen. „War nur ein Scherz.“
Sie deutete auf die Unterwäsche, die auf dem Ständer mit der Aufschrift „Angebot des Monats“ hing. „Die ist hübsch. Die nehm ich.“
„Wild Tiger. Die freche Kombination aus Animalprint und samtigem Petrol, sowie der hauchzarte, leicht transparente Tüll machen dieses Modell zu einem absoluten Hingucker, Frau Inspektor. Das gefällt der Frau Tochter bestimmt. Soll ich es als Geschenk einpacken?“
Frau Tochter? Hatte diese Tussi tatsächlich Frau Tochter gesagt? „Danke, ganz lieb, aber ich denke, ich werde sie gleich anlassen.“ Sie griff sich den Kleiderhaken und stolzierte zur Umkleidekabine.
„Warten Sie. Diese Unterwäsche ist von der Anprobe ausgenommen. Sie wissen schon. Wegen der Hygiene.“ Die Verkäuferin sprang ihr wie ein Panther hinterher, aber die wilde Tigerin war längst hinter dem Schutz des Vorhanges verschwunden.
„Keine Sorge. Ich bade jeden Samstag. Und heut ist ja erst Mittwoch.“
„So hab ich das nicht gemeint, Frau Inspektor.“
„Nicht so? Wie dann? Sorgen Sie sich um meine Gesundheit? Seh ich so gebrechlich aus? Mit den paar Filzläusen in Ihrem Höschen werde ich schon noch fertig.“ Mit Läusen war sie auch im Schuldienst immer wieder konfrontiert und fertig geworden.
„Reden Sie mit mir?“, fragte eine warme Männerstimme mit südosteuropäischem Akzent.
„Aber gern“, sagte sie durch den dunkelroten Stoffvorhang, „warum nicht? Worüber möchten Sie denn reden?“ Sie war es gewohnt, dass Menschen ihr die Herzen ausschütteten und Lösungen von ihr erwarteten. Hilflose und überforderte Schuldirektoren, Lehrerinnen, Eltern und Schüler. Keiner ahnte, dass sie sich selbst oft hilflos und überfordert fühlte. Jetzt zum Beispiel mit dem Verschluss des BHs.
Irgendwie schaffte sie aber doch, das Häkchen in die Öse zu fädeln, schaute in den Spiegel und drehte sich ins Profil. Kein Mann war so blöd und drehte sich vor dem Spiegel ins Profil um seine Problemzonen besser sehen zu können. Frauen verglichen sich mit perfekt retouchierten Frauen in Frauenzeitschriften, Männer mit birnenförmigen Kollegen in der Sauna. Deren Leben war eindeutig einfacher.
Sie drehte sich auf die andere Seite. Mit ihrer Figur war sie halbwegs zufrieden, bis auf ein paar Dellen und Falten, die das Leben ihr auf den Leib geschneidert hatte.
„Ich dachte, Sie wollten mit mir reden?“, erinnerte sie sich an den Mann auf der anderen Seite des Vorhangs.
„Ah ja. Ich bin auf der Suche nach einem Muttertagsgeschenk. Für meine Mutter.“
„Wie originell. Nehmen Sie doch auch Wild Tiger, ist grad im Angebot. Die samtige, hauchzarte Animalprintkombination und transparenter Petroltüll machen dieses Modell zu einem absoluten Hingucker“, äffte sie die Verkäuferin nach, die sich gekränkt zurückzog.
„Darf ich denn hingucken?“ fragte der Mann.
„Nicht einmal dran denken.“
„Und wenn ich doch dran denke?“
„Selber schuld. Vielleicht bin ich achtzig und habe 150 Kilo?“
„Sicher nicht. Wild Tiger gibt es nur bis Größe 40. Vielleicht sind Sie dreißig und haben langes, blondes Haar.“
„Vielleicht habe ich kurzes Haar und bin sechzig.“
„Vielleicht. Haben Sie ein Problem mit Ihrem Alter?“
„Manchmal. In der Früh brauche ich immer länger, um mich zu entfalten und die Visitenkarten haben mittlerweile die Größe eines Aktenordners.“
„Darf ich jetzt endlich schauen?“
„Moment noch.“ Sie zippte den Reißverschluss ihrer Hose zu und stopfte die getragene Unterwäsche in ihre Tasche. „So, jetzt.“
Er zog den Vorhang zur Seite. „Sehr schön“, sagte er.
„Sie kenn ich doch!“ rief sie aus.
„So? Sie kennen mich?“ Er lächelte, und sein Lächeln war hinreißend. Sein muskulöser Körper auch.
In ihrem Hirn begann es zu rattern – und nicht nur da. Kannte sie ihn aus der Kantine? Ein Beamter der Sozialabteilung, vielleicht, oder der Vater einer Schülerin. Vielleicht war es ein neuer Lehrer? Ein Religionslehrer, das waren oft die attraktivsten. Vielleicht sogar ein angehender Priester, für die Damenwelt unrettbar verloren, zumindest offiziell.
„Natürlich kenn ich Sie.“ Zu spät. Jetzt konnte sie ihn nicht mehr fragen, woher. Jetzt musste sie so tun, als wüsste sie, wer er war. Dabei hatte sie keine Ahnung. Das passierte ihr in letzter Zeit immer öfter.
„Vermutlich denken Sie, dass ich täglich wildfremde Frauen in aufregender Unterwäsche sehe. Aber das stimmt nicht.“
„Natürlich nicht. Sie sehen bestimmt lieber aufregende Frauen in wildfremder Unterwäsche.“ Religionslehrer war er also nicht.
„Auch das nicht. Aber ich sehe täglich verschwitzte Männer in verschmutzter Unterwäsche.“
Sie überlegte. War er etwa einer der Pfleger aus dem Seniorenheim, in dem Onkel Albert seine letzten Tage fristete? „Ich heiße Inge“, sagte sie, um Zeit und wertvolle Informationen zu gewinnen.
„Ivica“, sagte er, „meine Freunde nennen mich Ivo.“ Sie kramte in der riesigen Schublade ihres Gedächtnisses. Ivica. Das half ihr nicht wirklich weiter.
Inge bezahlte die Unterwäsche. Ivo verhielt sich wie ein richtiger Mann und entschied sich für Gutscheinmünzen für die Frau Mama.
Sie verließen den Laden und spazierten durch die Fußgängerzone. Sie fühlte sich gut, mit der schönen Wäsche am Körper und dem schönen Mann an der Seite. „Sie sind verdammt durchtrainiert.“
„Jo. Man bezahlt mich dafür“, sagte er.
Alles klar. Er unterrichtete Sport. Er schien ein beliebter Lehrer zu sein, denn etliche Jungs blieben stehen und wollten ein Autogramm von ihm.
Leider konnte sie das Gekritzel nicht lesen. Und leider wurde sie vom Gutfühlen und der neuen Unterwäsche auch nicht satt. Ihr Magen brachte sich mit einem lauten Knurren in Erinnerung.
„Oh. Höre ich da den wilden Tiger in Ihnen?“
„Sozusagen. Würden Sie mir bitte helfen irgendwo ein hilfloses Kalb zu reißen?“
„Wie stellen sie sich das vor? Soll ich dem armen Tier von hinten in die Hacken grätschen? Dafür gibt’s glatt Rot“
„Dann schlagen Sie halt was anderes vor. Oder laden Sie mich ein.“
„Gern, da vorn ist ein Würstelstand.“
Sushi wäre ihr lieber gewesen, aber einer geschenkten Käsekrainer schaute man nicht... egal wohin.
„Dere, Ivica!“ rief der Würstelmann entzückt aus. Wieso kannten alle hier diesen Sportlehrer?
„Eine Bratwurst, mit Scherzerl, bitte, und a Sechzehner Blech.“
„Bitte sehr. Hab dich am Sonntag im Fernsehen gesehen, Ivo. Beim Interview. So a Schand’, dass du nimma spielst. Ich mein, vierzig is ja noch kein Alter ned. Dabei täten’s di so dringend brauchen.“
In Inges Hirn schoben sich ein paar Puzzleteile ineinander. Schön langsam wurde ihr klar, woher sie diesen Typen kannte. Aus dem Fernsehen. Er war kein Lehrer, sondern Schauspieler. Puh, war ihr das peinlich. Sie erinnerte sich. Er spielte eine Hauptrolle in der Werbung mit der Fußbodenheizung. Und in dem Spot mit der Nougatcreme.
Ivo ließ das Bier aus der Dose zischen. „Sechzig ist auch noch kein Alter nicht“, raunte er und zwinkerte ihr zu.
„Und was darf’s für Sie sein, “, strahlte der Würstelmann sie an, „das gleiche wie für den Herrn Sohn? Mit scharfem oder süßem Senf, Frau Vastic?“
Vastic. Jetzt dämmerte es ihr. Ivica Vastic. Der Fußballspieler.
„Mit Nutella“, sagte sie zum Würstelmann.
Ivo lachte. „Und ich hatte schon gedacht, Sie kennen mich gar nicht.“
Inge lächelte milde. „Sie halten mich wohl für total verkalkt.“
„Aber nein. Natürlich nicht. Ich hätte nur nicht geglaubt, dass sie sich für Fußball interessieren.“
„Na hören Sie. Heutzutage kennen wir Frauen uns besser im Fußball aus als die Männer. Und deshalb drücke ich Ihnen auch ganz fest die Daumen.“
Er lächelte dankbar und verneigte sich leicht. Und sie fügte mit nationaler Begeisterung hinzu: “Viel Glück in Südafrika!“
testsiegerin - 8. Mai, 20:29
„Schmeißen’s mir das weg!“, sagt Frieda Kurz knapp und reicht Emma Rogner einen Stapel nasser Zeitungen über den Zaun. „In die rote Tonne“.
Emma Rogner schaut sich um. Da ist eine braune Tonne (Bio) und eine schwarze (Restmüll). Keine rote. Eine rote Tonne tät für einen Packen nasses Papier eh nicht taugen, also stopft Emma den Stapel kurzerhand in die Restmülltonne.
