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Samstag, 6. Oktober 2012

Die Liste - 17

„Psch-sch-sch-t, d-d-d-die N-n-nachb-b-barn.“ Frank legte die Hand auf Frau Leitners Mund, als diese noch einmal zu schreien begann. Er wollte niemandem Unannehmlichkeiten bereiten; wollte er noch nie. Nicht den Nachbarn, die sich jetzt über den ungewohnten Lärm in der Wohnung wundern könnten. Nicht der Frau Leitner, die ihre Rolle eine Spur zu perfekt gespielt und damit all seine verschüttet geglaubten Emotionen an die Oberfläche gespült hatte. „Still, Sie Hexe!“, fuhr er sie jetzt an, und noch bevor er sie fertig ausgesprochen hatte, taten ihm seine Worte leid. „Entschuldigung.“
Er hatte auch der freundlichen Ärztin keine Unannehmlichkeiten bereiten wollen. Warum lag sie da auf dem Boden? „Möglicherweise der Kreislauf“, dachte er, „vielleicht sollte ich die Heizung zurückdrehen.“
Wie oft er gefroren hatte in der Wohnung. Seine Mutter hatte nicht nur mit menschlicher Wärme, sondern auch bei den Energiekosten gespart. „Zieh dir doch eine Wollweste an, Fränkieboy“, hatte sie gesagt, wenn es ihn vor Kälte geschüttelt hatte. Nicht einmal die elektrische Heizdecke, die sie sich auf einer der seltenen Verkaufsfahrten aufschwatzen lassen hatte, durfte er in Betrieb nehmen. „Was da passieren kann, Frank!“
Wie gesagt, Frank hatte keine Ahnung, warum die Ärztin auf dem Boden lag. Ihr Lächeln wirkte seltsam blass, auf ihrer weißen Bluse breitete sich langsam ein roter Fleck aus. An der Spitze des Stiftes, den er immer noch mit seiner Faust umklammert hielt, klebte Blut. Was war geschehen? Nein, er wollte diesen beiden Frauen, also der Ärztin und der Frau Leitner, keine Unannehmlichkeiten bereiten. Und sich selbst auch nicht.
Eine Liste, dachte Frank Fodor. Ich brauche eine Liste. Den Computer ließ er ausgeschaltet, er nahm den Tischkalender vom vergangenen Jahr aus der Schublade der Kommode. Mit dem Stift in der Hand schrieb er:
1) Situation beruhigen
Kurz wunderte er sich darüber, dass die ersten Buchstaben rot waren, schrieb aber unbeirrt weiter.
1a) mich beruhigen.
Er machte die Atemübungen, die sein Therapeut ihm beigebracht hatte. Ließ Luft und Anspannung los, um seinen Brustkorb beim nächsten Einatmen mit frischer Luft zu füllen.
1b) Frau Leitner beruhigen

„Setzen Sie sich bitte.“ Er stand hilflos auf und zog einen Stuhl für sie zurück. Sie zitterte am ganzen Körper und setzte sich gehorsam.
„Ich gebe Ihnen gleich etwas zur Beruhigung.“ Ihm schien, dass sie ihn ein wenig starr ansah. „Sie können jetzt übrigens aufhören, meine Mutter zu spielen. Keine Angst, Sie bekommen das Geld wie vertraglich vereinbart.“ Sie schwieg.
Frank konzentrierte sich auf die Liste. Was waren seine nächsten Schritte? Die Rettung und die Polizei anrufen? Aber wie sollte er erklären, was geschehen war, wenn er es selbst gar nicht wusste?

