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Montag, 19. November 2012

Überall daheim

weil heute Welttoilettentag ist ;-)


„Wir sind gleich auf Sendung.“ Der Kameramann richtete das Objektiv auf Lieselotte Pfeffer. Die trat ihre Zigarette aus, fuhr sich nervös durchs kurz geschnittene Haar und drückte sich den Stöpsel tiefer ins Ohr.
„Grüß Gott und guten Abend bei Überall daheim. Ich begrüße Sie herzlich aus Ried, der charmanten Messestadt im Innkreis. Über unser heutiges Thema werden Sie vielleicht schmunzeln, aber es ist ernster als es im ersten Moment scheint. Es geht um etwas, dass wir alle tun müssen. Nein, nicht sterben, nicht Steuern zahlen, sondern aufs Klo gehen. Überall daheim ist heute zu Gast beim Gründungstag der Ö.T.O., der Österreichischen Toilettenorganisation.“

Lieselotte lächelte und schob verschmitzt die Zungenspitze in den Mundwinkel. „Herr Peter Strobel.“ Sie wandte sich an ihren Interviewpartner und versuchte ernst zu bleiben. „Sie sind Gründungsmitglied und erster Obmann der neuen nationalen Toilettenorganisation. Was war denn Ihr Motiv, unter dem Deckel... Verzeihung, unter dem Dach der World Toilet Organization aktiv zu werden?“

„Es geht um ein Problem, das zum Himmel stinkt“. polterte Peter Strobel ins Mikrofon, „es war einfach an der Zeit, es anzupacken. Denn Toilette bedeutet Würde.“
„Da wollen wir mal hoffen, dass das kein Griff ins Klo wird, Herr Strobel. Was genau haben Sie in Österreich vor?“
„Schau’n Sie, gnädige Frau, wir leben hier nicht auf einer Insel der Seligen, klotechnisch gesehen. Jeder von uns muss manchmal in der Fremde nötig aufs WC und landet dabei in einem schäbigen Autobahnklo oder auf einem unwürdigen öffentlichen Abort. Damit muss endlich Schluss sein.“
Herr Strobel faselte noch begeistert von der Notwendigkeit, das Thema Toilette aus dem Tabubereich zu holen und Lieselotte nickte wissend. Mit Tabus kannte sie sich aus. Vor zwei Jahren hatte sie für ein Magazin der Landespensionistenheime vom Geriatriekongress über Blasen und Inkontinenz berichtet. Erst seit ein paar Wochen arbeitete sie für das Regionalfernsehen. Damals noch Da.heim, heute schon Überall daheim, dachte Lieselotte sarkastisch. Was für eine Karriere.
„Vielen Dank, Herr Strobel. Ich habe das Gefühl, Sie wissen, wovon Sie reden. Liebe Zuschauer, damit auch Sie wissen, wovon wir reden, betreten wir jetzt den Tatort. Meine Damen daheim, seien Sie tapfer - folgen Sie mir aufs Männerklo.“
Lieselotte verzog das Gesicht in einer Mischung aus Abscheu, Neugier und Spott. Gefolgt von der Kamera, öffnete sie die Tür mit dem männlichen Emblem und steuerte zielstrebig auf die Stehbecken zu.
„Wird das ein Dogma-Film?“, tönte es wütend aus dem Ohrstöpsel. „Das Bild ist ja völlig verwackelt.“
Der Kameramann schüttelte sich vor Lachen. Drei Urinale waren an der Wand befestigt, und über jedem hing ein Schild. Bier über dem linken, Wein über dem rechten und Alkoholfrei über der mittleren Muschel.
Ein Mann nestelte am Reißverschluss seiner Hose herum und schwankte zwischen den Urinalen hin und her. „Ich hab zuerst einen Radler getrunken und dann einen doppelten Schnaps“, lallte er verzweifelt. „Wohin mit mir?“