„Haben Sie’s eh in die richtige g’schmissen?“ Frieda Kurz ist misstrauisch.
„Ja, ja, Frau Kurz. Ich bin Emma Rogner, Ihre Sachwalterin, ich tät mich gern ein wenig mit Ihnen unterhalten. Würden Sie mich bitte hineinlassen?“
Frieda nestelt an ihrem Schlüssel herum, findet nach Minuten schließlich ins Schloss und murmelt: „Eine alte Frau ist kein D-Zug.“
„Kein Problem, ich hab Zeit.“ Auch Emma ist kein Intercity mehr.
„Warum waren Sie eigentlich in der Psychiatrie?“, will Emma wissen, als sie ein paar Wollstrümpfe vom Sessel entfernt hat und die beiden am Tisch sitzen.
„Weil ich angeblich zu jemanden gesagt hab, dass ich nicht mehr leben will. Und die haben mich angezeigt und dann haben sie mich ins Krankenhaus gebracht.“
„Stimmt das denn?“
„Das hab ich damals gesagt und heute sag ich das auch und morgen auch. Ich will nicht mehr leben. Aber zum Leben nehmen hab ich ehrlich gesagt nicht den Mumm.“
Frieda klopft mit dem Zeigefinger auf das gerahmte Foto ihres verstorbenen Mannes, das vor ihr steht: „Oida“, sagt sie, „i hob g’sogt, i kumm und bin kumman und do bin i und do bleib i.“ Vor ein paar Jahren hätten sie die Gnadenhochzeit gefeiert. 70 Jahre verheiratet, immer mit dem gleichen Mann. „Überhaupt war er der einzige“, sagt sie und ein paar Tränen suchen ihren Weg über die Wangen.
Emma weiß nicht, ob Frieda weint, weil es nur einer war, oder weil es jetzt gar keiner mehr ist. Sie greift in ihre Tasche und reicht Frau Kurz ein Papiertaschentuch. Zum Glück hat sie gestern im Drogeriemarkt eine Hunderterpackung gekauft. Damit sie ihrem Kollegen nicht das Hemd vollrotzt. Auch eine Nagelfeile und eine Nagelschere hat sie erstanden, für den Fall, dass sie wieder vor einer versperrten Haustür steht und die Zeit totschlagen muss.
„70 Jahre mit ein und demselben“, wiederholt Frieda, „das können Sie sich nicht vorstellen, was?“ Frieda hat recht. Emma kann sich nicht mal ein halbes Jahr mit ein und demselben Mann vorstellen, und offensichtlich kein Mann mit ihr.
Schön wäre es nicht gewesen auf der Psychiatrie, obwohl die alle sehr lieb und lustig waren, erzählt Frieda. „Als Gesunde tut man sich schon schwer unter all den Kranken.“
Vergesslich sei sie geworden, sagt sie, „man hat das Gefühl, dass einem direkt ein Stückerl fehlt.“ Jetzt fehlt ihr grad die Brille. Und die zweireihige Perlenkette mit Biedermeierschließe. "Die Schließe war so teuer wie die ganze Kette. Und die Unterwäsche ist auch weg.“ Die wäre ihr gestohlen worden. Alles weggekommen, während sie weg war.
Das Haus macht nicht den Eindruck, als wäre hier eingebrochen und nach Schmuck und Stützstrümpfen gesucht worden. Emma fragt sich, was die Einbrecher wohl mit den Tonnen Damenunterwäsche machen, die sie ihren Klientinnen ständig klauten.
„Wenn’s wieder kommen, können wir dann das Sackerl mit der Wäsche durchschauen?“ Frieda hält Emma für eine Betreuerin des ambulanten Dienstes. „Da gehört ein bissl was gestopft..“
Emma kann nicht Socken stopfen und erklärt ihr ihre Funktion und Aufgaben. „Ich werde das mit dem Geld regeln und dafür sorgen, dass Sie immer ein bisschen Bares bei sich haben“, verspricht sie, aber Frieda will „nicht ein bissl Bares, sondern anständig.“ Mit ein paar Hundertern gäbe sie sich nicht zufrieden.
„Haben Sie heut schon was gegessen, Frau Kurz?“
„Was Sie alles wissen wollen. Ziemlich neugierig sind Sie. A Brot hab ich gessen, und später koch ich mir Schinkenfleckerl. Oder Hörnchen.“ Essen auf Rädern komme ihr nicht ins Haus. Hochkant hinausschmeißen würde sie die, sie habe 75 Jahre gekocht und das werde Sie auch weiterhin tun.
„Die Damen vom ambulanten Dienst werden für Sie einkaufen“, lenkt Emma ab, aber das kommt für Frieda nicht in Frage. „Die dürfen mich gern ins Geschäft begleiten, aber ohne mich brauchen die nicht gehen. Keine Frau will, dass jemand anderer für sie einkaufen geht. Das muss ich ja sehen und angreifen“, sagt sie und auch einen Schlüsselsafe, damit die Heimhelferinnen reinkommen, lehnt Frieda ab. Es ist ihr egal, dass die Krankenschwester heute früh über den Zaun klettern musste, weil sie sie nicht gehört hat. "Wird ihr nicht geschadet haben."
Emma steht auf. Es hat keinen Sinn, das heute zu diskutieren. „Ich finde gut, dass Sie so genau wissen, was Sie wollen und was Sie nicht wollen.“
„Ich bin ja alt genug, um das zu wissen, oder?“
"Sicher. Schön haben Sie es hier“, sagt Emma und streicht über den alten Flügel. "Spielen sie Klavier, Frau Kurz?"
„Ach was. Mein Mann hat gespielt. Nach seinem Tod wollt ich den Flügel der Musikschule schenken.“, sagt sie, „aber die hatten keinen Platz oder kein Interessse, was weiß ich. Also is er dageblieben. Macht eh nix, so a Klavier frisst ja ka Brot.“
testsiegerin - 20. Apr, 15:15
Emma Rogner ist Sachwalterin. Sie ist Mitte vierzig, lebt allein mit ihrer kratzbürstigen Katze und liebt gelegentlich zu zweit mit Männern, die behaupten, Emma wäre noch kratzbürstiger als ihre Katze und die nach wenigen Wochen flüchten.
Judith Blumenthal ist Jüdin. Sie ist Anfang hundert, und geflüchtet ist sie schon oft im Leben. Damals nach Amerika, vor den Nazis. Viele Jahre und drei Ehen später wieder zurück in ihre Heimat. Daheim fühlt sie sich hier trotzdem nicht. Nicht nur wegen der FPÖ-Plakate an der Hauswand gegenüber. Jetzt noch zu flüchten, lohnte sich nicht mehr. Sie hätte auch gar nicht gewusst, wohin.
Frau Blumenthal werde von Tag zu Tag gebrechlicher, leide an beginnender Altersdemenz und verhalte sich zunehmend paranoid, stand im Sachwalterschaftsakt, sie verbarrikaridere sich in ihrer Wohnung und lasse nicht mal mehr die Nachbarin hinein. Die Gutachterin und den Richter auch nicht.
„So eine Überraschung aber auch“, Emma Rogner schüttelte den Kopf, als sie den Akt durchblätterte, „eine Hundertjährige, die ein bissl verwirrt ist. Eine Jüdin, die sich verfolgt fühlt. Was ist das für eine Gesellschaft, in der man nicht mal mit hundert seltsam sein darf, ohne einen Sachwalter zu bekommen?“ Fritz, ihr Lieblingskollege, ein paar Jahre jünger als sie, liebenswert, gelassen und witzig, hatte keine Antwort. Wenigstens brachte er ihr einen Kaffee und ein Stück Marzipanschokolade. „So reg dich doch nicht so auf, das schadet deiner Schönheit.“
Natürlich regte Emma Rogner sich auf. Zorn und Wut auf die herrschenden Verhältnisse, gepaart mit Mitgefühl für die Klienten gaben ihr auch nach zwanzig Jahren in dem Job die nötige Energie für ihre Arbeit. Manchmal überschritt sie ihre Kompetenzen ein wenig, aber immer zum Wohl ihrer Klienten und Klientinnen.
„Warum müssen manchmal zufriedene und geistig fitte Menschen jung sterben und die gebrechlichen, verwirrten werden hundert?“ Emma Rogner dachte an ihre Mutter, die vor ein paar Jahren tödlich verunglückt war.
„Vielleicht haben sie einfach vergessen, dass sie sterben müssen.“
„Du? Wenn ich mal hundert bin?“, fragte sie leise und rieb die Fingerspitzen an den Schläfen, „würdest du dann die Sachwalterschaft für mich übernehmen, damit ich nicht einen arroganten, schnöseligen Rechtsanwalt bekomme, der nur mein Geld will und mich in ein Heim steckt?“
„Welches Geld denn?“
„Na ja, das ich haben werde, wenn ich hundert bin.“
Fritz lachte. „Träum weiter.“
„Also was jetzt? Magst du dann mein Sachwalter sein? Versprich es mir. Bitte.“
„Mit Vorbehalt.“
„Was soll denn das wieder heißen?“
„Na ja, wenn ich mit zweiundneunzig nicht schon selbst einen habe.“
Einen Nachmittag lang saß Emma Rogner auf der Türmatte vor Judith Blumenthals Wohnung. und sprach durch die geschlossene Tür. „Ich kann Sie gut verstehen, Frau Blumenthal“, begann sie, „wenn ich ehrlich bin, ich würde mir an Ihrer Stelle auch nicht aufmachen. Und wenn ich noch ehrlicher bin, dann kann ich mir auch etwas Besseres vorstellen, als hier zu sitzen und mit einer alten Flügeltür zu reden... Ich hätte einen Klienten besuchen können, der sich freut mich zu sehen... Ja, solche gibt es auch... Sogar im verrauchten Kaffeehaus wäre es gemütlicher als hier. Ich hätte mir heute Nachmittag einen richtig guten Film anschauen können, mit Popcorn und Cola light. Mögen Sie Kino?... Ach, egal.“ Emma Rogner kramte in ihrer Tasche nach der Nagelfeile, fand aber nur einen abgekauten Zahnstocher. Sie kratzte damit die Trauerränder aus den Fingernägeln. Mikrowellness im Zinshaus. „Ich hätte auch schwimmen gehen können, war ich schon ziemlich lang nicht und tät mir nicht schaden, wegen der Kreuzschmerzen. Aber was mach ich? Ich sitz hier, lass mich von Ihren Nachbarn für blöd halten und quassle vor mich hin.“ Weil grad kein Nachbar zu sehen war, zog Emma die Socken aus und nahm sich auch die Zehennägel vor. „Es ist nämlich so, Frau Blumenthal. Ich bin für Sie zuständig, das hat das Gericht so entschieden. Ich kann und will Sie natürlich nicht zwingen, mit mir zu reden. Ich schulde nicht den Erfolg, sondern das Bemühen, so steht es im Gesetz. Wem ich das schulde, seht nicht drin. Ich finde, ich bemühe mich redlich, was meinen Sie?... Hm... nichts meinen Sie also.“ Emma hatte keine Ahnung, ob Judith Blumenthal ihr zuhörte. Ob sie schlief. Ob sie überhaupt noch lebte. Irgendwann hatte sie auch keine Zahnstocher mehr.