Fortsetzung folgt

Freitag, 5. Oktober 2012

Die Liste - 16

Vier Herzschläge lang hörte die Ärztin auf, Franks Hand zu tätscheln. Ihre Hand schwebte über seiner in der Luft, das Lächeln auf ihrem Mund, das sie wahrscheinlich im Laufe ihres Berufes perfektioniert und automatisiert hatte, fror ein und wurde zur Grimasse. Wäre Frank in diesen Sekunden nicht in der Eingangshalle des Wahnsinns gewesen, den Stift zwischen den Fingern, bereit zum Einchecken, hätte er erkannt, dass in diesem Moment ein Schalter in der Ärztin umgelegt wurde. Ab sofort glaubte sie ihm jedes Wort. Er bekam nichts mit davon. Viel zu sehr war er damit beschäftigt, die Auswirkungen seines Geständnisses zu verarbeiten. Was nur allzu verständlich ist; vielleicht war es nur einem Menschen ohne jeglichen Zugang zu den banalsten seiner Gefühle möglich, seine Mutter im Keller einzumauern und mit dieser ungeheuerlichen Tat jahrelang ein nach außen hin völlig normales Leben zu führen. Aber Frank war kein solcher erloschener Vulkan. Er brach aus und explodierte. Alles Mögliche spie er aus und es purzelte heillos durcheinander. Hass, Ekel, Schuld, Reue, sein Gewissen, Erleichterung, Rechtfertigung, Trauer. Vielleicht sogar Liebe.

Und Angst. Aufgestaute, faulige, stinkende Angst, entdeckt zu werden; er hätte laut lachen mögen, diese Last dieses tonnenschweren Geheimnisses, das seine Schultern einknickte und seinen Blick beim Einkaufen auf den Boden heftete, endlich abgeschüttelt zu haben. Er hätte seinen Kopf gegen die Wand schlagen können, bis seine Stirn ein Loch hätte, aus dem Hektoliter Scham als zähflüssiger, eitriger Brei herausgesickert wäre. Er hätte einen ausschweifenden, philosophischen Vortrag über Moral und Ethik halten können, an dessen Ende feststand, dass er auf höherer Ebene verständlich, richtig und sogar zwingend nötig gehandelt hatte. Er hätte weinen können, weil seine Mutter tot war. Er hätte einen Luftsprung machen können, weil seine Mutter tot war.
Aber die Angst herrschte über allem, griff nach dem Zepter und wies die anderen Gefühle und Affekte auf die Plätze.
Als plötzlich auch noch seine Nachbarin, Marianne Leitner, in der Tür zum Wohnzimmer stand - das hellblaue Nachthemd seiner Mutter baumelte zwei Nummern zu groß an ihrem Körper - und einen spitzen Schrei ausstieß, hallten noch die letzten Worte der Ärztin in seinem Kopf nach: „Ich schreibe Ihnen etwas zur Beruhigung auf.“

Er hob den Kopf, löste seinen Blick von der Ärztin, die regungslos auf dem Teppich lag, und sah seine Nachbarin als unheimliche, verschwommene Erscheinung. Sie hatte eine Hand vor den Mund geschlagen. „I-i-i-ich ha-ha-habe sie nicht um-um-umgebracht“, stieß er mit Tränen in den Augen hervor. Sein Stottern hatte wieder angefangen.