Eine Viertelstunde später saß Lieselotte im Sitzungssaal. Sie hatte sich für Wein entschieden. Da die Qualität der Redebeiträge sich dem Thema angepasst hatte, betrachtete sie eingehend die Zuhörer, um nicht einzuschlafen. Die Frauen waren in der Minderheit und trugen überwiegend Kostümjacken in lindgrün oder zartorange. Die vielen Männer waren nicht besonders attraktiv, zu alt, zu dick oder zu geleckt. Auch das Publikum passt zum Thema, entschied Lieselotte. Ein Schlag gegen ihre Rückenlehne schreckte sie auf.
„Vergeving!“, sagte die Männerstimme direkt hinter ihr.
„Pfeffer“, flüsterte Lieselotte, drehte sich um und erschrak. Der dunkelgelockte Kerl war weder alt noch dick. Das Hemd hing lässig aus seinen Jeans und Lieselottes braune Augen blieben in seinen grünen hängen.
Er war so attraktiv, dass es schon kitschig war.
„Ich hoffe, ich habe Sie nicht...“ Er zögerte. „Wie sagt man? Gebumst?“
Sie lachte. „Ja, das sagt man. Aber nicht dazu.“
„Jan van Groningen. Ich bin Holländer.“ Er schüttelte ihre Hand. „Wozu sagt man denn gebumst?“
„Lieselotte“, sagte Lieselotte und leckte sich über die Lippen. „Wollen Sie wirklich, dass ich Ihnen das erkläre?“
Er nickte. „Aber nicht hier. Gehen wir raus?“
Mit Weinglas und Notizblock schlichen sie kichernd an den anderen Gästen vorbei und zur Tür hinaus. Beim Anblick von Jan und den Köstlichkeiten am Buffet lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Sie klaute eine mit gebratenem Speck umwickelte Dörrpflaume.
„Also lassen Sie uns anbumsen“, prostete er ihr zu, „auf einen schönen Abend.“
„Proost. Op uw gezonheid!“
„Sie praaten Nederlands?“
„Nein. Nur ein paar Worte, und selbst von denen weiß ich nicht, was sie bedeuten. Zum Beispiel Neuken in de Keuken.“
„Oh ja. Wissen Sie, wo hier die Küche ist?“
„Leider nein. Aber können Sie mir vielleicht verraten, was neuken bedeutet?“ Lieselotte war inzwischen ziemlich beschwipst und öffnete heimlich die beiden obersten Knöpfe ihres Kleides.
„Neuken bedeutet... nun ja...“ Jan grinste sie dreist an.
„Bumsen?“ Sie beugte sich so über das Buffet, dass er ihr in den Ausschnitt schauen musste.
„Die Fleischbällchen sehen wirklich verlockend aus“, raunte er ihr zu.
„Greifen Sie nur zu, Jan van Groningen. Hier gibt’s heute alles kostenlos.“
„Wenn die Herrschaften bitte warten würden, bis das Buffet eröffnet ist“, schalt der Oberkellner sie. Lieselotte räusperte sich und wandte sich wieder Jan zu.
„Was treibt einen Mann wie Sie zur Versammlung eines österreichischen Klo-Vereins? Lächerliche Veranstaltung, finden Sie nicht?“
Lieselotte war Expertin im Fettnäpfchenhüpfen, denn Jan antwortete: „700 Millionen Inder leben ohne Toiletten. Aber auch bei uns in Holland ist überall große Notdurft. Wir wollen die Nederlandse Toilet Organisatije gründen. Ich bin hier zu holen ein paar Inputs.“
„Also, ich werde dann besser gehen“, stammelte Lieselotte, „war schön, Sie kennengelernt zu haben.“
„Langzaam, Lieselotte. Als Sie sich gar nicht für die Welt der Toilette interessieren, was machen Sie dann hier?“
„Nun ja. Ich bin Überall daheim.“ Sie wartete einen Moment um Jans neugierigen Blick auszukosten. „So heißt die Sendung, die ich moderiere. Fürs Regionalfernsehen. Ich bin Journalistin.“
Selbstverständlich war Lieselotte heute ebenso wenig Journalistin wie vor Jahren, als sie noch bei der schreibenden Zunft arbeitete. Sie hielt lediglich ein Mikrofon in der Hand und quasselte hinein, was die Leute hören wollten.
„Journalistin?“
„Ja. Journalistin.“ Sie sonnte sich stolz im Ruhm der Pulitzer-Preisträger.
Jan machte eine abwertende Handbewegung. „Sie haben Recht, es war nett. Tot ziens.“
Wie bitte? Lieselotte traute ihren Ohren nicht. Erst fielen seine grünen Augen förmlich in ihr Dekolleté und jetzt ließ er sie einfach gehen, ohne um sie zu kämpfen? Was bildete dieser Käsefresser sich ein?
Wütend schritt sie zur Garderobe und nahm Mantel und Tasche entgegen. Sie spürte die Blicke von Jan, der an einer der Säulen im Foyer lehnte und sie beobachtete. Als sie einen Blick nach hinten warf, wurde ihr schummrig. Noch immer hing der linke Hemdzipfel schlampig aus seiner Hose. Lieselotte machte kehrte und blieb vor ihm stehen.
„Ich habe nichts gegen Klos", sagte sie. "Könnten Sie mich nicht bitten, noch ein bisschen zu bleiben?“
„Warum?“
„Weil Sie ...“, Lieselotte erinnerte sich an ihr Erlebnis am Geriatriekongress. Was würde Jan von einer Frau halten, die so um seine Aufmerksamkeit bettelte und ihm Honig ums Maul schmierte? Ein bisschen mehr Selbstbewusstsein, Frau Pfeffer, beschwor sie sich und richtete sich auf, „ach, ganz einfach, weil ICH interessant bin und witzig. Halbwegs intelligent. Vielleicht sogar attraktiv.“
„Ja, vielleicht.“ Er musterte sie.
„Vielleicht? Was soll das heißen?“
„Das haben Sie gesagt.“
„So, hab ich das?“
„Ja.“
„Und was sagen Sie?“
„Wahrscheinlich sind Sie attraktiv.“
„Nur wahrscheinlich?“
„Nun ja. Ich habe noch nicht alles gesehen.“
„Wollen Sie mich etwa zum Objekt Ihrer stochastischen Methoden machen?“
„Oh nein. Ich mag keine Gewalt beim Sex.“
Lieselotte lachte laut. „Stochastik ist Wahrscheinlichkeitsrechnung.“ Vor Jahren hatte sie Berichte für das Informatikermagazin Unberechenbar geschrieben. Wenn er sie schon nur wahrscheinlich attraktiv fand, dann hielt er sie jetzt ganz sicher für halbwegs intelligent.
„Wie wäre es, wenn Sie sich bald entscheiden würden, Lieselotte?“
„Wofür?“
„Ob Sie gehen oder bleiben. Ich werde Sie gewiss nicht darum bitten. Sie sind eine erwachsene Frau. Sie werden wohl selbst am besten wissen, was gut für Sie ist.“
„Na gut.“ Sie kam ihm sehr nahe. „Wenn Sie so darauf bestehen, dann bleibe ich eben.“
„Gehen wir?“, fragte er.
„Wohin?“
„Zur Toilettenausstellung. Vielleicht. Oder in mein Hotelzimmer. Ihre Entscheidung.“
„Wie Sie schon bemerkt haben dürften, interessiere ich mich nicht für Toiletten.“
„Interessieren Sie sich denn für mein Hotelzimmer?“
Lieselotte leckte sich amüsiert über die Lippen. „Vielleicht.“
Sie drückte ihm zwei Gläser und eine Flasche Sekt vom Buffet in die Hand. Am Treppenabsatz schlüpfte sie aus ihren Stilettos. Es wäre ein denkbar ungeeigneter Moment gewesen, um sich den Fuß zu brechen.