Nach drei Stunden Selbstgeschwätz und vollendeter Mani- sowie Pediküre taten Emma Gesäß und Beine weh und sie wusste nicht mehr, wie sie sitzen sollte. „Also dann“, rief sie, schlüpfte wieder in Socken und Schuhe und rappelte sich auf, „ich geh dann wohl besser. Meine Katze ist bestimmt schon hungrig... Sie heißt Zora, wie die rote Zora, aber sie ist schwarz.“
Emma war bereits bei der Treppe angelangt, als sie das Scheppern der Türkette und dann das Quietschen der Tür hörte.
„Sie haben auch eine Katze? Mein Kater heißt Bagel.“
Emmas Katze musste sich an diesem Abend gedulden, denn ihr Frauchen verbrachte die nächsten Stunden in Judith Blumenthals Küche. Dafür brachte Emma Zora zum Abendessen Latkes mit, jüdische Kartoffelpuffer.
„Versprechen Sie mir, dass Sie mich nicht in ein Lager stecken?“, fragte Judith Blumenthal zum Abschied und Emma bekam eine Gänsehaut. Das heißt Pflegeheim oder Seniorenresidenz, nicht Lager, wollte sie sagen, aber sie biss sich auf die Zunge. Wenn Frau Blumenthal es so erlebte, würde sie ihr das nicht ausreden können.
Emma zögerte. Konnte sie so etwas tatsächlich versprechen? „Mit Vorbehalt“, sagte sie.
„Wenn Sie mit mir zusammenarbeiten, tue ich alles, was in meiner Macht steht.“
„Frau Blumenthal besitzt etwa ein komma vier Millionen Euro“, erklärte der Bankbeamte Emma, nachdem er den Gerichtsbeschluss dreimal im Kreis gedreht und dann auswendig gelernt hatte. „Angelegt vorwiegend in besicherten Schiffsanleihen, Wertpapieren und in Hybridanleihen.“
„Hybridanleihen?“ Emma verstand nur Bahnhof. Sie kannte sich weder mit Hybridmotoren noch mit Hybridanleihen aus.
„Eine Hybridanleihe ist eine eigenkapitalähnliche, nachrangige Unternehmensanleihe“, machte sich der Bankbeamte wichtig und Emma wäre am liebsten geflüchtet. So richtig wohl fühlte sie sich in Banken nie. Am wenigsten übrigens in ihrer eigenen. Geld war Emma einfach nicht wichtig genug. Und jetzt sollte sie Entscheidungen über ein derart großes, noch dazu fremdes Vermögen treffen.
„Ich möchte gerne alles auflösen und konservativ anlegen.“
Der Gesichtsausdruck des Bankbeamten wandelte sich von einem überheblichen Grinsen zu einem mitleidigen Lächeln. „Woran haben Sie denn gedacht?“
„Ein paar Kapitalsparbücher vielleicht. Und einen Bausparvertrag.“ Das schien ihr sicher. Einen Bausparvertrag hatte sie selbst auch.
„Einen Bausparvertrag mit ein komma vier Millionen, ja?“
„Nein?“
„Der hat eine Laufzeit von sechs Jahren. Glauben Sie tatsächlich, dass Frau Blumenthal so alt wird?“
Wenn du nicht sofort still bist, wirst du selber nicht alt, dachte Emma, lächelte aber verbindlich.
„Warum gibst du den Fall nicht ab?“, fragten die Kollegen sie bei der Teambesprechung. „Die kann sich eh einen Anwalt oder Steuerberater als Sachwalter leisten.“
„Weil Frau Blumenthal kein Fall ist.“ Emma verschränkte die Arme vor dem Körper. Und weil ich ihr etwas versprochen habe, dachte sie. „Und weil... ach nichts“, schwieg sie.
„Lassen Sie doch das Geld, wo es jetzt ist“, riet die Richterin am Telefon, „das ganze Theater mit dem Veranlagen lohnt sich in dem Fall ja ohnehin nicht mehr.“
„Das werden sie über uns auch irgendwann sagen“, rührte Emma in ihrem Kaffee und teilte Fritz das Milchpackerl. „Dass sich irgendetwas nicht mehr lohnt. Ein Urlaub ins Ausland? Ach, das lohnt sich nicht mehr. Ein neues Sofa? Nicht dein Ernst Oma, oder? Ein künstliches Hüftgelenk? Ich bitte Sie, das lohnt sich doch nicht mehr. Und weißt du was, Fritz? Wenn ich ehrlich bin, frag ich mich das ja selber auch oft. Zum Beispiel, ob sich eine neue Beziehung noch lohnt, in meinem Alter.“
Judith Blumenthal hielt ihren Teil der Vereinbarung ein. Sie arbeitete mit Emma zusammen, so gut sie konnte. Murrend öffnete sie die Tür, wenn Emma kam, meistens jedenfalls. „Ich brauch keine Hilfe“ sagte sie als Begrüßung. Murrend zeigte sie ihr die Dokumentenmappe und murrend ließ sie schließlich zu, dass zwei slowakische Pflegerinnen abwechselnd bei ihr wohnten und sie betreuten. Natürlich unterstellte sie den Frauen immer wieder, ihre Unterwäsche zu stehlen oder Milch und Butter im Schuhschrank zu verstecken. Zum Glück verstanden die beiden Frauen ohnehin nur schlecht Deutsch. „Stellen Sie sich vor, die können nicht mal anständigen Gefüllten Fisch kochen“, beschwerte sie sich einmal bei Emma. Die stellte kurzerhand eine jüdische Köchin ein, obwohl sie genau wusste, dass Judith Blumenthal kaum noch etwas aß, schon gar keinen Gefüllten Fisch. Höchstens ein oder zwei Becher Joghurt am Tag, mehr brauchte ihr Körper nicht mehr. Aber Bagel war ziemlich verfressen, und die beiden Slowakinnen auch.
Zu Judiths Blumenthal 103. Geburtstag kamen der Bürgermeister, der Chef der jüdischen Kultusgemeinde und ein paar Herren von der Presse. Die hatten die Rechnung ohne Wirtin gemacht.
„Keine Fotos“, bestimmte die Jubilarin bestimmt und hielt die Hände energisch vor die Objektive wie eine Diva, die von Paparazzi belagert wird, „ich schau auf Bildern immer so alt aus. Außerdem lohnt sich das gar nicht mehr. Scheren Sie sich zum Teufel!“ Judith Blumenthal griff nach ihrem Stock und war drauf und dran, die Fotografen aus der Wohnung zu prügeln. „Die sind eh nur wegen der Latkes da, nicht ihretwegen“, flüsterte Emma ihr ins Ohr und brachte sie zum Lachen.
Zwei Wochen später war Judith Blumenthal tot.
Emma wusste, was zu tun war. Verwandte, die sie hätte verständigen müsste, gab es nicht. Judith Blumenthal hatte sich ein jüdisches Begräbnis gewünscht. Deshalb hatte Emma die Kosten für die Bestattung schon vor zwei Jahren bei der jüdischen Kultusgemeinde eingezahlt.
„Wir brauchen für die Beerdigung noch zehn Männer“, sagte der Rabbiner.
„Oh“, sagte Emma, „mir würde einer reichen.“
Sie würde Fritz fragen, der spielte jeden Donnerstag Fußball, der konnte bestimmt bis morgen zehn athletische Jungs auftreiben.
„Nicht irgendwelche Männer“, sagte der Rabbiner „für eine jüdische Beschneidung, einen jüdischen Gottesdienst und eine jüdische Beerdigung braucht es zehn jüdische Männer.“
„Und wo nehm ich die her?“
„Wir können die gerne für sie organisieren. Aber das kostet halt extra, Frau Rogner.“
„Du darfst kein Geld mehr von ihrem Konto beheben, das weißt du genau. Die Sachwalterschaft endet mit dem Tod. Wer betont das ständig?“ Fritz ging im Besprechungsraum auf und ab. Sie hatte ihn selten so wütend erlebt.
„Dann zahl ich die zehn Kerle halt von meinem Geld.“
„Bist du übergeschnappt? Das ist völlig unprofessionell.“
„Ich weiß. Dann sollen sie mich halt hinausschmeißen.“
„Ach, Emma. Du hast in den letzten Jahren alles für sie getan. Vor allem hast du ihr den wichtigsten Wunsch erfüllt, nämlich den, zu Hause zu sterben. Was spielt es jetzt noch für eine Rolle, ob da zehn jüdische Jungs in der Leichenhalle beten? Das kann dir doch scheißegal sein.“
„Ist es aber nicht. Das bin ich ihr schuldig.“
„Warum?“
Emma schossen die Tränen in die Augen. „Weil...“, sie schüttelte den Kopf, „darüber kann ich nicht reden.“
„Komm mal her“, Fritz drückte sie an sich und ließ sich sein neues Hemd vollrotzen. Ganz unprofessionell.