Fortsetzung folgt

Donnerstag, 4. Oktober 2012

Die Liste - 15

„Los“, nickte die Ärztin ihm zu, „kümmern Sie sich um Ihre... Mutter.“
Die Pause zwischen den Wörtern Ihre und Mutter kam Frank unendlich lang vor. Und kroch da ein böses Lächeln in den Mundwinkeln der Ärztin aus seinem Versteck?
„Frääänkiboy!“
Von einem Augenblick auf den anderen brach das Konstrukt in Frank Fodors Gedanken in sich zusammen wie die Seilbahn in seinem Lieblingsfilm Alexis Sorbas. Den hatte er dreimal gemeinsam mit seiner Mutter gesehen. Alles aus, dachte er. Es ist alles vorbei. Sein Körper schaltete auf erhöhte Alarmbereitschaft. Panik stieg in ihm auf und schnürte ihm den Hals zu. Sein Herz pumpte verzweifelt Blut, seine Muskulatur wurde steif und verkrampft. Sein Körper bereitete sich auf die beiden Alternativen vor: Kampf oder Flucht.
Neben der Panik machte sich plötzlich auch Erleichterung in seinem Körper breit und kappte die Schnur, die ihm den Atem nahm. Er atmete tief ein und aus. Kampf oder Flucht? Sein Hirn entschied sich für eine dritte Variante. Den Wahnsinn. Und dann lachte er, laut und befreit. Er konnte kaum noch aufhören mit dem Lachen.
„He Boss“, rief er, „hast du jemals erlebt, dass etwas so bildschön zusammenkracht?“ Waren diese Worte tatsächlich aus seinem Mund gekommen?
„Herr Fodor? Alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte die Ärztin besorgt.
„Frääänkiboy!“, rief seine Mutter.
Sein Lachen verstummte. „Sie ist nicht meine Mutter“, sagte Frank. Jetzt schluchzte er. „Sie ist überhaupt nicht meine Mutter. Meine Mutter ist tot.“
„Beruhigen Sie sich, Herr Fodor!“ Sie eilte in die Küche und brachte ihm ein Glas Wasser. „Trinken Sie!“ Frank trank. „Wir alle schämen uns manchmal für unsere Eltern. Nehmen Sie ihr ihr Verhalten nicht übel, sie ist alt und krank.“ Die kleine Frau stellte sich auf die Zehenspitzen und nahm ihn in den Arm, hilflos und tröstend.
„Mutter ist im Keller“, presste Frank hervor. „Sie ist tot.“
Sie nahm ihm das Glas Wasser wieder ab, schob ihn in die Küche und drückte ihn in den Stuhl. „Ja, das haben Sie schon gesagt. Alles wird gut, Herr Fodor. Es ist normal, solche Gedanken zu haben. Sie haben sich anscheinend in den letzten Jahren mit der Pflege ihrer Mutter übernommen. Ich ruf jetzt mal einen Arzt an und bleib bei Ihnen, bis er kommt.“
„Ich dachte, Sie sind Arzt?“
Jetzt lächelte sie wieder und zwinkerte. „Ja, aber nicht so einer.“
„Frääänkiboy!“, tönte es aus dem Schlafzimmer seiner Mutter. „Was ist mit dir?“
„Ich hab sie nicht umgebracht“, sagte Frank zur Ärztin, die jetzt neben ihm saß und seine Hand tätschelte, „das müssen Sie mir glauben.“
„Natürlich haben Sie sie nicht umgebracht“, bestätigte sie mit beruhigender Stimme. „Niemand hat sie umgebracht.“
„Genau. Ich hab sie nur eingemauert.“

Fortsetzung folgt

Trailer



Wir starten jetzt durch. Oder so.
Auf jeden Fall haben wir einen Trailer. Und ich find, der ist richtig gut gelungen.

Einen Facebook-Account haben wir Toll3sten bzw. "Tolldreiste Weiber" auch. Wenn ich mich da auch noch nicht richtig zurechtfinde.

Sonntag, 30. September 2012

Die Liste - 14

Frank spürte kalten Schweiß in seinen Achselhöhlen und kompensierte den Drang, an seinen Fingernägeln zu knabbern, indem er stattdessen seine Unterlippe bearbeitete. „Natürlich. Vermutlich schläft sie gerade.“ Er stand auf und ging mit wackeligen Beinen zum Schlafzimmer. An der Tür stoppte er und drehte sich zur Ärztin um. „Also, denken Sie sich bitte nichts dabei, wenn sie wirres Zeug faselt. Sie weiß manchmal nicht, wo sie ist.“
Die Ärztin nickte verständnisvoll, und Frank warf einen besorgten Blick auf ihren Koffer. Was mochte da drin sein? Er hoffte, es möge sich nur um Listen handeln. Arzt-Listen.
Er öffnete die Tür einen Spalt weit und lugte ins Zimmer. Er atmete durch. Wie abgesprochen, lag seine Fake-Mama im Bett, das Gesicht der Wand zugedreht, die Decke bis zum Hals gezogen und stellte sich schlafend. Er ließ die Tür aufgleiten und bat die Ärztin, einzutreten. Sein Herz klopfte so stark, dass er meinte, sein Hawaii-Hemd würde sich im Takt ausbeulen. Er wischte sich die nassen Hände an den Hosenbeinen ab und blieb wie angenagelt im Türrahmen stehen, während sich die Ärztin Latexhandschuhe überstreifte, einen Stuhl ans Bett stellte, den Koffer auf den Boden daneben. Sie lächelte ihn an. „Ich muss Sie bitten, mich ein paar Minuten mit Ihrer Mutter alleine zu lassen. Machen Sie sich keine Sorgen. Alles Routine.“