„Und? Gefällt es Ihnen?“, fragte er zwei Stockwerke höher.
„Wahrscheinlich. Ich habe ja noch nicht alles gesehen.“
„Werden Sie auch nicht.“
Jan ließ die Jalousien herunter und schaltete das Licht aus.
Unter ihren Füßen fühlte Lieselotte den weichen Teppich, in ihrem Nacken Jans Atem und an ihren Hüften Hände, die sie zu ihm drehten.
Durch die plötzliche Dunkelheit nahm sie nicht einmal seine Konturen wahr und tastete mit ihren Fingern nach seinem Gesicht.
Seine Hände wanderten in der Zwischenzeit zu ihrem Hintern, von dort weiter abwärts bis zum Saum ihres Rockes und an der Innenseite ihrer Schenkel wieder hinauf.
.„Du fühlst dich verdammt schön an“ flüsterte Jan.
Jetzt zog sie das Hemd vollends aus seiner Hose und berührte seine Haut.
„Was willst du, Lieselotte?“
Sie schluckte. „Glück. Gesundheit. Und mehr Geld. Oder wenigstens das ewige Leben und den Weltfrieden.“
„Ich mag bescheidene Frauen. Und was willst du jetzt?“
„Hmmm...“
„Komm, nimm dir, was du willst.“
„Würde ich ja gern. Aber ich finde den Sekt im Dunkeln nicht.“
„Dann musst du darauf warten, bis ich das Licht wieder anmache.“
„Wann machst du es wieder an?“
„Wenn wir fertig sind mit Bumsen.“
„Gut. Aber beeil dich, bitte.“
Wahrscheinlich hätte Jan sich beeilt, wenn Lieselotte ihn gebeten hätte, ganz langsam zu machen. So aber sah er keine Veranlassung zur Eile, sondern nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie auf den Mund. Zärtlich, lustvoll und ein kleines bisschen gierig. Sehr gierig, um ehrlich zu sein.
Lieselottes Finger waren noch immer unter seinem Hemd und krallten sich in seinen Rücken. „Darf ich dich kratzen?“ fragte sie leise, als seine Zunge ihren Mund wieder verlassen hatte.
„Warum fragst du?“
„Ich will nicht, dass du Ärger kriegst.“
„Kratz nur. Darf ich auch?“
Lieselotte antwortete mit wohligen Lauten der Zustimmung, als sie Jans Fingernägel in der Haut spürte. Irgendwann hörten Jans Finger auf zu kratzen und begannen zu streicheln. Irgendwann wurden Lieselottes Knie so weich, dass Jan sie aufs Bett legte, wo er langsam weiterstreichelte. Irgendwie war er plötzlich in ihr und die wohligen Laute wurden lauter.


Und irgendwann nach dem Sex gab es Licht und Sekt.
„Bleibst du heute Nacht bei mir, Lilo?“
Sie nippte und nickte. „Ja. Mein Sohn schläft bei einem Freund.“
„Und...“, er zögerte, „... und gibt es einen Mann in deinem Leben?“
„Es gab. Aber wir hatten unterschiedliche Vorstellungen. Nicht nur vom Geschirrspülen.“
Er küsste sanft ihre Brüste. „Das war eben wunderschön mit dir.“
„Du darfst das gern wiederholen, Jan. Nach dem Sex ist vor dem Sex.“
„Bist du auf Entzug? Wann hattest du denn zuletzt?“
„Gestern.“ Sie grinste frech. „Leider allein.“
„Erzähl mir davon“, forderte er sie auf. Lieselotte errötete und wandte ihr Gesicht ab.
„Nein. Schau mich bitte an, wenn du es mir erzählst.“
„Nun ja, ich war im Funkhaus. Und ich musste einen Beitrag über die finnische Sauna vorbereiten, da hab ich plötzlich wahnsinnig große Lust gekriegt und konnte mich nicht mehr auf meine Arbeit konzentrieren. Also bin ich aufs Klo und ...“
„Auf’s Klo?“
„Ja. Dort hab ich meine Ruhe. Ich lehn mich da ganz entspannt gegen die Wand.“
„Tust du das oft?“
„Nun ja.“ Sie spürte seinen Blick.
„Da siehst du, wie wichtig saubere, gemütliche und hygienische Toiletten sind. Am schönsten sind übrigens die japanischen. Wahlweise mit Musik oder Vogelzwitschern. Da hört dich auch niemand.“
Sie schmiegte sich an ihn und legte ihren Kopf auf seine Brust. „War ich so laut?“
„Gerade richtig laut, Lilo. Zeigst du mir, wie du es dir machst, an die Wand gelehnt?“
„Jetzt? Um Himmels Willen. Ich bin doch keine Dreißig mehr.“
„Keine Sorge, ich auch nicht. Darf ich dich wecken, wenn ich vor dir wach bin?“
Sie nickte. „Wann musst du wieder heim, Jan?“
„Keine Ahnung. Weißt du, Lilo“, er küsste sie auf die Stirn, „irgendwie bin ich überall daheim. Bei dir grad ganz besonders.“

Donnerstag, 1. November 2012

Oh du lieber Augustin

passend zum heutigen Tag

Wien ist ein Aphrodisiakum für Nekrophile
(André Heller)


Sibylle war gern hier. Der Zentralfriedhof war für sie der schönste Ort in Wien. Sie fühlte sich immer unverstanden, wenn Freunde von auswärts den Kopf schüttelten, weil sie ihnen als eines der Wahrzeichen den Wiener Zentralfriedhof zeigen wollte.
Sie war eine Frau in den besten Jahren, also knapp über vierzig. Dank einer sensationellen Anwältin erfolgreich geschieden, von ihrem Mann großzügig abgefunden und Eigentümerin einer stilvollen Altbauwohnung im siebenten Wiener Gemeindebezirk. Als Unternehmensberaterin hatte sie einen Beruf, der sie ausfüllte und ihr Spaß machte. Mit ihrem Leben war Sibylle also ganz zufrieden. Aber neben dem Leben mochte Sibylle auch den Tod. Deshalb zog es sie immer wieder hierher. Bei schönem Wetter, denn sie liebte zwar die Trauer, aber die Kälte und Nässe hasste sie.
Am liebsten war sie am Friedhof, wenn Beerdigungen stattfanden. An diesen Tagen zog sie ihren schwarzen Rock, eine schwarze Bluse und schwarze Strümpfe an und mischte sich unter die Hinterbliebenen.

Der freie Mensch denkt an nichts weniger als an den Tod; und seine Weisheit ist ein Nachsinnen über das Leben.
(Spinoza)



Sibylle bevorzugte Bestattungen mit sichtbarem, überwältigendem Schmerz. Der wurde am deutlichsten spürbar, wenn Kinder oder junge Menschen begraben wurden. Sie bekam Herzklopfen und weiche Knie, wenn eine Mutter von den Totengräbern zurückgehalten werden musste, weil sie ihrem Kind am liebsten in das offene Grab folgen wollte. Oder ein junger Mann am Grab stand, der gerade seine Frau verloren hatte und stumm weinte, während sein Gesicht Fassungslosigkeit, Schmerz und unendliche Liebe spiegelte. Und wenn die Kinder verloren und voller Fragen, die sie nicht zu stellen trauten, selbst gezeichnete Bilder in die Grube warfen.
Es war nicht so, dass sie Freude empfand oder Genugtuung, wenn sie Szenen wie diese beobachtete. Ganz und gar nicht. Auch Sibylle litt. Trotzdem, wenn ihr dann endlich die Tränen über die Wangen liefen, dann war da auch ein warmes sattes Gefühl, dessen sie sich nicht einmal schämte.