Am Grab standen Emma, die jüdische Köchin und die beiden slowakischen Frauen. In dem Katzenkorb, der zu Emmas Füßen stand, trauerte Bagel. Hoffentlich würde Zora wenigstens halbwegs nett zu ihm sein.
testsiegerin - 16. Apr, 21:51
Jetzt lass mich bitte mal ausreden. Immer redest du mir dazwischen. Genau wie dem Papa. Ja, ich weiß, dass du dich schämst wegen der Polizei im Haus. Und wegen der Nachbarn. Nun hör doch bitte mal zu, Mama. Wenigstens fünf Minuten. Ja, von mir aus stell die Uhr.
Ich hab’s auch für uns getan, Mama, weißt du? Und für Arnold. Ich wollte, dass wenigstens er einmal Erster wird und du einen Grund hast stolz zu sein. Nicht immer erster Verlierer, so wie ich. Ich hab doch gemerkt, wie sehr es dich gekränkt hat, dass sie diese Fot...diese... diese... Steiner gewählt haben statt mich. Eine Frau als Obmann, wo gibt’s denn so was.
Und ich bin Obmannstellvertreter. Stellvertreter. Wer hat denn all die Jahre den Verein nach vorne gebracht, Mama? Wer war das denn? Sogar der Bezirkssekretär hat mir das gesagt. Erwin, hat er zu mir gesagt, Erwin, in den anderen Ortsvereinen reden sie alle nur von dir. Und dass wir jetzt den Zuschlag für den Bezirksbewerb bekommen haben, das ist doch nicht der Steiner ihr Verdienst, ihrer.
Undankbare Gfraster. Wahrscheinlich hätte unser Arnold gegen Jessy und Jenny eh keine Chance gehabt. Du hättest sehen sollen, wie die aufgeputzt waren, widerlich war das. Widerlich. Richtig nuttig haben sie ausgeschaut, und alle haben sie süß gefunden mit ihren Piepsstimmchen. Der Arnold ist sowieso zu fett für den Bewerb, hat der Huber gesagt. Der braucht reden mit seinem Backhendlfriedhof. Ach, ein abgekartetes Spiel war das, das hab ich schon seit Wochen gemerkt. Die Steiner und der Huber, die haben doch seit Jahren ein Techtelmechtel, wahrscheinlich treiben sie es immer nach der Sitzung. Dass das die Alte vom Huber nicht merkt, das will mir nicht in den Kopf, aber das soll meine Sorge auch nicht sein. Jedenfalls ist der Arnold richtig durchtrainiert, der rackert sich ja auch Tag und Nacht ab mit seinem Radl.
Ich musste es tun, Mama, es war wie... wie ein... wie ein Zwang irgendwie. Und sie haben’s ja auch verdient. Hör auf zu weinen, Mama, die Caritas wird sich um dich kümmern, wenn ich nicht mehr da bin. Warum ich die anderen auch...?
Ich weiß nicht, der Druck in der Brust war so groß. Alles, was sich aufgestaut hat, die ganze Wut, die Demütigungen, das musste einfach mal raus. Jetzt ist es vorbei. Und weißt was, Mama, weißt was, mir geht’s gut dabei. Auch jetzt noch. Und besonders als ich es getan hab. Die Jessy und die Jenny, die waren zuletzt dran. Die sollten das alles mit ansehen. Einen nach dem anderen hab ich abgemurkst. Mit bloßen Händen. Mit meinen bloßen Händen. Du hättest sehen sollen, wie die kleinen Körper gezuckt haben unter meinen Händen. Und weißt, was ich gefühlt hab dabei, Mama? Nichts hab ich gefühlt. Gar nichts.
Den Verein werden sie jetzt sicher auflösen. Und wenn es keinen Verein mehr gibt, kann die Steiner auch nicht mehr Obmann sein. Das geschieht ihr recht.
Ich muss jetzt runter, Mama, die Polizei wartet auf mich, ich wollte mich nur noch verabschieden von dir und ein paar Sachen holen. Ist mein Pyjama schon gewaschen?
Und kümmere dich bitte um den Arnold. Er kann ja nichts dafür. Der liebe gute Arnie. Aber lass ihn nicht raus, sonst entwischt er dir. Du hast so schlechte Augen, Mama. Am Ende verhungert er dir. Ach so, ja. Im Keller, im großen weißen Schrank. Ganz rechts unten, gleich neben den Schachteln mit den Autogrammkarten, da steht das Hamsterfutter.
testsiegerin - 15. Nov, 14:57
„Igitt!“ Grete Zwieschneider war nicht angezogen, um bei acht Grad und Nieselregen an einer gehweglosen Landstraße entlang zu wandern. Grete Zwieschneider war angezogen, um bei achtzehn Grad und leicht bewölktem Himmel mit ihrem Volvo durch den goldenen Oktober zu fahren. Aber im Waldviertel interessierte sich das Wetter nicht für die Vorhersagen der Meteorologen in Wien. Und Gretes Volvo interessierte sich nicht dafür, dass seine Besitzerin ihm erst vor drei Tagen für den Einsatz von achthundert Euro ein neues Pickerl ermöglicht hatte. Er hatte einfach ein paar Mal geächzt und war dann lautlos stehen geblieben.
Zwettl 11 km stand auf dem Wegweiser. Und klein darunter: Ratschenreithsgschwendt 1 km. Gretes Füße schmerzten, aber ein Funken Hoffnung leuchtete auf.
Ihr Handy hatte sie auf der Kommode liegen lassen. Sie wollte nicht erreichbar sein, vor allem nicht für Tom. Er hatte sich seit genau zehn Tagen nicht gemeldet. Sollte er ruhig auch einmal das Gefühl haben, dass sie nicht auf seinen Anruf wartete.
Seit neun Jahren ging das nun schon so. Er kam, wann er wollte, er ging, wann er wollte, und manchmal, wenn sie Glück hatten, kamen sie gemeinsam. Vielleicht hatte sie ihn deshalb noch nicht aus ihrem Leben geschmissen. Dabei hatte sie den Verdacht, dass sie nicht die einzige war, mit der er gemeinsam kam.
Auf ihrem Weg nach Ratschenreithsgschwendt kam kein einziges Auto. Das war Grete auch Recht, denn vorbei rauschende Autos hinterlassen im Nieselregen feuchte, stinkende Wolken und versauen einem die roten Stiefel, den dunklen Rock und die helle Bluse. Und die Achtzig-Euro-Frisur. Sie hatte sich richtig in Schale geschmissen, um den Herrschaften von der Pharmaline Austria nicht den Eindruck zu vermitteln, Frau Apothekerin Zwieschneider hätte das Geld nötig. Natürlich hatte sie es nötig, schließlich besaß sie keinen blassen Schimmer, womit sie Geld verdienen sollte, wenn sie die Apotheke erst verkauft hatte. Hoffentlich gab es in diesem Ratschendings wenigstens eine öffentliche Telefonzelle, damit sie in Salzburg anrufen konnte. Jetzt waren es nur noch etwa hundert Meter bis zum Ortsschild. Von hinten rollte ein Auto heran. Sie bereitete sich auf eine Schmutzwasserwolke vor, hörte dann aber eine Männerstimme von hinten: „Soll ich Sie ein Stückerl mitnehmen?“
„Gern.“ Sie stieg in den dunkelblauen Audi und gab dem Mann mit den hellgrünen Augen die Hand. „Guten Tag. Ich hatte eine Autopanne. Gibt es in Ratschendingsbums eine Werkstätte?“
Er lachte.
„Ein Gasthaus?“ Ihr Magen knurrte.
Er lachte.
„Eine Telefonzelle?“
„Keine, die noch funktioniert.“ Er reichte ihr sein Handy, aber sie griff nicht danach. Er steckte es wieder in die Brusttasche seiner Arbeitsjacke.
„Sind Sie von hier?“, versuchte Grete sich im Small Talk.
„Wie man’s nimmt.“ Der Small Talk blieb sehr small.
Grete betrachtete ihn. Das Blau seines Audis passte nicht zum Grün seiner Augen. Die Lagerhausjacke nicht zu den Ledersitzen. Seine lachenden Lippen nicht zum Rest seines ernsten Gesichts. Nichts an ihm passte zusammen.
„Sind Sie Bauer?“
„Wie man’s nimmt.“
Der Audi stoppte und der ebenso fraglich Einheimische wie Bauer nickte stumm nach links. Das bedeutete vermutlich, dass sie das Ortszentrum erreicht hatten und alle Fahrgäste aussteigen sollten.
„Den allerherzlichsten Dank, der Herr“, versuchte es Grete noch einmal, ohne ernsthaft mit einer Antwort zu rechnen.
„Schupf“, kam es aus dem Wagen, als sie gerade im Begriff war, die Türe zu schließen.
„Angenehm“, murmelte sie, nachdem sie beinahe Gesundheit gewünscht hätte.
„Heinz Schupf.“
„Grete Zwieschneider.“
„Da drüben.“ Er nickte wieder, diesmal nach rechts.
„Ja?“
„Der repariert Autos.“
Dieses Augengrün. Dieses Grübchen an seinem Kinn. „Interessant.“ Grete hatte es plötzlich gar nicht mehr eilig. Hungrig war sie noch immer. Sie stieg wieder ein und zog die Tür hinter sich zu. „Gehen wir vorher noch eine Kleinigkeit essen? Ich lade Sie ein.“
Er winkte dem Mechaniker zu und stieg aufs Gas, was Grete als „Ja, gern“ interpretierte. Schweigend fuhren sie aus dem Ort hinaus. Bei der nächsten Abzweigung bog Heinz Schupf ab und ließ den neuen Audi vor einem alten Bauernhof ausrollen.
