„Verlieben Sie sich bloß nicht in mich.“ Er zog sie mit seinen Armen an sich und schob sie mit Worten von sich weg.
„Niemals!“ Sie spreizte die Beine und er kam in sie. In ihr.
Sie wussten es beide. Das, was da zwischen ihnen war, hatte keine Zukunft. Sie spürten aber auch: Das, was da ist, hat Gegenwart.
Ich pass auf mich auf, log sie und legte nach und nach ihren papierenen Panzer ab. Wenigstens der sollte nicht zerreißen, wenn es sie zerriss. Dann lieferte sie sich schutzlos aus, ihrem Hunger, seinem Körper, ihren Gefühlen. Sie wollte sich nicht anstecken, nicht mit den drei schlimmsten Krankheiten der Menschheit: Furcht, Zweifel und Zögern.
Nur Leichtigkeit, Genuss und Lust. Gimme five.
Keine Versprechungen. Doch fast unbemerkt schlich sich Nähe zwischen die nassen Küsse. Vertrauen zwischen schwitzende Leiber. Freundschaft zwischen klammernde Schenkel. Hoffnung zwischen dreckige Fantasien.
„Ich kann nicht mehr.“
Es ist nicht wichtig, von wem diese Worte kommen. Es war klar, irgendwann würden sie fallen. Jetzt liegen sie zwischen ihnen, neben der Hoffnung, winden sich vor Schmerzen auf dem samtroten Teppichboden des kitschigen Hotels. Ihr Selbstwert kriecht durch eine Ritze in der Holzleiste unter den Teppich. Nicht schön genug, schluchzt er. Nicht schlau genug. Nicht witzig genug. Nicht sexy genug. Nicht frei genug.
„Wie geht es jetzt weiter?“, fragt sie leise.
„Wie bisher, nur ohne Ficken.“
„Gut. Also dann. Auf den Beginn einer wunderbaren Freundschaft.“
Sie schaut ihn nicht an. Ihr Blick ist auf den Teppich gerichtet. Die Hoffnung löst sich aus den verzweifelten Umklammerungen der Traurigkeit und zwinkert ihr zu.
Lachen. Weinen. Halten. Loslassen. Lieben.
„Wie gut“, denkt sie, „dass ich mich nicht verliebt habe.“
Vergiss es nicht...
...
vergiss es nicht mein wildes Herz,
und liebe sehnlich jede Lust
und liebe auch den bittren Schmerz
eh Du für immer ruhen musst.
(H. Hesse)
testsiegerin - 19. Mai, 11:59
„Hallo Mama!“ Dorina schließt leise die Tür hinter sich. Jeden Samstag besucht sie ihre Mutter im Pflegeheim. Aus Pflichtgefühl einerseits, aber auch aus Hoffnung.
Als ihre Blicke aufeinandertreffen, fällt die Hoffnung zu Boden und zerbricht leise. Es ist ein vertrautes Geräusch, für beide Frauen.
Dorina küsst ihre Mutter auf die Stirn.
„Kind, wie schaust du denn schon wieder aus?“, zupft diese an ihrem kurzen Kleid. „Ist denen in der Fabrik der Stoff ausgegangen?“
„Hauptsache, dir geht die Boshaftigkeit auch im Alter nicht aus, Mama.“ Dorina öffnet den Schrank und schaut die Unterwäsche ihrer Mutter durch. Wenigstens das Pflichtgefühl ist noch da. Sie faltet die Kombinesch sorgfältig und gibt sie in das andere Fach, eine zerfledderte Unterhose stopft sie in ihre Tasche. Ihre Mutter würde nicht zulassen, wenn sie die vor ihren Augen in den Mistkübel werfen würde. „Brauchst du irgendwas, Mama?“
Ihre Mutter blickt demonstrativ aus dem Fenster, hinaus in den Park. Dort schiebt ein junger Pfleger eine alte Dame im Rollstuhl. „Was ich brauche, kannst du mir sowieso nicht geben“.
„Du konntest mir auch nicht geben, was ich gebraucht hätte“, murmelt Dorina. Pflichtgefühl, lass mich bitte jetzt nicht im Stich, denkt sie und sagt: „Komm, ich mach dir die Haare.“
Die beiden Frauen halten sich am Ritual fest. Schweigend kämmt Dorina ihr das feuchte Haar, schweigend reicht ihr die Mutter einen Lockenwickler nach dem anderen und zuckt vorwurfsvoll zusammen, wenn Dorina zu fest rollt oder den Wickler mit der Nadel unsanft fixiert.