Quem dei diligunt, adulescens moritur - Wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben
(Titus Maccius Plautus)

Die anderen Beerdigungen, die Sibylle so liebte, waren die, zu denen kaum Leute kamen. Oder höchstens eine Nachbarin oder eine entfernte Kusine, die völlig abwesend wirkten. Diese Abschiede waren viel einsamer als die Begräbnisse voller ohnmächtiger Verzweiflung der Liebenden. Wenn sie dann so hinter dem Sarg des Verstorbenen herging und das Laub unter ihren Füßen raschelte, entstanden in ihrem Kopf Geschichten. Da sah sie obdachlose Penner, erfroren vor Bahnhöfen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung verschlossen blieben. Die alte Frau, die erst gefunden wurde, als Verwesungsgeruch durch den Briefschlitz drang. Den Studenten vom Land, der dem Tempo der Großstadt und dem Druck der Universität nicht standhielt und sich in seinem Untermietzimmer das Leben nahm.

Ich fürchte, dass mein Tod nicht bemerkt wird, außer durch meine zurückgelassene Unordnung.
(Armin Mueller-Stahl)


Zu Prominentenbegräbnissen ging sie nie und an den Ehrengräbern blieb sie nicht stehen. Sie mochte das einfache Leben und den einfachen Tod. Sibylle wusste von den Toten in der Regel nicht mehr als in den Todesanzeigen stand. Sie wollte auch gar nicht mehr wissen, denn es waren nicht die wahren Geschichten, die sie so aufwühlten, sondern ihre erdachten.
Sie wollte dabei sein, wenn es um den Tod ging. Vielleicht, um sich zu vergewissern, dass es sie selbst wieder einmal nicht getroffen hatte.
Der Hang zur Morbidität floss seit jeher durch ihre Venen. Als kleines Mädchen war sie am liebsten bei der Tochter des Bestatters zum Spielen gewesen, schaurig fasziniert von den Särgen und den ernsten Mienen. Während andere Kinder dem Oster- und Weihnachtsfest entgegenfieberten, wartete sie sehnsüchtig auf Allerheiligen. Und wenn ihre Mitschülerinnen einander „Mach es wie die Sonnenuhr, zähl die heit´ren Stunden nur“ ins Poesiealbum schrieben, so entschied sie sich für Sprüche aus den Todesanzeigen.

Wie ein Blatt vom Baume fällt,
So fällt ein Mensch aus seiner Welt,
Die Vögel singen weiter.
(Matthias Claudius)



Oft malte Sibylle sich ihr eigenes Begräbnis aus. Eine richtig „schöne Leich“, wie man hier sagte, wollte sie. Alle in Schwarz und ein Kranz mit weißen Rosen auf dem Sarg. Mozarts Requiem. Totengräber mit langen zerfurchten Gesichtern. Die weinerliche Stimme von Pater Gregor, der die „liebe Verstorbene“ huldigte und Freunde, die ihr mit feuchten Augen ein Schäuferl Erde ins Grab nachschmissen, während der Geistliche sagte: „Asche zu Asche, Staub zu Staub.“ Und die Tränen würden in Strömen fließen.
Auf jeden Fall sollte keine kalte Platte aus Marmor auf ihr liegen. Nur feuchte, weiche Erde würde ihren Sarg bedecken. Und darauf wunderschöne Kränze mit rührenden Abschiedsworten auf den Trauerschleifen. „Wir werden dich nie vergessen“. Danach würden sie alle beim Wirten sitzen zum Leichenschmaus. Wiener Schnitzel mit Erdäpfelsalat. Zur Nachspeise Apfelstrudel. Und viel Wein. Den würden sie auf Sibylle trinken. Die Traurigkeit müsste dann dem Lachen weichen und irgendjemand das Wienerlied „Es wird ein Wein sein, und wir wer´n nimmer sein...“ anstimmen. Wahrscheinlich der Onkel Franz.
Eigentlich schade, dass sie das alles nicht mehr erleben konnte.

Rien, je ne regrette rien
(Edith Piaf)


würde auf der Todesanzeige, die hier Partezettel hieß, stehen. Gleich neben dem Foto, das sie an ihrem vierzigsten Geburtstag aufgenommen hatte. Mit Selbstauslöser auf dem Zentralfriedhof. Rien de rien. Ich bereue nichts.

*

„Die Angst vor dem Scheintod veranlasste Manchen anzuordnen, dass nach seinem Tod durch die Vornahme des Herzstichs die Möglichkeit des Lebendig-Begraben-Werdens ausgeschlossen wurde. Der Herzstich durfte jedoch ausschließlich von einem Arzt und erst nach der Totenbeschau vorgenommen werden“ , erklärte der Museumsreferent bestimmt schon zum tausendsten Mal.
Sibylle betrachtete gerade ein Stilett mit Holzgriffen und Stahlklinge, entstanden um 1900. Wenn der Spätherbst sich mit seinen feuchten kalten Nebeln über Wien legte, dann wurden Sibylles Besuche auf dem Friedhof seltener und die im Wiener Bestattungsmuseum häufiger.
„Sie sind nicht zum ersten Mal hier, nicht wahr?“ flüsterte ihr ein Mann zu, der sie schon eine ganze Zeit von der Seite betrachtet hatte. Erschrocken blickte sie auf.
„Ich?“ Sie lächelte verlegen und stammelte: „Nein ... ich ... wieso ... wie kommen Sie darauf?“ Sie fühlte sich ertappt.
„Oh!“ Er grinste liebenswert. „Ich habe ihre Lippen beobachtet. Und nicht nur, weil sie so schön rot sind, sondern, weil sie gleichzeitig mit dem Museumsführer seinen Text gesprochen haben.“
Sie schämte sich. Er würde sie jetzt wahrscheinlich für eine Verrückte halten, die nichts anderes zu tun hatte, als sich in ihrer Freizeit im Bestattungsmuseum herumzutreiben. Dabei stimmte das gar nicht, sie war ja meistens auf dem Friedhof. Die Geschichten hier waren zwar skurriler als die ausgedachten vom Friedhof, aber der Tod draußen fühlte sich lebendiger an.
Der Mann war etwas jünger als sie und sah gut aus. Groß und schlank war er und dunkelblond. Sibylle errötete und überlegte sich gerade eine überzeugende Erklärung, doch er sprach einfach weiter.
„Ein schönes Stilett, nicht wahr? Wussten Sie, dass Arthur Schnitzler und Johann Nestroy den Herzstich testamentarisch verfügt haben?“