Grete folgte dem schweigsamen Mann in die Küche. Die war ebenso karg und herb wie die Waldviertler Landschaft, deren Wesen sich nicht auf den ersten Blick erschloss. Wenigstens warm war es hier drinnen, denn im Küchenofen knisterte ein Feuer.
Er öffnete den Kühlschrank. „Bitte.“
Grete war sich nicht ganz sicher, wie sie dieses „Bitte“ verstehen sollte. Der Kühlschrank war so armselig befüllt, dass sie annahm, Heinz Schupf habe sie soeben um eine Lebensmittelspende gebeten.
„Ich bin kurz im Keller und Sie räumen derweil aus. Stellen Sie alles auf den Küchentisch.“
Sie tat, wie ihr geheißen und verteilte den Inhalt des Kühlschranks auf dem riesigen dunklen Eichentisch, der den Eindruck machte, als habe er schon so manchen Krieg überstanden. Unter anderem den Dreißigjährigen.
„Nun denn. Was haben wir denn da? Ein halbes Packerl Butter. Also fast ein halbes Packerl. Ein Ei, immerhin ein ganzes. Ein Stückerl Käse, allerdings mit Löchern. Mit großen Löchern. Und...“
„Und?“
„Drei Flaschen Grüner Veltliner Smaragd Loibner Berg. Vom Pichler. Die Flasche für vierzig Euro, schätz ich mal. Nobel geht die Welt zugrunde. Haben Sie den für eine besondere Gelegenheit eingekühlt?“
Er stellte die Kiste gefüllt mit Kürbis, Mangold, Zwiebeln und Kartoffeln auf den Tisch, öffnete die Schublade und reichte ihr den Korkenzieher. Dann schob er ein Stück Buchenholz in den Ofen, lehnte sich an den Türstock und beobachtete, wie sie in allen Schränken nach Gläsern suchte und im letzten welche fand.
Sie ließ den Wein im Glas kreisen und atmete seinen Duft ein, wie sie es im Weinseminar gelernt hatte. Er roch nach Mangos, Honig und einem Stück geräuchertem Scheunentor. Sie prostete ihm zu, setzte das Glas an die Lippen und kostete.
„Und?“, fragte er.
„Zurückhaltend, elegant und verschlossen.“
Er prostete zurück, leerte sein Glas in einem Zug und schaute sie aufmunternd an.
Nun denn, dachte Grete, wenn es hier so Brauch ist. Sie setzte erneut an und tat es ihm gleich.
„Schmeckt, gell?“
In der Tat. Ein guter Wein schmeckte offensichtlich auch, wenn man ihm hinunterkippte wie ein Verdurstender einen Kübel Wasser. Allerdings keineswegs mehr zurückhaltend oder elegant. Heinz schüttete nach, und nur zehn Minuten später hatten sie die erste Flasche ausgetrunken.
„Ganz schön warm, der Ofen.“ Sie knipste sich zwei Blätter vom Mangold ab und fächerte sich damit Luft zu.
Er öffnete die zweite Flasche.
„Aber ich muss doch nach Salzburg“, protestierte sie schwach, hielt ihm aber das Glas hin, damit er einschenken konnte.
„Ja, ja.“
„Ich muss dort nämlich meine Apotheke verkaufen.“
„Sicher. Stellen Sie erst mal die Erdäpfel auf.“
„Ha!“ Sie drehte sich abrupt zu ihm und wäre in ihren roten Stiefeln beinahe umgekippt. „Ich weiß, wo der Topf ist.“ Mit viel Glück fand sie auch die Wasserleitung und den Deckel. Es zischte, als sie den gusseisernen Topf mit den Kartoffeln auf den Ofen stellte. Er war jetzt ganz nah hinter ihr. „In Salzburg habe ich studiert. Betriebswirtschaft.“
„Großartig. Wissen Sie vielleicht, wo die Bergheimer Straße ist?“
„Ja, das weiß ich.“
„Ausgezeichnet. Da muss ich um vierzehn Uhr sein. Bringen Sie mich hin?“
„Grundsätzlich gern. Aber erstens hab ich soeben eine halbe Flasche Veltliner getrunken und zweitens ist es schon viertel zwei.“
„Du lieber Himmel. Haben Sie ein Telefon?“
„Nein.“
Sie konnte seinen Atem an ihrem Hals spüren. Sie konnte ihr Herz in ihrem Hals klopfen spüren. „Nun denn. Möchten Sie zufällig eine Apotheke kaufen?“
„Nicht heute.“
Grete rührte sich nicht. Bei einer Bewegung nach vorne würde sie sich am Ofen verbrennen, bei einem Schritt nach hinten an einem spröden, promovierten Bauern. Sie hätte zur Seite ausweichen können, aber selbst das ging aus irgendeinem Grund nicht. Vielleicht hatte er ihr etwas in den Wein gemischt.
„Was essen wir zu den Kartoffeln?“, presste sie hervor.
„Ihre Entscheidung. Sie wollten mich zum Essen einladen, nicht ich Sie.“
„Wie soll ich kochen, wenn Sie mir den Weg verstellen?“
Er zuckte mit den Achseln und trat einen Schritt zur Seite. Leider, denn die Kombination aus dem offenem Wachauer Wein und dem verschlossenen Waldviertler Wesen erregte sie. Sie nahm das Gemüse aus der Kiste und legte es Stück für Stück auf den Holztisch. Eine Zwiebel kullerte zu Boden. Langsam und so aufregend wie möglich bückte sie sich um sie aufzuheben. Anscheinend war so aufregend wie möglich aufregend genug, denn sie spürte, wie sich seine grünen Augen auf ihren Po hefteten. Sie drehte sich um, zog die Augenbrauen hoch und schaute ihn herausfordernd an. Mit seinem Mittelfinger gab er einer weiteren Zwiebel einen Schubs. Schwerfällig rollte sie auf die Tischkante zu und fiel mit einem dumpfen Ton hinunter.
„Noch mal“, sagte er.
Das gefällt dir wohl, dachte Grete, und es gefiel ihr, dass es ihm gefiel. Sie achtete sorgfältig darauf, dass ihr Rock jetzt ein paar Zentimeter höher rutschte, spreizte die Beine etwas mehr als beim ersten Mal und hob langsam, ganz langsam die Zwiebel auf, legte sie artig auf ihren Platz zurück, drehte sich um und lehnte sich gegen die Tischkante.
Heinz stand ihr jetzt etwa drei Schritte entfernt gegenüber und sie genoss seinen Blick, der langsam von ihren Füßen aufwärts über ihren Körper glitt. Zwischen ihren Schenkeln verweilte er ein bisschen, und sie spürte, wie es unter ihrem Rock ganz warm wurde.
„Heiß hier“, sagte sie leise, und als er ihre Brüste erreichte, fasste sie sich an den obersten Knopf und öffnete ihn.
„Weiter“, sagte er nach einer unendlich langen Zeit, und Grete machte weiter. Öffnete Knopf für Knopf. Ließ ihn dabei nicht aus den Augen. Und überlegte, welche Unterwäsche sie wohl heute Morgen angezogen hatten. Hoffentlich passte die zu den roten Stiefeln.
Er zog seine Jacke aus und warf sie auf die Eckbank. Darunter trug er ein schwarzes T-Shirt mit der knappen Aufschrift Ich kann. Daran zweifelte sie keineswegs. Sie senkte den Blick. Seine ausgewaschenen Jeans waren zum Knöpfen. Sehr schön, dachte sie.
„Sie auch“, legte er zwei Worte und zwei Stück Holz nach.
„Ja. Ich kann auch.“ Sie schlüpfte aus der Bluse und stand in Rock und cremefarbenem Spitzen-BH vor ihm. Trotz der Hitze zitterte sie und hatte einen trockenen Mund. „Dürfte ich vielleicht noch ein Schlückchen Wein haben?“
Sie durfte.
„Kochen Sie weiter, sonst verhungern wir noch.“
„Gern.“ Sie tat jetzt einfach so, als wäre es das Natürlichste auf der Welt, halbnackt in einem fremden Waldviertler Bauernhaus für einen fremden Waldviertler zu kochen. Und irgendwie war es plötzlich auch das Natürlichste auf der Welt. Sie häutete die Zwiebel und schnitt sie konzentriert in kleine Stücke. „Ganz schön scharf.“ Mit dem Handrücken wischte sie sich die Tränen aus den Augenwinkeln und griff nach dem Kürbis. „Haben Sie als Bauer denn gar kein Fleisch im Haus?“
„Doch. Es schält gerade einen Hokkaido.“
Grete fand, dass es gar kein schlechtes Gefühl war, so ein Stück Fleisch zu sein. Er zog einen Stuhl heran, setzte sich rittlings drauf, stützte seine Hände an der Lehne ab und beobachtete sie beim Aushöhlen des Kürbisses.
„Dürfen es auch ein paar Kilo mehr sein?“, fragte Grete. Sein Schweigen wertete sie als stumme Zustimmung. Sie öffnete Knopf und Reißverschluss am Rock und wandte sich wieder dem Kürbis zu. Während sie schälte, rutschte der Stoff nach und nach an ihr herunter und gab die versprochenen Kilos preis. So stand sie ein paar Minuten mit halb herunter gelassenem Rock am Küchentisch und legte das nackte Fruchtfleisch frei.
Als sie fertig war, drehte sie sich zu ihm um und wischte ihre feuchten Finger über ihren Brüsten trocken. „Ganz schön glitschig.“
„Der Kürbis auch?“
„Ja. Und hart.“
„Ja. Ist er.“
„Können Sie so lieb sein und den Rock ganz hinunterziehen? ich möchte nicht, dass er schmutzig wird. Ich muss ja schließlich noch nach Salzburg. Hab ich das schon erwähnt?“ Sie nahm noch einen Schluck Wein, der sie trunken und mutig machte.
„Ja. Ich kann.“ Sie wusste nicht, ob der Wein ihn mutig machte, auf jeden Fall machte er ihn nicht gesprächiger.