Mit einer Tasse Earl Grey setzte er sich an den Küchentisch. Diese Momente waren ihm nicht fremd. Manchmal überfielen sie ihn aus heiterem Himmel, manchmal aus konkretem Anlass, zum Beispiel wenn er in den Keller hinuntermusste, um Kartoffeln zu holen. Immer ging es um das Eine: die Grenze zur Panik auf gar keinen Fall zu überschreiten. Gegen die schlimmen Gedanken konnte er nichts machen, die kamen, wie es ihnen passte. ‚Heute kommt alles raus.‘ ‚Die Nachbarin macht einen Fehler.‘ ‚Die Ärztin hat Mama schon mal untersucht und sich einen ihrer Leberflecke gemerkt.‘ ‚Das Haus brennt ab, muss abgerissen werden, Mama purzelt aus der Mauer.‘ Usw.
Natürlich hatte er eine passwortgeschützte Liste mit allen möglichen Fällen, in denen Leichen eingemauert wurden. Das Internet war voll davon. Sogar E. A. Poes Schwarze Katze hatte er in der gruseligen Statistik festgehalten. Die Bilder von toten Menschen, ihre Gesichter mit Staub überzogen, in den Haaren kleine Zementbrocken, breiteten sich wie automatisch vor seinen Augen aus. Auch ein Schäferhund war dabei. Er kannte das. Und hatte mit den Jahren eine recht probate Abwehrstrategie entwickelt: eine Tasse Tee und die schlimmen Gedanken mit Gegen-Gedanken bekämpfen. Warum war das Netz voll mit Mauer-Toten (ob auch Leichen in die Berliner Mauer eingemauert waren?)? Weil die Idioten sich erwischen ließen. Mama würde nie im Internet auftauchen. Er hatte den guten Zement verwendet. Und wenn das Haus abbrannte, würde die Leiche mitverbrennen. Und überhaupt: Sie ist mir was schuldig. Und sei es auch nur das Pflegegeld. Moralisch bin ich auf der sicheren Seite, jedes Gericht der Welt würde das so sehen. Das Positive gewann allmählich die Überhand, die Panikattacke zog sich in ihr Häuschen zurück. Der Tee beruhigte ihn zusätzlich. Er schloss die Augen und brachte schon wieder ein Lächeln zustande.

Erst die Stimme der Ärztin riss ihn aus seinem meditativen Zustand.
„Herr Fodor?“
Er stand auf und musterte die Frau. „Alles in Ordnung?“, fragte er.
Sie zog sich die Gummihandschuhe aus, stopfte sie in ihre Jackentasche und reichte ihm die Hand. In der anderen trug sie den Koffer. „Alles in Ordnung. Sie bekommen dann alles schriftlich.“
Als er ihr die Hand gab, war ihre nass und warm. Bei der Begrüßung war sie warm und trocken gewesen.
Er wollte gerade die Haustür öffnen, als sein Name mit schriller Stimme aus dem Schlafzimmer gerufen wurde. „Frääänkiboy!“