Die Doctoren - selbst wenn sie einen umgebracht haben - wissen nicht einmal gewiß, ob man todt ist.
(Nestroy)


Natürlich wusste sie das, sie war ja nicht zum ersten Mal hier.
„Bösendorfer auch“, sagte sie und die Faszination am Tod hatte ihre vorübergehende Scham besiegt. „Sie wissen schon, der berühmte Klavierbauer.“ Er nickte. Er wusste. „Kommen Sie mit, ich zeig Ihnen etwas!“ Sibylle nahm den Fremden einfach an der Hand und führte ihn in den Nebenraum.
„Mein Lieblingsstück“, sagte sie, als sie vor dem Josephinischen Gemeindesarg standen, einem Holzsarg mit Bodenklappen und einem Öffnungsmechanismus aus Schmiedeeisen.
„Der Verblichene wurde nackt in einen Leinensack genäht und in diesem Sarg deponiert. Dann wurde der Sarg auf das Grab gestellt, der Totengräber klappte den Boden auf und der Leinensack plumpste ins Grab hinein“, erklärte Sibylle voller Leidenschaft und er lauschte mit offenem Mund. „Sparpolitik anno 1784“, fügte sie noch lächelnd hinzu.
„Ich bin übrigens der August“, sagte er, noch immer mit einem Grinsen auf dem Gesicht.
„Oh, der lieber Augustin!“, antwortete sie und sie strahlten einander an. Jeder hier kannte die mythische Figur des Sängers Augustin, der in einer Pestgrube übernachtete, um dann fröhlich weiter zu singen.
„Ich heiße Sibylle.“ Sie wollte ihm gerade die Hand entgegenstrecken, als sie bemerkte, dass sie die seine während des Monologs die ganze Zeit gehalten hatte.
„Komm, wir gehen wieder zur Gruppe, ja?“ Vorsichtig entzog sie sich ihm und schaute auf die Uhr. „Jetzt kommt nämlich gleich die grausige Geschichte von den Pestopfern.“
Der Museumsführer erzählte erst von der Pest und später von alten und neuen Beerdigungsriten. Sie lauschten und fühlten, wie ihre Herzen ein bisschen heftiger pochten als noch eine halbe Stunde zuvor. Und das lag nicht nur an den makabren Geschichten.

Stirbt ein Bediensteter während einer Dienstreise, so ist damit die Dienstreise beendet.
(Bundesreisekostengesetz 1973)


Draußen regnete es in Strömen. Sie standen da und sahen einander an. „Gehen wir noch auf einen Kaffee?“ fragte sie fast ein bisschen scheu.
„Nur, wenn du mich an der Hand nimmst.“
„Ich glaub, das geht“, sagte sie, griff nach seiner Hand und sie rannten zum Kaffeehaus um die Ecke und sangen dabei:

„Rock ist weg, Stock ist weg
Augustin liegt im Dreck,
Oh du lieber Augustin, alles ist hin“

Sibylle war nicht bloß zufrieden. Dies war einer der wenigen Momente, in denen Sibylle glücklich war.
„Hast du eigentlich Angst vor dem Tod?“ fragte August, während sie ihm durchs nasse dunkle Haar strubbelte und die Tropfen in ihren Kaffee spritzen.
„Nein. Hab ich nicht.“ Ihre Antwort kam schnell, aber wenig überzeugend. In Wahrheit mischte Angst davor sich mit der Sehnsucht danach.
„Magst du Friedhöfe?“ fragte sie und er nickte.
„Ich bin oft auf dem jüdischen Friedhof in Währing“, sagte August. „Möchtest du nächste Woche mitkommen?“ Ja. Sie mochte.
Sie tranken ihren Kaffee und dachten nach. Und redeten. Über den Tod hauptsächlich. Aber, weil der Tod ein Teil vom Leben war, auch übers Leben. Und über den Sinn.

Das, was dem Leben Sinn verleiht, gibt auch dem Tod Sinn.
(Antoine de Saint-Exupéry)



Sie waren oft in dem Kaffeehaus. Meistens an Freitagen, an denen das Wetter ihren Friedhofsbesuchen einen Strich durch die Rechnung machte.

Irgendwann, der Winter war längst vorbei, saßen sie wieder hier.
„Hast du Angst vor dem Tod?“ Diesmal war es Sibylle, die diese Frage stellte. August fütterte sie mit Topfenstrudel und sagte zärtlich:
„Ja. Hab ich.
Vor deinem.“

Dienstag, 30. Oktober 2012

Es ist nie zu spät ...

Ich bin keine berühmte Schriftstellerin. Nicht nur, weil ich nicht gut genug schreibe, das wäre nicht das Problem. Es gibt viele Autoren, die auch nicht gut schreiben, aber trotzdem berühmt sind. E.L.James zum Beispiel mit ihren 50 Grautönen oder Uwe Tellkamp.

Wenigstens weiß ich jetzt, warum ich es nicht geschafft habe.
Ich bin glücklich. Und ich habe in meinem Leben nichts wirklich Schlimmes erlebt, wenn man von Schulden, ein paar Todes- und Unfällen absieht, aber das passiert ja jedem.
Fast alle berühmten Autoren hatten eine entsetzliche Kindheit oder tragische Erfahrungen. Die meisten sogar beides.
Ich war nie im Krieg. In gar keinem. Nicht im Weltkrieg, nicht in Bosnien und schon gar nicht im Irak. Zu spät geboren oder am falschen Ort. Ich war weder in der SS noch in Gefangenschaft, nicht einmal in amerikanischer, wie Günther Grass. Nicht, dass ich die Herrschaften darum beneide, verstehen Sie mich nicht falsch, aber mir fehlt dieser Wettbewerbsvorteil.
Ich leide weder an Depressionen – ok, ein kleines bisschen schon, nachdem heute ein Schreiben eines Inkassobüros kam - noch an einer bipolaren Störung wie Virginia Woolf. Ich fühlte mich innerlich niemals „so wund, dass mir, ich möchte fast sagen, wenn ich die Nase aus dem Fenster stecke, das Tageslicht wehe tut, das mir darauf schimmert“, und so ist es zwar ziemlich unwahrscheinlich, dass ich mich wie Heinrich von Kleist erschießen werde, es ist aber genauso unwahrscheinlich, dass ich jemals so berühmt werde. Meine Mutter war keine herrische Person wie die Mutter von der Jelinek, und sie zwang mich nicht zum Klavierunterricht. Mein Papa, dieser rücksichtslose Kerl, verbrachte seine Zeit lieber in den Bergen, als dass er wie der Vater von Dario Fo im antifaschistischen Widerstand aktiv war.
Das verzeihe ich meinen Eltern nie.