„Würden Sie bitte auch?“ Noch nie hatte sie einen Mann darum bitten müssen, ihr aus den Kleidern zu helfen, aber gerade das reizte sie.
Heinz stand auf, blieb kurz vor ihr stehen und gab dem Rock mit dem Zeigefinger einen kleinen Stups nach unten.
Sie bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung, ihn auf die Bank zu legen, er dagegen schob ihn einfach mit dem Fuß unter den Tisch.
Hoffentlich ist der Boden sauber, dachte sie und musste zugeben, dass selbst ein seit Wochen ungekehrter Boden reiner als ihre Phantasien wäre.
Sie war sich ganz sicher, dass seine Gedanken im Moment nicht weniger schmutzig waren als ihre eigenen, er machte aber weiterhin keine Anstalten sie durch Worte oder Taten daran teilhaben zu lassen. So elegant wie es ihr in angetrunkenem Zustand möglich war setzte sie sich auf die Tischplatte, die ein wenig feucht vom Kürbis war und spreizte einladend ihre Beine. Jetzt komm endlich näher, du sturer Bock, dachte sie, und tatsächlich gehorchte er ihr. Als sich sein Becken langsam zwischen ihre Schenkel drängte, schrie sie auf.
„Die Erdäpfel! Sie brennen an! Nehmen Sie bitte den Topf vom Herd!“
„Kochen ist Ihre Aufgabe.“
Er packte sie fest an den Hüften, so dass es ihr ein bisschen wehtat, und hob sie mit seinen kräftigen Händen vom Tisch. Mit weichen Knien torkelte sie zum brodelnden Topf und stellte ihn beiseite.
„Hmmm. Die riechen gut. Haben Sie die mit Ihren eigenen Händen aus der Erde geholt?“
„Ja. Mit wessen Händen denn sonst?“
„Hoffentlich haben sie die armen Erdäpfel dabei nicht genauso grob angefasst wie mich eben.“ Sie hoffte das weniger aus Mitleid als aus Eifersucht und wünschte sich, dass er gleich wieder so zugriff.
Diesen Gefallen tat er ihr natürlich nicht. „Steht auf ihrer Unterhose eigentlich auch Ich kann?", fragte sie, streifte ihn beim Vorbeigehen mit der Hand am Oberarm und fing an den Kürbis zu schneiden und den Mangold von den Stielen zu zupfen.
„Vielleicht?“
„Zeigen Sie doch mal.“
„Schauen Sie doch selber nach.“
Das ließ Grete sich nicht zweimal sagen. Sie wischte sich die feuchten Hände an seinem Shirt ab und knöpfte seine Jeans auf, sorgsam darauf bedacht, nur den Stoff und nicht den Körper darunter zu berühren. Als sie alle fünf Knöpfe geöffnet hatte, zog sie die Hose über seine Hüfte.
„Ich sehe nichts.“ In Wahrheit sah sie sehr wohl etwas. Etwas, das ihr sehr gefiel. Aber keine Wörter.
„Vielleicht steht es auf der Innenseite.“
„Oh ja. Da steht tatsächlich etwas.“ Sie ging in die Knie.
„Können Sie lesen?“
„Grundsätzlich ja. Aber es ist zu dunkel hier. Und außerdem ist es verdammt heiß. Darf ich ein bisschen blasen?“
Er sagte wenigstens nicht Nein. Also blies sie. Ganz sanft. Ganz behutsam.
„Wird es schon etwas weniger heiß?“, fragte sie besorgt.
„Nein. So wird die Glut noch mehr angefacht.“
Das hatte Grete auch schon gemerkt. Das Feuer wärmte ihre Hände und Lippen. Trotzdem fragte sie: „Soll ich versuchen zu löschen?“
Sie nahm einen Schluck Veltliner und begann mit den Löscharbeiten. Grete mochte eine erstklassige Apothekerin sein, aber sie war eine lausige Feuerwehrfrau, denn trotz aller Bemühungen hatte sie das Gefühl, nur Öl ins Feuer zu gießen.
*
„Hmmm.“
„Schmeckt’s?“
„Ja.“ Er führte die Gabel mit dem Kartoffel-Kürbis-Mangold-Auflauf zum Mund. „Und Ihnen?“
„Ja.“ Sie hatte sein T-Shirt an, das sie ihm nach dem Sex abgeluchst hatte. „Wie Sie sehen, kann ich nämlich auch... kochen.“
„Nicht nur das können Sie.“
„Grete“, sie griff nach dem Weinglas und ließ es gegen seines klingen.
„Ich weiß.“
Sie tranken jetzt langsam. Sie aßen langsam. Sie schauten sich langsam in die Augen. Und draußen wurde es langsam dunkel.
Grete würde morgen nach Salzburg fahren. Oder übermorgen. Oder gar nicht. Sie wusste plötzlich nicht mehr, ob sie die Apotheke tatsächlich aufgeben sollte. Was sie mit ihrer Zukunft anfangen sollte. Sie wusste nur, wie sie die heutige Nacht verbringen wollte. An den schweigsamen Heinz geschmiegt.
„Kannst du noch bleiben?“, hatte er gefragt und sie hatte wortlos geantwortet: „Ich kann.“
testsiegerin - 4. Nov, 21:19
Den Text hab ich für die Lesung anlässlich der Tagung in Deutschland geschrieben. Für Uneingeweihte ist er wahrscheinlich schwer verständlich. Trotzdem.
Die dort mochten ihn.
„Und was machen Sie beruflich?“, fragt der freundliche Herr neben mir, nachdem wir die Themen Wetter, Politik und Flugzeugkost hinter uns gebracht haben.
„Ich bin Sachwalterin“, sage ich und denke: Warum bin ich nicht Floristin geworden, oder Automechanikerin? Jeder wüsste, was das ist und ich müsste mich nicht ständig erklären.
„Aha. Sachbearbeiterin. Welche Branche?“
Ich hab’s geahnt. „Keine Branche.“
Jetzt schaut er beleidigt.
„Nicht Sachbearbeiterin“, lenke ich versöhnlich ein, „Sachwalterin.“
„Oh. Sachverwalterin.“ Sein Blick verrät mir seine Ahnungslosigkeit. „Und was genau verwalten Sie?“
Ja, was verwalte ich eigentlich?
Menschen, denke ich. Ich verwalte Menschen. Und den Wahnsinn. Vor allem den. Ich achte darauf, dass er nicht über die Grenzbalken hüpft, um die Kreise derer, die nicht verrückt sind oder nur ein bisschen oder anders, so wenig wie möglich zu stören.
„Ich verwalte den Wahnsinn“, sage ich.
Er lächelt verlegen. „Ich verstehe“, lügen seine Lippen, aber seine Augen erzählen mir die Wahrheit. Nämlich die, dass er mich für verrückt hält.
Weil ich jemanden brauche, der nach der Landung meine schwere Tasche aus dem Gepäckfach hebt und ich ihn deshalb nicht vergrämen will, versuche ich es noch einmal.
„Um ehrlich zu sein, ich verwalte weder Sachen, noch den Wahnsinn.“
„Was dann?“
„Ich verwalte gar nichts. Ich bin Sachwalterin, nicht Sachverwalterin. Ich walte sach. Ähm... ich sachwalte... nun ja... Ich walte meiner Sache“, nicke ich und hoffe, dass er mit dieser Erklärung zufrieden ist. Ich bin es. Aber der Herr ist ein neugieriger und hartnäckiger Mensch. „Jetzt machen Sie es doch nicht so spannend. Welcher Sache walten Sie denn nun?“
Ich kratze mich am Kopf. „Puh, das ist nicht so einfach zu erklären. Viele Sachen, eigentlich. Ich arbeite bei VertretungsNetz.“
Jetzt kommen wir der Sache schon näher, verrät sein Lächeln. „Sie sind also Vertreterin.“
Na ja, fast richtig, wenn meine Kollegin auf Urlaub ist, dann vertrete ich sie. „Ja. So kann man sagen.“ Lassen Sie uns doch bitte das Thema wechseln, flehe ich leise.
„Warum sagen Sie das denn nicht gleich. Vertreterin zu sein ist ja keine Schande. Ich dachte schon, Sie wären Politikerin oder Polizistin oder etwas ähnlich Unanständiges. Sie vertreiben also Netze? Ich habe geglaubt, es gibt in Österreich gar kein Meer mehr?“
„Daran hat sich nichts vermutlich auch in der letzten halben Stunde nichts geändert. Wenn Sie mich bitte entschuldigen“, quetsche ich mich an ihm vorbei. „Ich muss kurz vertreten. Meine Füße.“
Er grinst. Die Deutschen sind leicht zu unterhalten.
Als ich zurückkomme, nehme ich einen neuen Anlauf. „Ich bin gesetzliche Vertreterin von psychisch kranken und geistig behinderten Menschen, die einzelne oder alle ihrer Angelegenheiten nicht regeln können, ohne dabei Schaden zu erleiden.“
Ich atme durch.
Er klopft sich freudig erregt auf die Oberschenkel. So hat noch keiner auf meinen Beruf reagiert. Vielleicht ist der Kerl neben mir ein bisschen pervers und ich bin in großer Gefahr. „Sie sind also Betreuerin!“, hellt sich sein Gesicht auf.
„Definitiv nicht. Ich betreue nicht, ich vertrete.“ So, Schluss mit lustig. Ich drehe den Spieß jetzt einfach um.