Auch das Schweigen sticht fest zu und schmerzt. Als Dorina den Stielkamm auf die Kommode legt, fällt das gerahmte Sepia-Bild mit dem Soldaten in Uniform um. Dorina lässt es liegen.
„Ach, wenn er doch nur noch am Leben wäre.“ Ihre Mutter schlägt ein Kreuzzeichen. „Aber der Herrgott hat ihn zu sich geholt.“
„Der Herrgott sicher nicht. Eher der Teufel.“ Dorina wickelt fester. Halt dich im Zaum, denkt sie, es hat keinen Sinn mehr. Zu spät, wir werden das nicht mehr ausräumen. Mach nicht das bisschen Nähe auch noch kaputt. Es ist nicht klar, ob die Gedanken ihr selbst oder ihrer Mutter gelten.
„Ich hätt mich auch umbringen sollen, als er da in der Garage gehängt ist. Das wäre besser gewesen.“ Der Körper der alten Frau vibriert, nur ein wenig erst, doch nach und nach wird das Schütteln stärker.
„Du sollst dich nicht aufregen, Mama. Dein Blutdruck ist ohnehin viel zu hoch. Was hat es denn heute zu essen gegeben?“ Dorina wendet sich ab, gießt zwei Gläser Wasser ein und reicht eines ihrer Mutter. Ihr eigenes schmeckt nach einem Cocktail aus Pflichtgefühl, Bitterkeit und Hilflosigkeit.
„Er hat sich so gekränkt, dass du ihn so geschnitten hast. Du hast ihm das Herz gebrochen, Dorina-Schätzchen!“
Stille.
„Er hat meine Seele zerbrochen, Mama. Aber das hat dich nie interessiert. Wenn du deine Tage vorgetäuscht hast, ist er zu mir gekommen!“ Dorina kann weder die Erinnerungen noch die Tränen zurückhalten.
Ihre Mutter hält sich die Ohren zu und schreit: „Das ist nicht wahr. Das hast du dir alles nur eingebildet! Du hast immer schon eine lebhafte Fantasie gehabt.“
„Du hättest mich beschützen müssen, Mama, nicht ihn!“
Das Gesicht ihrer Mutter verfärbt sich bläulich. Sie ringt um Fassung, Luft und Worte.
„Nicht aufregen Mama!“ Dorina drückt die Klingel um die Schwester zu rufen. Dann rennt sie mit dem Waschlappen zum Waschbecken, hält ihn kurz unter das kalte Wasser und legt ihn ihrer Mutter auf die Stirn. Sie streicht ihr zärtlich über die Wange.
Angst, da ist nur noch Angst. Angst und etwas, das sich anfühlt wie Liebe. „Du musst atmen, Mama, komm... einatmen... und ausatmen... alles wird gut, Mama!“ Ihre Stimme überschlägt sich. „Bitte nicht sterben... Ich hab doch nur dich!“
testsiegerin - 17. Mai, 21:15
angesichts
deines angesichts
staune und stöhne
ich
lecke deine lippen
so voll
wie der mond
testsiegerin - 6. Mai, 15:54
"Frau Kroupka", sage ich zum wiederholten Male zu einer meiner Lieblingsklientinnen im Pflegeheim. "Was brauchen Sie, was wünschen Sie sich? Sie haben so viel Geld, ich kann für Sie alles organisieren, was Sie möchten. Urlaub am Meer, Besuchsdienst,... junge Männer."
Die 84jährige Frau lacht. "Meine Mama hat immer gesagt: Das schlimmste Kreuz lastet der Mensch sich selbst auf. Und das letzte fällt genau in diese Kategorie."
testsiegerin - 6. Mai, 10:15
Ich fasse es nicht. Nutella ist nicht gesund. Ich dachte tatsächlich, dass ich durch Nutella so fit und so schlank und so schön werde wie Ivica Vastic in der Werbung. Nix da, in Wahrheit macht es mich fett und hässlich, da ist ein Gericht mittels unzähliger Sachverständigengutachten und Zeugeneinvernahmen jetzt draufgekommen.
Ich hab wirklich geglaubt, dass Nutella neben Spinat zu den vitamin- und eisenhältigsten Gemüsesorten zählt. Ich hab es mir sogar ins Gesicht geschmiert, weil ich auch so eine schöne, glatte, gebräunte Haut wollte.
Wie konnte ich nur auf die Werbung hereinfallen.