Der Psychoanalytiker Ben Furman hat gesagt, es sei nie zu spät, eine glückliche Kindheit gehabt zu haben.
Vielleicht gilt das ja auch für die unglückliche Kindheit. Ich arbeite daran.
Ich erinnere mich dunkel, dass mir meine kleine Schwester einst mein Hans Krankl T- Shirt vom Leib riss, weil Rapid Wien bei Derby gewonnen hatte. So tief hat sich dieses Trauma eingebrannt, dass ich es 40 Jahre lang verdrängt habe. Verdrängen musste, um nicht daran zugrunde zu gehen. Und überhaupt: Meine Mama hat mich – analog zur Mama von Rilke – gelegentlich in Lederhosen gesteckt. Können Sie sich vorstellen, was das für meine Identitätsfindung bedeutet hat?
Und bevor ich vergesse, es zu erwähnen: Im Knast war ich auch. Fünf Jahre. Wie Vaclav Havel. O.k., ich hab dort gearbeitet, aber lustig war das nicht immer.
Während der sensiblen Phase meiner Pubertät hatte ich manchmal Hausarrest und Fernsehverbot. So etwas hinterlässt Narben, die vielleicht dazu beitragen können, dass aus mir doch noch eine große Autorin wird. An Hunger litt ich zwar nie, aber mein Vater bekam immer das größte Stück Fleisch. Leicht war das nicht.

Gut, ich bin weder Rosa Luxemburg noch Nelson Mandela. Außenseiterin bin ich, obwohl ich weder Rosa noch schwarz bin. Hier im Dorf bin ich sogar Außenseiterin, weil ich nicht schwarz bin.
Und seien wir ehrlich, ist es nicht ein bisschen wie Zwangsarbeit, dass ich als Kind genötigt wurde, frische Kräuter aus dem Garten zu holen? Man hat mich ausgelacht, weil ich Petersilie mit Schnittlauch verwechselt habe. Mobbing nennt man das heute wohl.
Paranoid bin ich zwar nicht, aber wenn ich es recht bedenke, dann waren schon einige hinter mir her.
Ich war zwar nie in einem nationalsozialistischen Erziehungsheim wie Thomas Bernhard, aber in einem Studentinnenheim des Opus Dei. Ich muss gestehen, ich habe damals Kerzen gestohlen. Wie Karl May aus dem Gymnasium. Ihn hat man deshalb von der Schule verwiesen und er hat sich den Schatz im Silbersee ausgedacht. Mich haben sie nicht erwischt, leider. Drum hab ich nur den Stinki geschrieben.

Keine meiner Beziehungen war so schwierig wie die von Simone de Beauvoir mit Sartre. Aber mit Männern hab ich wahrlich genug durchgemacht. Nicht nur Nächte. Und das ist noch nicht vorbei, fürchte ich. Hoffe ich.

Ich glaube, ich habe doch noch eine kleine Chance.



(2005 - überarbeitet 2012)

Montag, 22. Oktober 2012

Ohne Worte

geburtstagsstrumpfhosen

(Foto: der H.)

Sonntag, 21. Oktober 2012

70

Gestern feierten Frau Dr. Blubb und ich unseren 70. Geburtstag. Sie hatte ihren im September, ich hab meinen im November, also feierten wir im Oktober. Im goldenen Oktober. Mit Freunden und Verwandten, einer Wanderung, Essen, Tanzen, Singen, in den Nachthimmel schauen...

toll3stherbst

"Jetzt reichts dann schön langsam mit dem Dankbarsein", hat heute ein Freund zu mir gesagt. Ich finde, es reicht nicht. Ich hab nämlich wieder mal gemerkt, dass ich die wunderbarste Familie und die besten Freunde und Freundinnen der Welt hab. Wie schön, dass die miteinander feiern können. Wie schön, dass da Hirsch-Lederhosen und verrückte Strumpfhosen Bein an Bein gehen.

Uns haben sie reich beschenkt, vor allem mit ihrer Nähe, ihren Talenten und auch mit Geschenken materieller Natur. Mit Glück.
Würde ich mich jetzt bei jedem von ihnen öffentlich bedanken, hätte ich eine weitere schlaflose Nacht. Das mach ich also lieber persönlich.

Öffentlich mach ich allerdings die Rede, die sich Frau Dr. Blubb von mir gewünscht hat.

Mein Mäuschen,

du hast dir eine Rede von mir gewünscht, also kriegst du sie auch. Eine Lesungsrede halt, weil ich nach dem Sekt etwas zum Festhalten brauche.
Ich kann dich natürlich nicht losgelöst von mir betrachten, also geht es in der Rede nicht nur um dich, sondern auch um mich, um unsere Beziehung. Du wärst ja nicht ohne mich, und ich wäre ohne dich nicht die, die ich bin.

Außerdem hast du mir verboten, mir selber eine Rede zu schreiben – Moni hätte sie schön und pathetisch vorgetragen. Aber du fandest, dass ich bitte nicht peinlicher als unbedingt notwendig sein soll.
Als die Hebamme „Willkommen, Theres“, gesagt hat, hab ich geweint. Dein Vater hat gemeint: „So schlimm ist es auch wieder nicht.“ (Exkurs: Es war so schlimm, zumindest in den ersten Jahren. Ich – und vermutlich auch das Unfallkrankenhaus –sind total froh, dass du heute nicht mehr mit dem Kopf durch den Steinboden willst, sondern ihn lieber auf ein weiches Kissen bettest.

Ja, als ich dich also damals das allererste Mal in meinen Armen hielt, da hab ich mir gewünscht, dass wir irgendwann einmal, wenn du erwachsen bist und ich alt bin, miteinander am Fensterbrett sitzen und reden und lachen und einander nahe sind, so von Frau zu Frau. Jetzt bist du halbwegs erwachsen und ich halbwegs alt und auf dem Fensterbrett sitzen wir nicht, weil das erstens total staubig ist, zweitens Grünpflanzen darauf stehen und und ich drittens bei meiner
Tollpatschigkeit längst aus dem Fenster gefallen wäre. Deshalb liegst du auf dem Sofa, zugedeckt mit drei Katzen, und ich sitz vor dem Feuer, mit Laptop am Schoß. Aber es vergeht kein Tag, an dem wir nicht miteinander reden, uns nahe sind und miteinander lachen, meistens über die gleichen Dinge – oder du über mich.
Anhänglich warst du immer schon. Als du noch klein warst, hast du dich an meinen Beinen festgeklammert und warst lange davon überzeugt, dein Name wäre „Klotzenbein“.