„Und wovon leben Sie?“
„Ich bin auch Betreuer.“
„Aber ich nicht, verdammt noch mal“, meine Geduld sprintet in die Zielgerade. „Ich habe einen Betreuer. Auf meiner Weinviertler Hausbank. Also jetzt nicht auf der alten Holzbank vor dem Haus, auf der ich mich von meiner anstrengenden Arbeit ausruhe, sondern auf der Sparkasse. Ein schwieriger Mensch, mein Betreuer. Er will ständig Geld von mir.“
Das scheint ihm vertraut. „Meine Klienten wollen auch immer Geld von mir.“
„Klienten? Ich dachte, Leute, die Sparbücher eröffnen oder Kredite aufnehmen, nennt man bei Ihnen Kunden? Oder Patienten.“
„Ich bin ja kein Bankbetreuer.“
„Fußballschülerliga? Na, da sitzen Sie wahrscheinlich auch oft auf der Bank. Auf der Betreuerbank.“ Obwohl, betrachte ich ihn von der Seite, für den Job hat er eigentlich ein paar Schwimmreifen zu viel. „Seniorenbetreuer?“ Die Alten laufen wenigstens nicht mehr so schnell.
„Ein Betreuer“, stöhnt er jetzt, ein wenig gereizt, „ist ein gesetzlicher Vertreter von Volljährigen, die für ihre eigenen Angelegenheiten nicht sorgen können.“
Jetzt reicht es mir. „Auf Wiedersehen. Verarschen kann ich mich auch alleine. Und mein Gepäck krieg ich schon irgendwie runter.“
testsiegerin - 25. Mai, 22:30
Hannah ging in die Autorenfabrik, wie jeden Tag. Dort war sie in der Produktion beschäftigt und schraubte Autoren zusammen. Große, kleine, langweilige, bekannte und unbekannte, zweifelnde und von sich selbst überzeugte. Von letzteren die meisten.
Es war ein langweiliger Job, Fließbandarbeit eben, aber Hannah war froh, dass sie überhaupt noch eine Arbeit hatte. Die Firma, in der ihre Freundin mit der luftdichten Verpackung von Glücksmomenten beschäftigt war, musste vor ein paar Monaten Konkurs anmelden. „Dabei bräuchten die Menschen gerade jetzt Glück“, sagte Hannah, „aber sie können es sich nicht mehr leisten.“
Während Hannah schraubte, drechselte, zusammensteckte und polierte, redete sie. Sie erzählte den Autoren Geschichten. Geschichten, die ihre Mutter ihr erzählt hatte, und diese wiederum hatte die Geschichten von der eigenen Mutter und so fort. Auch Hannahs Urgroßmutter war in der Autorenfabrik beschäftigt. Dort lernte sie alle ihre sieben Männer kennen. Dort tötete sie alle ihre sieben Männer. „Ein Unfall“, erzählte sie der kleinen Hannah später augenzwinkernd, „leider sind sie irgendwann einer nach dem anderen in die Druckmaschine geraten. Ich konnte gar nichts dagegen tun.“ Bevor sie - im Alter von achtundneunzig Jahren - ihre blitzblauen Augen für immer schloss, hatte sie ihrer Urenkelin noch einen Rat mit auf den Weg gegeben: „Verlieb dich nie in einen Kerl, an dem du eigenhändig herumgeschraubt hast“.
Von Montag bis Freitag, in Hochzeiten sogar samstags, schraubte sie ihre Erfahrungen, Gedanken und Träume in die Köpfe der Autoren, die später daraus Geschichten machten. Manchmal allerdings war Hannah bei ihrer eintönigen Arbeit nicht bei der Sache, ihre Gedanken schweiften und ihre Hände rutschten ab, die Worte kamen durcheinander und sie feilte ein paar Ecken und Kanten in die Autoren. Das passierte ihr in letzter Zeit immer öfter. Diese Autoren waren die spannendsten und skurrilsten. Beinahe hätte Hannah sich in einen von ihnen verliebt, einen Finnen mit elfenbeinküstiger Mutter, der in der Sahara eine Saunalandschaft betrieb, erinnerte sich aber gerade noch rechtzeitig an das Schicksal der Ehemänner ihrer Urgroßmutter und an den Rat der alten Frau. Deshalb schickt sie ihren Elfenbeinkusstiger trotz brennenden Unterleibs und pochenden Blutes in die Wüste.
Die Bücher des Elfenbeinkusstigers und aller anderen wunderbaren und spannenden Autoren jedoch wurden zu Ladenhütern, weshalb Hannahs Chef sie eines Tages – es war ein Mittwoch – zu sich ins Büro rief.
„Sie wissen, ich schätze Ihre Arbeit sehr“, sagte er, „aber den Menschen ist zu kompliziert, was diese Autoren produzieren. Erinnern Sie sich an Uwe Tellkamp? Da haben sie sich anscheinend in einen Wahn geschraubt, genauso verschraubt klang dann auch der Turm. Nun gut, zum Glück gibt es ein paar Intellektuelle, die solche Bücher für ihre Regale erstehen, aber gerade in Zeiten der Krise haben die Menschen eine Sehnsucht nach dem Einfachen. Nach Autoren, die überhaupt nichts von Literatur verstehen, am besten auch nichts von Fußball und Musik, wie Oliver Kahn oder der... wie hieß er gleich noch mal?... ah ja... Bohlen. Diese Beiden haben sich wie warme Semmeln.“
Hannah lachte und dachte an den Tag, an dem sie Dieter zusammengeschraubt hatte. Diesem Tag war eine Nacht mit einer aufregenden Frau und dreiundzwanzig Gläsern Tequila vorausgegangen. Kein einziges Rädchen hatte sie an die richtige Stelle gelötet, keine einzige Mutter gerade auf den Dübel geschraubt.
„Es. tut. mir. leid“, stotterte der Geschäftsführer fort, „aber die Krise zwingt uns...“
Hannah lächelte und bedeutete ihm mit dem Zeigefinger auf ihren Lippen zu schweigen. Sie ließ den Schraubenzieher fallen, packte ihre Habseligkeiten zusammen und ging zum Fabriktor hinaus.
Draußen – es regnete gerade Langeweile - schüttelte sie den Staub der Wörter von ihrer Jacke, schnallte sich die Phantasie auf den Rücken und flog davon.
testsiegerin - 22. Mai, 19:01
Die Telefonrechnung von Herrn Gruber war höher als Emma Rogners Werkstattrechnung. Und die Werkstattrechnung von Emma Rogner war höher als der monatliche Gehalt der Billa-Kassiererin.
Emma tippte die Zahlen in den Taschenrechner und wusste nicht, wie sie das bezahlen sollte. Weder die Telefonrechnung ihres Klienten noch ihre Werkstattrechnung.
„Ich hab eine neue Freundin“, hatte er das letzte Mal strahlend erzählt. „Das ist ja ganz wunderbar!“, gratulierte sie ihm ebenso strahlend und hoffte für und mit ihm, dass die Neue starke Nerven hatte. Starke Nerven, unendliche Geduld und ein prall gefülltes Bankkonto. „Die Svetlana hat gesagt, sie mag meine Mama“, erzählte er Emma bei ihrem letzten Hausbesuch „und die Mama hat gesagt, sie mag die Svetlana.“
„Das ist schön“, hatte Emma gesagt und ihm kein Wort geglaubt.
Die Mama vom Herrn Gruber lag seit vielen Jahren auf dem Friedhof und ihr Sohn legte ihr täglich frische Blumen aufs Grab. Damals, als die Mama nur zum Blumen gießen auf dem Friedhof war, hatte sie keine Frau leiden können, die Herrn Gruber näher kam, nicht mal Emma Rogner. Ob der Tod tatsächlich so viel Macht hatte, das zu ändern?
Emma studierte die Telefonrechnung von Herrn Gruber. Sie gab Details über seine neue, große Beziehung preis.
Die Telefonnummer seiner Flamme begann mit 0900, und sie rief ihn nie, er sie aber umso öfter an. Manchmal ging es ganz schnell, und manchmal schien er ein bisschen länger zu brauchen, was Svetlana bestimmt freute.
Selbst schuld, dachte Emma, denn sie hatte vergessen, die Mehrwertnummern sperren zu lassen. Also musste sie ihm jetzt erklären, dass er sich solche Gespräche mit seinem Einkommen nicht leisten konnte. Sein Einkommen reichte kaum für ein anständiges Auskommen, und schon gar nicht für ein weniger anständiges.
Emma erinnerte sich an ihre sexbesessene Klientin Berta, der sie vor Jahren einen Callboy mit Orgasmusgarantie und Wohnmobil zum Geburtstag geschenkt hatte. Gern hätte sie auch die Wünsche von Herrn Gruber erfüllt, aber dafür reichte das Geld einfach nicht mehr, und auch das Sozialamt war weit weniger spendabel als früher. Gut, damals hatte sie ein bisschen geschwindelt, als sie „Physikalische Anwendungen“ in den Antrag geschrieben und sich dafür Schwierigkeiten mit dem Bezirkshauptmann eingehandelt hatte. Das wollte sie nicht wieder riskieren.
„Herr Gruber“, Emma Rogner zog nervös an ihrer Lucky Strike und bot auch ihrem Klienten eine an, obwohl der Nichtraucher war. Eigentlich gingen sie derart intime Dinge nichts an und sie wollte mit dem Gruber weder über Svetlana noch über Natascha reden, Svetlanas beste Freundin, mit der er hin und wieder telefonierte, wenn Svetlana sich um ihre kranke, russische Mama kümmern musste. „Schauen Sie, Herr Gruber, vielleicht ist es besser, Sie rufen Svetlana nicht mehr an. Sicher ist es besser... zumindest für ihr Konto.“
Scheiß Job, dachte Emma Rogner und beneidete die Billa-Kassiererin. Nicht um ihr Einkommen, aber der blieben zumindest solche Gespräche erspart.
„Aber ich suche doch die große Liebe!“, schluchzte Herr Gruber jetzt bitterlich. „Sie geben mir ja nicht die Liebe, die ich brauche, Frau Rogner!“
Wo er Recht hatte, hatte er Recht.