Ich bin wirklich fassungslos. Wie gut, dass das endlich gerichtlich geklärt ist.
Jetzt fehlt nur noch, dass sie irgendwann draufkommen, dass manche Flecken trotz Waschens einfach nicht herausgehen, Nimm2 doppelt so viel Zucker enthalten wie Nimm1, Spinat grün ist, man Katzen nicht in der Mikrowelle trocknen soll und Rauchen schädlich für die Lunge ist. Zum Glück macht die Forschung solche rasanten Fortschritte.
Darauf ess ich jetzt ein Glas Nutella.
testsiegerin - 28. Apr, 11:15
Ein letztes Mal schlüpfte Erika aus ihrem Nadelstreifkostüm, ein letztes Mal aus ihrer weißen Bluse, ein letztes Mal aus dem BH, der sie einengte. Ein letztes Mal schlüpfte Erika aus ihrer Rolle, die sie viele Jahre mit Befriedigung erfüllt hatte.
„Ich hab’s immer geahnt: Du hast sie wohl nicht mehr alle“, murrte Albert, ihr Mann, als sie packte. Erika antwortete nicht und schmiss anstatt der schwarzen Röcke, gestärkten Blusen und Stöckelschuhe Shirts, Jeansröcke und Sandalen in den Koffer.
„Überleg dir doch mal, was du hier alles aufgibst“, versuchte Albert sie abzuhalten, doch das hatte Erika längst getan. Sie gab das wunderbare Haus am Land und die kleine Wohnung in der Stadt auf, ihren schönen Beruf, das Kapitalsparbuch und den Bausparvertrag. Sie gab Sicherheiten und Sicherheit auf.
„Ich seh schon, wie du reuig zurückkommen wirst“, sagte Albert mit einer Mischung aus Hohn und Verzweiflung.
„Ich will mich selbst finden“, hatte sie ihren Bekannten und ihrer Familie gesagt und alle hatten verständnisvoll genickt. „Erika leidet an Prämenopause“, erklärte ihre Freundin und Ärztin Susanne deren Tochter, „das ist eine sehr schwere Erkrankung und hat ähnliche Auswirkungen wie die Pubertät – nur viel schlimmer.“
Erika hatte nur in sich hineingegrinst. Sich selbst finden, so ein Quatsch, das konnte man überall und nirgends, dafür musste man nicht nach Thailand reisen.
Genau drei Menschen kannten Erikas wahre Beweggründe und Pläne. Ihre Mutter, die immer zu ihr stand, sie an ihre Mutterbrust drückte und sagte: „Du musst tun, was du tun musst.“ Selbstverständlich würde sie sich um den Hund kümmern. Ihre Freundin Hannah meinte nur: „Scheiß dich nicht an, geh!“ Und natürlich wusste ihre Freundin Emma Bescheid. Die war gesetzliche Betreuerin und hatte sie erst auf diese Idee gebracht.
*
„Schon wieder neue Bestellung aus Deutschland, Chefin“, sagte Somchai, der Geschäftsführer, Sekretär und Vertriebsleiter in einer Person war. Er strahlte sie glücklich an und das lag nur zum Teil daran, dass der FC Chonburi das gestrige Spiel gewonnen hatte. Erika lag auf der Veranda in der Hängematte und las in ihrem Krimi. Früher hatte sie Menschen in Führungspositionen gelehrt, wie man richtig führt und kommunziert und sich als Unternehmensberaterin auf Strategieentwicklung, -planung und Umsetzung spezialisiert. Ihre Strategien kosteten vielen Menschen den Job, das hatte sie zu spät bemerkt.
Jetzt leitete sie Slam Clog, eine kleine Pantoffelfabrik in der Provinz Chonburi, die sie einem chinesischen Unternehmer abgekauft hatte. Anstatt wie bisher billige Plastikschuhe mit Giftstoffen wurden nun schwere Holzpantoffel hergestellt. Aus Gummibaumholz von der eigenen Plantage, selbstverständlich FSC-zertifiziert.
Ihre einzige Strategie als Unternehmerin bestand darin, alles zu unternehmen, damit es ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen und ihr selbst gut ging und die Kunden zufrieden waren. Das Team von Slam Clog war bunt gemischt. Buddhisten, Muslime, Christen, Hindus, Junge, Alte, Behinderte, Intellektuelle, sogar ein schwuler Priester war darunter... sie waren alle anders und wurden alle gleich wertschätzend behandelt und bezahlt.