Klug warst du auch immer schon. Bereits mit drei hast du kapiert, dass in anderen Kulturen andere Sitten und Regeln gelten. „Bei der Oma im Waldviertel darf man nicht mit Gummistiefel im Bett hupfen“, hast du festgestellt. Mit sechs warst du die einzige, die am ersten Schultag bei der Frage, wer denn hier schreiben, lesen und rechnen lernen will, nicht die Hand gehoben hat. „Ich kann das schon“, hast du gesagt und nicht begriffen, was daran witzig gewesen sein soll.

Von wem du deine Coolness in Liebesdingen hast? Keine Ahnung. Von mir ganz bestimmt nicht. Ich wäre an deiner Stelle in Berlin geblieben. Aber ich bin froh, dass du zurückgekommen bist. Weil niemand sonst mir sagt, dass ich mich anständig benehmen, keine perversen Texte lesen und viel Wasser trinken soll, um die Demenz hinauszuzögern.

Weißt du, wir Mütter, wir glauben ja, an allem schuld zu sein, an der Fußballniederlage gegen Deutschland, der Weltwirtschaftskrise und sogar am Benehmen unserer Kinder.

Als deine Oma fand, dass du ein schlecht erzogenes Kind wärst, hast du trotzig gesagt: „Ich bin nicht schlecht erzogen, ich bin überhaupt nicht erzogen.“ Wie schön, dass aus dir trotzdem – oder deswegen?– so eine liebenswerte, warmherzige, feinfühlige, schlagfertige, wunderbare, witzige junge Frau geworden ist.

Wunderschön finde ich es, mit dir gemeinsam Geburtstag zu feiern. Weil manche meiner Freunde und Freundinnen längst auch deine geworden sind. Und manche von deinen gehören sowieso seit gefühlten hundert Jahren zur Familie. Was die Wahl unserer Freunde angeht, haben wir nämlich beide ein gutes Händchen.

So, jetzt muss ich dir noch etwas wünschen, das gehört sich so. Und mir auch.
Ich wünsche dir – Achtung Pathetikalarm! – das Leuchten der Sterne, die Freiheit des Meeres, das Lodern des Feuers, das wohlige Schnurren der Katzen und leuchtende Augen des X. Irgendwann eine eigene Familie, die genauso laut, schräg und lebendig ist wie unsere. Und bis dahin – jetzt weniger pathetisch – aufregende Männer, lustvolle Erfahrungen, Spaß im Leben und am Studium. Vor allem aber wünsche ich dir, das es dir mit deinen Freunden und Freundinnen genauso geht wie mir mit meinen. Dass sie mit dir feiern, blödeln, lachen, dein Glück teilen und dein Unglück reduzieren. Aber ich glaub, das werden sie eh.

Mir wünsche ich, dass wir auch in vielen Jahren noch am Fensterbrett... ähm... am Feuer sitzen und einander nahe sind.

Happy Birthday, Mäuschen.

Montag, 15. Oktober 2012

Come and read and listen

Die Rampensau schreibt und liest


Lesen tut sie das nächste Mal am 27.Oktober in Mistelbach.

Mein zehnjähriges Lesejubiläum. Und wie die erste Lesung ist auch das Jubiläum im Atelier von Christine Mark. Es gibt alte Texte und neue, kurze und lange, erotische und kühle, witzige und traurige, gute und schlechte. Dazu gibt es wunderschönen Schmuck, Taschen und Textilien.


Geschrieben hat die Rampensau zuletzt im Online-Standard. Meine Leidenschaft für Fußball kennt ihr ja schon. Hier lernt ihr auch meine Leidenschaft fürs Tickern kennen. Ich find das ziemlich aufregend, dass in meiner Lieblingszeitung ein Artikel von mir ist:

Du tick(er)st ja nicht richtig

Die Toll3sten gibt es das nächste Mal am 8. November. Aber davor meld ich mich eh noch mal.

Freitag, 12. Oktober 2012

Sag beim Abschied...

Ach, Tantchen,

„Was mich am Leben hält, ist mein Humor“, hast du vor drei Wochen gesagt und gelacht, obwohl du seit Jahren Schmerzen hattest. Ich hab dich in die Arme genommen und an mich gedrückt. Und geahnt, dass es das letzte Mal war.
Jetzt überschwemmen mich die Erinnerungen. An Samstage meiner Kindheit bei dir. Deine verrauchte, kleine Wohnung. Im Fernsehen Hans Moser und Paul Hörbiger, auf dem Plattenteller Peter Alexander und Hansi Kraus. Am Abend dann die Löwingerbühne. Es gab Frankfurter mit Semmeln, jeden Samstagabend. Zu Hause gab es nur Brot. Dein Gesicht war damals schon tief zerfurcht wie das von Lederstrumpf, zum Teil von den Smart, die du inhaliert hast, zum Teil von deiner Arbeit in der Gummifabrik. Aus der brachtest du immer kleine Kartonplättchen mit, zum Zeichnen, das war viel aufregender als auf Papier zu zeichnen. Und überhaupt war das Zeichnen bei dir aufregend, weil wir die 96-Stifte-Box hatten, weil dein Bruder in der Buntstiftfabrik gearbeitet hat.
Geborgen war es bei dir, und Verbote gab es nicht, zumindest kann ich mich nicht dran erinnern.

Du bist mir immer Vertraute geblieben. Vertraute und Vorbild. Du hast für mich für die Schule Knopflöcher genäht, aber sie haben der Lehrerin nicht gefallen.
Deine Nähmaschine, deine Freiheit und deine Selbstständigkeit waren deine höchsten Güter. Auf die Nähmaschine hast du irgendwann verzichtet, weil die Augen nicht mehr mitgemacht haben. Obwohl deine Lunge vom Krebs zerfressen war, obwohl du Schmerzen hattest und dein Herz und andere Organe angegriffen waren, hast du nie geklagt oder gejammert. „Geht eh“, hast du auf die Frage nach deinem Befinden gesagt und Kaffee für mich gekocht.
In der Liebe bist du keine Kompromisse eingegangen. „Den, den ich wollte, konnte ich nicht kriegen“, hast du mal gesagt, „und die anderen haben mich nicht interessiert.“ Zumindest nicht genug, um mit ihnen zu leben.