„Tut mir leid, das gehört nicht zu meinem Aufgabenkreis“, sagte Emma knapp. „Ich bin nur für die Verwaltung ihres Einkommens und für die Vertretung vor Behörden und private Vertragspartner bestellt. Außerdem fürchte ich, so werden Sie die große Liebe nicht finden.“
„Wo dann?“
Gute Frage. Emma hatte längst aufgehört an die große Liebe zu glauben. In ihrem Leben hatten sich viele kleine Lieben die Hand gegeben. In den letzten Jahren waren sogar die ausgeblieben. „Vielleicht im Hallenbad, auf dem Stadtfest, im Kaffeehaus, im Raiffeisen-Lagerhaus, auf dem Pfarrflohmarkt, auf dem Friedhof. Überall kann man die große Liebe finden, Herr Gruber. Ich hab gehört, sogar im Internet.“
Jetzt leuchten seine Augen wieder. „Im Internetz? Darf ich so ein Internetz haben?“
Emma Rogner biss sich auf die Lippen. In ihren Gedanken sah sie, wie sich die unbezahlten Rechnungen und Mahnungen für von Gruber im Internet bestellte Dinge und Dienstleistungen auf ihrem Schreibtisch stapelten. Sie schüttelte den Kopf. „Ich fürchte, das ist keine so gute Idee. Versuchen Sie es lieber auf dem Pfarrflohmarkt.“
Herr Gruber fiel auf die Knie, faltete die Hände zum Gebet, bettelte, schluchzte und schwitzte. „Wissen Sie, ich hab ja auch so... so... männliche Bedürfnisse. Soll ich die herausschwitzen?“
Emma Rogner zuckte zusammen. Bitte nicht herausschwitzen, dachte sie und sah schon die klebrige Flüssigkeit aus seinen Poren sprießen. Nicht jetzt. Nicht, solange ich da bin.
Dann hatte Emma Rogner eine – wie sie fand zündende - Idee. „Vielleicht könnten Sie ja das Geld, mit dem sie die Blumen kaufen, für die Telefonate mit Svetlana sparen?“, schlug sie vor. „Ihre Mama freut sich bestimmt mit Ihnen.“
Gruber hielt kurz mit dem Weinen inne. „Niemals!“, brüllte er, riss das Bild seiner verstorbenen Mutter von der Wand und drückte es an seine Brust. „Niemals!“
„Ich muss dann mal“, verabschiedete sich Emma hastig, diesmal ohne ihm die Hand zu geben, „meinen Wagen aus der Werkstatt holen.“
testsiegerin - 1. Mai, 20:45
Ernestine lebte in einer Zimmer-Küche-Kabinettwohnung am Stadtrand von Wien. Der Dienstag war wie der Montag, der Mittwoch wie der Dienstag, der Donnerstag wie der Mittwoch und so fort. Ein Tag wie der andere. Nur der Sonntag, der war anders. Ganz anders eigentlich auch nicht, abgesehen davon, dass Ernestine am Sonntag nicht einkaufte, weil die Geschäfte geschlossen hatten, aber Ernestine stand um die gleiche Zeit auf wie an den restlichen Tagen, sie putzte die sauberen Fenster und kehrte den sauberen Boden. Oft wusch sie auch die saubere Wäsche, weil sich nicht genug Schmutzwäsche angesammelt hatte, abgesehen von den Putztüchern.
Sonntag war Tatort-Tag. Von Montag bis Mittwoch tauschte sie sich mit ihrem Nachbarn, mit dem sie sonst kaum ein Wort wechselte, über den sonntäglichen Tatort aus, von Donnerstag bis Sonntag freute sie sich auf den folgenden. Verbrechen im Zusammenhang mit Wirtschafts- und Computerkriminalität mochte sie nicht, da kannte sie sich meistens nicht aus und wusste zwar am Ende meistens, wer der Mörder war, verstand aber die Zusammenhänge nicht.
Die klassischen Themen, die waren Ernestine viel lieber. Eifersucht, Untreue, Vergewaltigung, Sexualüberfälle waren mehr nach ihrem Geschmack, gelegentlich auch Kindesmissbrauch oder ein kleiner Raubmord.
Von den vielen Kommissaren waren ihr Kain und Ehrlicher die liebsten gewesen, die beiden Ostdeutschen, und als Ehrlicher vergangenes Jahr in Rente ging, da schickte Ernestine ihm eine Glückwunschkarte zur Pensionierung und war richtig traurig.
Bei Thiel und Börne liebte sie die Dialoge, das Auto vom Börne und den alten Vater vom Thiel, den Taxifahrer. Der hatte so etwas Verwegenes und rauchte sogar Haschisch, obwohl sein Sohn Polizist war. Das hätte Ernestine sich nie getraut.
Nur die lesbischen Emanzen wie die Lena Odenthal, die konnte sie nicht leiden, weil sie immer auf supercool machte. Und Charlotte Lindholm war ihr zu depressiv. Überhaupt fand sie, dass Frauen nicht wirklich als Kommissare taugten. Trotzdem schaute sie sich jede Folge an.
„Und, Frau Doktor? Ist er wirklich hin?“, platzte es aus Ernestine heraus.
Die Ärztin kniete über dem Nachbarn und warf ihr einen giftigen Blick zu. „Pardon“, korrigierte Ernestine und machte die Schreibtischlade schnell wieder zu, nachdem sie einen Umschlag in ihre Schürze geschoben hatte, „...hin... hinübergegangen?“
Sie hatte ihn gefunden, vorhin, als sie ihm ein Stück Kuchen bringen wollte. Ernestine hatte geklopft, wie immer, aber er hatte nicht geöffnet, dabei wusste sie genau, dass er zu Hause war. Schließlich hatte sie ihn durch den Türspion beobachtet, als er am Nachmittag von seinem Spaziergang zurückkam. Ob ihm etwas zugestoßen war?
Mit dem Reserveschlüssel hatte sie aufgeschlossen, den armen Mann am Boden liegen sehen und sofort den Notarzt gerufen. Wenn sie gewusst hätte, dass die eine Frau schicken, hätte sie es sich vielleicht überlegt und gleich die Polizei verständigt. Bei der Polizei gab es nämlich zum Glück noch nicht so viele Frauen wie im Fernsehen.
Die Ärztin fühlte den nicht existierenden Puls. „Ja, schaut so aus, als hätte er die Ebenen gewechselt.“
Die Ebenen gewechselt. Wie geschwollen die daherredete. Vielleicht war sie sich ja einfach nicht sicher?
„Sie müssen ihm einen Spiegel vor den Mund halten“, riet Ernestine und freute sich über ihre gute Idee, „das hab ich beim Tatort gesehen.“
Da machten die Ärzte das auch immer, und wenn der Tote noch lebte, was aber im Tatort so gut wie nie der Fall war, dann beschlug sich der Spiegel vom Atem. Sie kramte einen Taschenspiegel aus der Schürzentasche und reichte ihn der Ärztin.
„Danke für den Tipp. Feststellen des Todes war im Medizinstudium kein Thema.“
„Ehrlich?“ Veräppelte diese Frau Doktor sie oder war sie tatsächlich so ahnungslos wie sie sich anstellte? Ernestine sah sich in ihrer Ansicht, dass nicht nur weibliche Kommissare, sondern auch weibliche Ärzte völlig unfähig waren, bekräftigt. Sie nahm den Deckel von der Dose auf dem Kästchen und schob sich einen Keks in den Mund. Einen ziemlich trockenen Keks. „Woran ist er denn abge...“, sie biss sich auf die Lippen, „gestorben?“
Ernestine ging zur Leiche und drückte dem Mann sanft die Augen zu. Sogar darauf hatte diese Ärztin vergessen. Ein bisschen mehr Würde hatte sich der Nachbar schon verdient.
„Vermutlich Herzstillstand.“
Die war vielleicht kurz angebunden. Das nächste Mal würde sie beim Roten Kreuz bitten, dass ein etwas gesprächigeres Exemplar geschickt wurde.
„Vielleicht ist er ja vergiftet worden?“ Bei diesem Gedanken erschrak Ernestine, spuckte den Keks hastig aus und versteckte die klebrige Masse unter dem Tischdeckchen. „Das kommt beim Tatort auch manchmal vor. Soll ich die KTU anrufen?“ Sie war erleichtert, endlich aktiv helfen zu können.
„Welche Kathi wollen Sie anrufen?“
„Nicht die Kathi, die kriminaltechnische Untersuchung. Wie beim Tatort.“ Damit kannte sie sich aus. Obwohl – sie hatte früher auch nicht gewusst, was die Abkürzung bedeutete und sah diese Unwissenheit der Ärztin deshalb lächelnd nach.
„Hier heißt das Spusi, Spurensicherung.“
Stimmt, wie hatte Ernestine das vergessen können? Der österreichische Kommissar, der Moritz Eisner, der rief auch immer die Spusi an. Den Eisner, den mochte sie als Bergdoktor ja viel lieber.
„Und die Spusi brauchen wir nicht“, fuhr die Ärztin fort und begann, den Totenschein auszufüllen, „wenn ein 98-jähriger an Altersschwäche stirbt. Sie schauen zu viel fern, meine Liebe.“
Ernestine verschränkte beleidigt die Arme vor dem Körper und verteidigte sich. „Gar nicht. Nur Tatort.“ Hoffentlich hatte das jetzt nicht zu scharf geklungen, denn Ernestine hätte sich trotz allem noch gern ein bisschen mit der Ärztin unterhalten, über ungelöste und mysteriöse Mordfälle zum Beispiel. Meistens war ja nichts los in dem Haus. „Darf ich Ihnen wenigstens einen Apfelstrudel anbieten, Frau Doktor?“, fragte sie versöhnlich. „Ich hab ein neues Rezept ausprobiert.“
„Aus dem Tatort?“
Entsetzt starrte Ernestine auf die Pendeluhr. Verdammt. Jetzt hatte sie den Tatort versäumt, das erste Mal seit dem Tod ihres Mannes vor fast fünf Jahren. Und ausgerechnet heute ermittelten Max Ballauf und Freddy Schenk.
„Nein, da gibt’s keine Rezepte, nur Tote. Vom Perfekten Dinner.“
testsiegerin - 24. Apr, 20:34