Fortsetzung folgt

Donnerstag, 27. September 2012

Die Liste - 13

Der Gutachter der Pensionsversicherungsanstalt hatte sich für zehn Uhr angekündigt. Marianne Leitner lag bereits um neun fix und fertig kostümiert (sie trug Mutters altrosafarbenes, zerschlissenes Lieblingsnachhemd, Kompressionsstrümpfe und die Echthaarperücke) und geschminkt im Bett. Frank war mit ihr noch ein letztes Mal die von ihm erstellte Liste der zu vermutenden Fragen und plausiblen Antworten durchgegangen. Mutter wäre zunehmend verwirrt und spräche kaum noch etwas. Aus dem Haus ging sie nicht mehr, weil sie sich nicht mehr zurechtfände, inkontinent wäre sie nicht. Überhaupt hätte sie kaum körperliche Beschwerden (die Gefahr, dass der Schwindel im Falle einer körperlichen Untersuchung auffliegen würde, war zu groß, denn ein 40jähriger Körper unterschied sich trotz Maske beträchtlich von einem 80jährigen), sondern würde lediglich an Altersverwirrtheit sowie einer leichten Depressionen verbunden mit Antriebslosigkeit leiden.
Er verdammte seine Mutter für die Gier, die sie den Pflegegeldantrag hatte stellen lassen, obwohl sie gesund war. Pumperlxund, wie sie sonst ständig betont hatte. Er hatte bei der Untersuchung ein halbes Jahr vor ihrem plötzlichen Tod überrascht festgestellt, dass seine Mutter über erhebliches Schauspieltalent verfügte.
Frank gestand sich ein, dass er von der Gier seiner Mutter durchaus profitiert hatte. Durch dieses zusätzliche Einkommen hatte sich auf dem Sparbuch zwar kein Vermögen, aber doch eine beruhigende Summe angesammelt.
Jetzt war Frank Fodor allerdings alles andere als beruhigt. Er konnte kaum Mutters Schlafzimmer betrteten, ohne diese unbändige Wut zu spüren. Von wegen affektflach, dachte Frank. Sein Therapeut würde stolz auf ihn sein, wenn er ihm über seine Gefühle berichtete. Er würde sagen: „Sehr gut, Frank. Lassen Sie die Wut ruhig zu. Lassen Sie sie raus.“
Es kostete ihn Anstrengung, sich bewusst zu machen, dass diese Wut seiner Mutter und nicht seiner Nachbarin, die ihm lediglich einen Gefallen tat, galt.

„Ich weiß, ich darf nichts fragen“, hatte Frau Leitner vorhin gefragt, „aber wie lange wollen Sie dieses Spiel weiterspielen? Irgendwann muss Ihre Mutter ja offiziell sterben, oder soll sie 120 Jahre alt werden?“
Frank hatte den Zeigefinger auf die Lippen gelegt und nicht geantwortet.
Natürlich hatte er sich darüber längst Gedanken gemacht und eine Liste mit möglichen Lösungen erstellen. Lösungen, die keine Leiche brauchten. Aber jetzt ging es erst einmal darum, diese Situation unbeschadet zu überstehen.

Der Arzt entpuppte sich als Ärztin. Eine Frau in seinem Alter, aber im Gegensatz zu ihm hatte sie es geschafft, im Leben zu bestehen. Mutter wäre so stolz auf ihn gewesen, wenn er es zum Anwalt oder wenigstens zum Arzt gebracht hätte. Aber Mutter hatte nie einen Grund gefunden, auf ihn stolz zu sein. Den fünfzehn Zentimeter großen Pokal, den er – wie alle anderen teilnehmenden Kinder - bei einem Tretrollerrennen gewonnen hatte, bezeichnete sie als Staubfänger und hatte ihn gemeinsam mit seiner Freude in den Mistkübel gesteckt.
„Mutter schläft“, versuchte Frank die Konfrontation zwischen echter Ärztin und falscher Mutter hinauszuzögern und bot der Ärztin Kaffee an. „Ich kann Ihre Fragen gerne beantworten.“
Geduldig beantwortete Frank Fragen nach den Symptomen, die er im Internet nachgelesen hatte. Sie wüsste oft nicht, wo sie war und was sie gerade tun wollte, würde sich immer mehr zurückziehen, wirke ängstlich und passiv. Sie würde ihm immer wieder unterstellen, sie zu bestehlen. Letztens hätte sie ihn sogar beschuldigt, ihr die Zahnprothese versteckt und Geld aus ihrer Börse entwendet zu haben. Frank presste bei der Schilderung über den Gesundheitszustand seiner Mutter ein paar Tränen hervor (Frau Leitner hatte diese Szene vorhin mit ihm geübt). Mutter wäre so undankbar, sagte er, obwohl er sie so aufopfernd pflegte.
„Das klingt nach einer beginnenden Demenz“, nickte die Ärztin und legte ihm tröstend die Hand auf den Unterarm. „Das ist für Angehörige oft sehr schwierig. Sie dürfen das nicht persönlich nehmen. Sie sollten sich zu Ihrer Entlastung zusätzliche Hilfe durch einen ambulanten Dienst organisieren. Haben Sie sich schon mal überlegt, dass Ihre Mutter in eine Seniorenresidenz übersiedelt?“
Frank schüttelte vehement und tapfer den Kopf. „Niemals! Ich schaffe das schon alleine. Sie ist meine Mutter, sie war ein Leben lang für mich da, jetzt möchte ich ihr etwas zurückgeben.“ Er wunderte sich, wie leicht ihm das Lügen fiel.
„Ich möchte Ihre Mutter jetzt gerne sehen.“