Erika schaukelte sanft und erinnerte sich an die Verwunderung, die sie mit ihrem Projekt hier anfangs ausgelöst hatte. Es war nicht wichtig, dass jeweils ein rechter und ein linker Schuh ein Paar bildeten. Es war nicht von Bedeutung, ob die Schuhe passten oder zwei davon jeweils die gleiche Größe hatten. Schön sollten sie sein und gut in der Hand liegen. „Gut in der Hand liegen?“ hatte Thanawat erstaunt gefragt und überlegt, ob er vielleicht etwas falsch verstanden hatte. Ein paar Tage später hatte er den ersten Schuh mit Griff präsentiert.
Bei der Gründungsversammlung hatte Erika ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen erzählt, wofür die Schuhe dienen sollten. Nämlich zur Abwehr von Übergriffen, Freiheitsbeschränkung und respektlosem Verhalten vom Pflegepersonal in Alters- und Pflegeheimen.
„Was ist das, ein Altersheim?“, fragte Nermina und schüttelte über Erikas Erklärung fassungslos den Kopf. „Man verstößt in deinem Land die weisen Menschen von der Familie und steckt sie in ein Lager?“
Erika lächelte betroffen über Nerminas Sicht der Dinge. „Nicht nur in meinem Land. In fast allen sogenannten zivilisierten Ländern der Welt.“
Damrong und Nayton, die beiden jüngsten Arbeiter, wurden in den Pausen durch unzählige Versuche zu Ballistikern und entwickelten die geeignete Schuhform für die perfekte Wurfbahn. Nermina und Joy bemalten die Schuhe mit thailändischen Ornamenten, die alte Malee brannte mit einem Brenneisen weise Sprüche in die Holzpantoffel. In der Ruhe liegt die Kraft, oder Der Weg ist das Ziel, Wer sich nicht wehrt, wird nicht geehrt oder Man muss lange leben, um ein Mensch zu werden.
Die Schuhe gingen weg wie die warmen Semmeln. Nicht einmal die holländischen Klompen waren eine Konkurrenz, die wurden vorwiegend für die Touristen hergestellt und ließen sich schlecht werfen.
Erika gründete weitere Niederlassungen, mehr Menschen fanden bei ihr Arbeit, vor allem im Landesinneren. Die Arbeitsbedingungen blieben die gleichen wie im Hauptwerk, Erika sorgte dafür, dass die Leute in dem Ausmaß und in dem Tempo arbeiteten, wie sie wollten, dafür, dass sie das machten, was sie gut konnten oder das lernten, was sie lernen wollten. Niemand sollte ausbrennen, die Arbeit hatte den Menschen und nicht die Menschen der Arbeit zu dienen. Ihre Arbeiter sollten nicht nur ihren Lebensunterhalt mit ihrem Job verdienen, sondern die Arbeit sollte Sinn stiften und Freude machen. Deshalb wurde in den Werken viel gelacht, gut gegessen und Freundschaften geknüpft.
„Es geht mir nicht darum, reich zu werden“, sagte Erika zu dem Journalisten, der extra aus Deutschland angereist kam, um sie für die Sonntagsbeilage zu interviewen, „sondern darum, die Philosophie der Wertschätzung auch für die, die angeblich nicht mehr funktionieren weiterzugeben.“
*
Hannah, Emma, Erika und Erikas Mutter saßen in Bang Saen am Strand und tranken Thai Watermelon Cocktails. Am Nachmittag hatten sie den buddhistischen Tempel Wat Yansangwararam und andere Sehenswürdigkeiten der Gegend besucht. Vor allem aber hatten sie geredet, geredet und geredet.
„Bist du glücklich?“, wollte Hannah wissen.
„Ich glaub schon“, sagte Erika. „Es ist schön zu sehen, wie die Menschen hier miteinander umgehen. Aber, wenn ich Nachrichten höre, zweifle ich manchmal daran, dass ich mit meinem Projekt tatsächlich etwas bewegen kann.“
„Täusch dich da nicht“. Emma zog die Zeitung aus ihrer Tasche und entfaltete sie.
DIE ALTEN SETZEN SICH ZUR WEHR!, lautete die Schlagzeile. SLAMCLOGS gründen eigene Partei
Erika musste lächeln, als sie ein Bild von sich im bunten Pareo in der Zeitung sah. „Wisst ihr, ich kam mit so viel Wut im Bauch hierher. Aber Gewalt ist doch in Wahrheit auch keine Lösung, oder? Ich hab Angst, dass es irgendwann die ersten toten Pflegerinnen gibt, und ich bin schuld daran. Das will ich nicht.“
„Lies weiter“, sagte Emma.