Als ich mich mit 18 in Bernd verliebt habe und alle mir abgeraten haben (zu Recht, wie ich später feststellen musste), hast du als einzige zu mir gehalten. „Tu, was du tun musst“, hast du gesagt, als ich von zu Hause ausgezogen bin und hast Bernd 10.000 Schilling geborgt, für die Reparatur seines Autos, obwohl du selber grad genug zum Überleben hattest. Er hat es nie zurückgezahlt. „Das verbuchen wir als Lehrgeld“, waren deine Worte, „aber sag’s nicht der Mama, die schimpft sonst mit mir.“

Als ich selber Kinder bekommen hab, ist deine Liebe nahtlos von mir auf sie übergesprungen. Du bist mit meinem Sohn stundenlang auf der alten Holzbank gesessen und hast mit ihm vorbeifahrende Traktoren bewundert. In ein paar Wochen hat er Geburtstag. Den ersten, den er nicht bei dir verbringt, denn er hat sich bei dir genauso wohl gefühlt wie ich, obwohl deine Wohnung längst eine andere war und es nicht mehr nach abgestandenem Rauch und Frankfurter Würsteln gerochen hat. Du warst da, als ich meine Tochter bekam und hast mich umsorgt und verwöhnt. Da war nie ein böses Wort von dir. (Nur meine löchrige Strumpfhose und mein knallroter Lippenstift haben dir nicht gefallen, aber das verzeih ich dir.)

Jetzt bist du tot. Jetzt kannst du mir nicht mehr erzählen, wie ihr euch im Krieg in der Waldhütte vor den Nazis versteckt habt, weil dein Vater Sozi war. Und von deiner Mutter, die Barbara hieß und nach der ich benannt bin.
Ich bin traurig, weil du nicht mehr bist. Aber irgendwie bin ich auch froh, dass dir ein Aufenthalt im Heim erspart geblieben ist. Das wäre nicht dein Leben gewesen, denn eines wolltest du nie: Von irgendjemandem abhängig sein.

Danke, dass du da warst. Und mir so viel gegeben und vererbt hast. Dein Lachen, deine Stärke, deinen Optimismus, dein Vertrauen in die Menschen. Deine Liebe zum Leben.
Servus, Tantchen.


Sag beim Abschied...

Sonntag, 7. Oktober 2012

Die Liste - 18

Schon absurd, dachte er und zeichnete kerzengerade Linien um die blau-roten Notizen auf dem Kalender, bis jeder Buchstabe in ein kleines, quadratisches Gefängnis gesperrt war – seine wichtigsten Listen schrieb er in Excel-Tabellen -, da hab ich mein Leben lang so gut wie nichts mit Frauen am Hut, und jetzt liegt bereits die zweite tot in meiner Wohnung. „In meiner Wohnung!“, hallte es in seinem Kopf. Die Stimme seiner Mutter.

„Wir müssen die Polizei rufen.“
Er sah auf. Frau Leitner hockte neben der Ärztin auf dem Boden, zwei Finger hatte sie auf den Hals der armen Frau gelegt. Frank beugte sich vor und erkannte aufgeregt, dass die Finger sich bewegten, womöglich im Rhythmus eines Herzschlages? Aber als er all das Blut sah, das immer noch aus der Stelle sickerte, wo ein Kugelschreiber sie so unglaublich perfekt durchbohrt hatte, dass er die Aorta direkt neben dem Herzen zerfetzte, wusste er, dass Frau Leitners Finger bloß zitterten.
Er schüttelte den Kopf. „Wir dürfen vor allem nichts überstürzen. Ich mach uns jetzt erst mal eine schöne Tasse Tee. Sie werden sehen, Tee hilft immer. Und dann überlegen wir uns gemeinsam, wie wir vorgehen. Sie können sich schon mal eine Überschrift für die Liste überlegen.“ Er nickte ihr aufmunternd zu, stand seufzend auf und verschwand in der Küche. Dort verharrte er regungslos, legte den Kopf schief und wartete auf das Geräusch, wenn die Wohnungstür ins Schloss fiel.

Klack. Ihm würde nicht viel Zeit bleiben, das wusste er. Während sich das Wasser im Kocher mühte, auf Temperatur zu kommen, klappte er seinen Laptop auf und öffnete einen Ordner, der den Titel ‚Alternativen‘ trug. Die erste Tabelle hieß Ausland. Weiter unten fand er, wonach er gesucht hatte. Mit einem Doppelklick beförderte er seine geordneten Gedanken, die er vor langer Zeit gehabt hatte, auf den Monitor und schenkte ihnen erneut das Leben (er stellte sich dann immer vor, dass all die unzähligen anderen Listen eifersüchtig waren; wie Kinder in einem Heim, die neidisch mitansahen, wie eines ihrer Geschwisterchen auf Zeit von einem netten Paar an die Hand genommen wurde und eine zweite Chance geschenkt bekam).
Selbstmordarten stand ganz oben in fetten Buchstaben. Mit ‚Abfackeln‘ ging’s los.
Er legte einen Teebeutel in den Becher mit dem Aufdruck ‚Muttis Liebling‘, goss heißes Wasser darauf und kramte in der Schublade der Kommode nach einer Schachtel Streichhölzer, die er dort vor langer Zeit für Notfälle deponiert hatte.

Und dann war er froh, dass er sich nach dem Tod des Hamsters nie mehr ein Haustier angeschafft hatte.

Ende

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

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"Pinguin"
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bonanzaMARGOT - 11. Mär, 11:11
Sleepless im Weinviertel
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... ich könnte mal wieder...
... ich könnte mal wieder eine brasko-geschichte schreiben.
bonanzaMARGOT - 8. Jan, 07:05
OHHH!
OHHH! Hier scheint bei Twoday etwas nicht zu stimmen. Hoffentlich...
Lo - 7. Jan, 13:36
OHHH!
OHHH! Hier scheint bei Twoday etwas nicht zu stimmen. Hoffentlich...
Lo - 7. Jan, 13:36
loving it :-)
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viennacat - 2. Jan, 00:51
Keine weiße Weste
Weihnachtsgeschichte in 3 Akten 1. „Iss noch was,...
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