Fortsetzung folgt

Dienstag, 25. September 2012

Die Liste - 12

Als es Zeit für seinen Nachmittagstee wurde, war Frank endlich wieder hoffnungsvoll. Seine zweite Mutter saß mit ausgestreckten Beinen erschöpft auf dem braunen Cord-Sofa und fächelte sich mit einer Zeitschrift Luft ins Gesicht.
„Ich hab mich immer gefragt, wer diesen Schund liest“, rief sie ihm in die Küche zu, wo er gerade das heiße Wasser in die Teekanne füllte. Frank bekam immer noch monatlich die neueste Ausgabe von Himmlische Wesen zugestellt. Er stellte sich vor, dass die Redaktion einer Zeitschrift, die sich mit nichts anderem als Engeln befasste, sofort hellhörig wurde, wenn eine treue Leserin nach über 20 Jahren plötzlich den Bezug einstellte. Vielleicht machten sie dann sogar besorgte Hausbesuche.
„Sie ist nun selbst so ein Wesen“, sagte er und stellte das Tablett mit Tee und Keksen auf den Wohnzimmertisch. „Hoffentlich ohne Flügel.“
„Wo ist sie eigentlich? Auf einem Friedhof ja wohl kaum?“ Marianne knabberte an einem Keks und stellte die Frage ganz beiläufig. Es fiel Frank schwer, sie anzusehen; zu groß war die Ähnlichkeit, zu unverarbeitet die Erinnerungen. Die Mixtur aus Angst und Hass ließ in ihm den Wunsch aufkommen, seine Hände um ihren Hals zu legen und sich gleichzeitig unter seinem Bett zu verstecken.

„Gut, dass Sie fragen“, sagte er und war froh, als er aufstehen konnte, um einen Aktenordner aus dem Bücherregal zu holen. Er entnahm ihm das oberste Blatt Papier und stellte ihn wieder zurück in den Schrank. „Es läuft so. Sie bekommen die ersten 500, sobald Sie diesen… nennen wir es Arbeitsvertrag unterschrieben haben. Und sobald der Arzt seine Unterschrift unter den Pflegegeld-Antrag gesetzt hat, die restlichen 1000.“
Die Nachbarin/Hexe/Mutter runzelte die Stirn, suchte vergeblich Franks Blick und studierte aufmerksam die Vereinbarung, die natürlich in Listenform gefertigt war. Einmal wanderten ihre Augen nach links, wo Frank fünf glatte Hunderter neben ihre Teetasse legte. „So, so“, sagte sie schließlich, „Sie haben ja wirklich an alles gedacht. Keine Fragen nach ihrem Verbleib, kein Wort zu einer dritten Person. Keine Angst, ich hatte ohnehin nicht vor, eine der Requisiten zu behalten. Aber eine Frage habe ich noch, die müssen Sie mir gestatten. Haben Sie Ihre Mutter umgebracht? Mit Mördern mache ich nämlich keine Geschäfte.“
Frank dachte über diese Frage nach. Die Todesursache war ungeklärt, klar. Es gab keinen Totenschein, auf dem „Plötzliches Herzversagen“ oder „Gehirnschlag“ stand. Frank dachte an die Verwünschungen seiner Mutter, ihre regelmäßige Feststellung, was für ein Pech sie mit so einem Sohn hatte, ihre knochigen Arme, die ihn umschlossen, die ledrige Hand, die ihn ins Gesicht schlug und ihr trauriges, verzweifeltes Gesicht, wenn sie ihm wieder mal erklärte, dass er nie eine Frau finden würde. Er war sich sicher, dass Kummer die einzig vernünftige Erklärung für Mamas Tod war.
„Nur in Gedanken“, antwortete er schließlich, und Marianne konnte Frank zum ersten Mal lachen sehen.

Fortsetzung folgt

Montag, 24. September 2012

Die Liste - 11

„Wenn Sie Ihrer Mutter einen für sie typischen Satz in den Mund legen müssten, welcher wäre das?“
„Hm.“ Frank dachte nach. Er schwankte zwischen Was hab ich da bloß für einen Versager auf die Welt gebracht? und Das Leben hat es nicht gut gemeint mit mir. Er entschied sich für Letzteres.
„Das Leben hat es nicht gut gemeint mit mir“, Frau Leitner nahm eines der Halstüchter von der Garderobe und legte es sich um die Schultern. Dann umrundete sie mit hängenden Schultern den Tisch. „Das Leben hat es gar nicht gut gemeint mit mir.“ Über ihre Wangen liefen Tränen.
„Ja, Mama, das Leben hat es nicht gut gemeint mit dir“, sagte Frank automatisch und war fasziniert von der Ähnlichkeit im Klang der Stimme von Frau Leitner und seiner Mutter.

Sie war jetzt seit drei Stunden da. Ihren Kaffee hatte sie mit Milch und Zucker getrunken, wie Mama, und sich dann sofort auf ihren Job konzentriert. Sie hatte in alten Fotoalben geblättert, vergilbte Briefe gelesen und Frank über das Leben seiner Mutter ausgefragt. „Das Leben hat es tatsächlich nicht gut gemeint mit mir“, seufzte sie.
Sie notierte sich die Ernährungsgewohnheiten seiner Mutter, sah sich in derem Kleiderschrank um, fühlte die Stoffe zwischen ihren Fingern, probierte einen geschmacklosen grauen Wollrock und eine gestärkte Bluse und legte Rudi Schuricke auf den Plattenteller. Als Florentinische Nächte erklangen, zuckte Frank vor Schmerz zusammen. Das Lied hatte seine Mutter auf der Fahrt zum Gardasee permament und penetrant gesungen.

„Ist das denn wirklich notwendig?“ fragte er ein klein wenig gereizt. Die Schauspielerin, die er sonst immer engagiert hatte, hatte sich weit weniger kompliziert angestellt. „Sie brauchen sich doch nur ins Bett zu legen, wie meine Mutter auszusehen, sich untersuchen zu lassen, und hin und wieder mit dem Kopf zu nicken oder zu schütteln.“
„Frankieboy“, jetzt tätschelte sie ihm den Kopf, „du musst deine alte Mutter nicht siezen. Mich auch nicht, ich heiße übrigens Marianne.“ Sie hielt ihm die Hand hin und er schüttelte sie.
„Frank“, sagte er, „Frank Fodor.“
„Außerdem scheinst du du keine Ahnung von Schauspiel zu haben“, sie setzte sich die Perücke auf den Kopf und trug Lippenstift auf. Sie wurde ihr immer ähnlicher, und da war es wieder, dieses vertraute, enge Gefühl in seinem Hals. „Method Acting nennt man diese Methode“, fuhr sie fort, „ich muss deine Mutter spüren, um sie spielen zu können, verstehst du? Spüren, fühlen, schmecken, hören. Sie mit allen Sinnen erfassen. Wonach hat sie gerochen?“
„Ich weiß nicht genau.“ Er hatte keine Lust, Marianne Leitner über seine Anosmie zu erzählen, aber er brauchte sie. „Vermutlich nach Mottenkugeln und Lavendelsäckchen.“

Fortsetzung folgt

Samstag, 22. September 2012

Die Liste - 10

Er beschloss, alles auf eine Karte zu setzen. Ganz abgesehen davon: Hatte er eine Wahl? Sicher, er konnte Pech und sich in dieser Person komplett getäuscht haben; und es war ja auch nicht so, dass er Gelegenheit gehabt hätte, sich ein besonders umfassendes Bild von ihr zu machen. Hier verließen ihn seine Listen, die ihm höchstens verrieten, welchen Rock Frau Leitner an welchem Tag getragen hatte. Es bestand die Möglichkeit, dass sie zur Polizei ging und alles auffliegen ließ, da machte er sich nichts vor. Aber es ging um so viel. So viel Geld. Regelmäßige Kontoeingänge. Ruhe für die nächsten Jahre. Und wer wäre für seine verrückte, strafbare Schmierenkomödie besser geeignet als eine Laien-Schauspielerin mit einem waschechten Raben auf der Schulter?

Er brauchte nur eine Minute. Ein paar grausige Details ließ er weg, zum Beispiel, dass Mama im Keller in eine Wand eingemauert war.
„Deshalb brauche ich eine Mutter. Für zirka eine Stunde“, schloss er seinen Vortrag. Sein Blick flitzte zwischen dem Raben und der Hexe hin und her. Sie hatte ihm stumm zugehört, nur einmal das rechte über das linke Bein geschlagen und sah ihn jetzt mit so ausdruckslosen Augen an, dass Frank sich einen Fingernagel zwischen die Zähne steckte; eine der fünf Todsünden, die er sich längst abgewöhnt und für die seine Mutter ihn zu Lebzeiten mit dem Teppichklopfer verdroschen hatte.

Es klingelte an der Tür. Im Aufstehen fragte sie ihn: „Was bekomme ich dafür?“ und verließ ohne seine Antwort abzuwarten das Zimmer.
Er hörte Stimmengemurmel aus dem Flur, der Rabe krächzte aufgeregt. Frank stellte sich vor, wie die Hexe Hillary einen Zauberer a la Gandalf umarmte, als sie plötzlich wieder im Türrahmen auftauchte. „Mein Besuch ist da. Also: wie viel?“
Frank nannte die Summe, die er der arbeitslosen Schauspielerin gezahlt hatte und schlug noch 50 Prozent drauf. Frau Leitner pfiff durch die Zähne.
„Wir haben aber kaum Zeit, und wenn man uns durchschaut…“ Er dachte an das Bild des Gefängnis-Insassen, das ihm sein Therapeut gezeigt hatte, „… das ist kein Kavaliersdelikt. Das ist kein Theaterstück für Kinder, wissen Sie.“
„Nein, ist es nicht“, bestätigte seine Nachbarin. „Es ist aber ein schönes Abenteuer. Ich komme morgen früh zu Ihnen, zur ersten Probe. Meinen Kaffee trinke ich mit Milch und Zucker. Und jetzt muss ich Sie bitten, zu gehen.“
Mitten im Treppenhaus blieb Frank Frodor stehen und überlegte, ob er Abenteuer mochte.

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

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"Pinguin"
"Pinguin"
bonanzaMARGOT - 11. Mär, 11:11
Sleepless im Weinviertel
Ich liege im Bett. Ich bin müde. Ich lese. Eine Romanbiografie...
testsiegerin - 13. Jan, 11:30
... ich könnte mal wieder...
... ich könnte mal wieder eine brasko-geschichte schreiben.
bonanzaMARGOT - 8. Jan, 07:05
OHHH!
OHHH! Hier scheint bei Twoday etwas nicht zu stimmen. Hoffentlich...
Lo - 7. Jan, 13:36
OHHH!
OHHH! Hier scheint bei Twoday etwas nicht zu stimmen. Hoffentlich...
Lo - 7. Jan, 13:36
loving it :-)
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viennacat - 2. Jan, 00:51
Keine weiße Weste
Weihnachtsgeschichte in 3 Akten 1. „Iss noch was,...
testsiegerin - 16. Dez, 20:31
ignorier das und scroll...
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testsiegerin - 27. Okt, 16:22

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