„Wir Slammies werfen aus Prinzip daneben“, so die 91-jährige Trude Stadler, Listenerste der SLAMCLOGS im Interview. Das ist Teil unseres Parteiprogramms. Viele von uns hängen die Holzschlapfen an die Wand, weil sie mit so viel Liebe gearbeitet und viel zu schön und schade zum Werfen sind. Sie sind ein Symbol geworden. Die Schuhe sind ein Symbol geworden. Ein Symbol dafür, dass wir uns nicht mehr alles gefallen lassen. Ein Symbol für Menschenrechte und Freiheit im Alter.“
„Ich soll dich von Albert schön grüßen lassen“, sagte Erikas Mutter später am Abend, als die anderen schon ins Bett gegangen waren. „Er möchte wissen, ob du wiederkommst. Er ist einsam in dem großen Haus und überlegt sich, Susanne zu heiraten, damit eine Frau im Haus ist. Es sei denn, du überlegst es dir noch und kommst zurück.“
Erika schüttelte den Kopf. „Nein“, antwortete sie leise und überreichte ihrer Mutter ein Paket, „nimm ihm bitte diese Clogs mit. Als Symbol für Menschenwürde und Freiheit im Alter. Mit persönlichen Widmung.“
Leck mich am Arsch, stand drauf.
testsiegerin - 22. Apr, 17:59
testsiegerin - 18. Apr, 22:26
„Ich schluck das Zeug bestimmt nicht!“ spuckt Grete Stocker die Tabletten in die Monstera Deliciosa. „Ich war fünfunddreißig Jahre lang Krankenschwester und weiß, was da drin ist. Den Scheiß könnt ihr selber fressen. Und die Grippeschutzimpfung könnt ihr euch ins Knie schießen, wenn ihr wollt!“ Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, greift sie nach dem Hausschuh aus Plüsch und wirft ihn knapp an Schwester Ingrids Ohren vorbei.
Emma Rogner, gesetzliche Vertreterin von Grete Stocker, braucht ihre ganze Konzentration, um nicht zu lachen, als Oberfeldwebel Ingrid ihr empört über diesen Vorfall berichtet und dabei zu hyperventilieren droht.
„Wir müssen die Medikation erhöhen, weil Frau Stocker immer aggressiver wird“, schnappt Schwester Ingrid nach Luft.
„Vielleicht wird sie ja immer aggressiver, weil Sie die Medikation erhöhen wollen“, mutmaßt Emma. „Sie kommt ja jetzt schon kaum noch mit dem Ausspucken nach.“
„Deshalb mischen wir ihr die Medizin manchmal ins Essen“, bekennt die Schwester. „Sonst geistert sie ganze Nacht auf der Station herum und wäre noch unruhiger.“
„Sie tun was?“ Emma Rogner starrt sie fassungslos an. „Das ist medikamentöse Freiheitsbeschränkung und meldepflichtig, verdammt noch mal.“ Ihre Stimme ist leise, während die Wut in ihr aus vollem Hals brüllt.
„Ich will meine Zigaretten!“, schreit jetzt auch Grete Stocker aus dem Hintergrund. „Die haben sie mir schon wieder geklaut.“
Emma Rogner war mit dem guten Vorsatz, sachlich und freundlich zu bleiben, gekommen, aber es will ihr nur schwer gelingen. Sie ist zornig. Sie ist auch müde. Es hat keinen Sinn, mit Schwester Ingrid zu diskutieren. Argumente prallen an ihr ab wie Squashbälle an der Wand.
Emma weiß, dass es auch anders geht. Am Vormittag war sie in der Wohngemeinschaft Vergissmeinnicht, die sie mit Jahresende schließen würden. Aus budgetären Gründen, wie die Leiterin ihr erzählt und eine Träne aus dem Auge gewischt hat. Als Emma in den Aufenthaltsraum kam, stand Alois Czermak in Gummistiefeln auf dem Esstisch und hielt eine Kampfrede. Er war früher Angestellter der Bezirksbauernkammer gewesen. Anstatt an ihm herumzuzerren und ihn zum Aufgeben zu bewegen, kletterte die junge Schwester Carmen zu ihm auf den Tisch. „Sie wollen heute aber hoch hinaus, Herr Czermak“, lächelte sie ihn an. Sie hörte ihm geduldig zu, als er die Landwirte zum Zusammenschluss und zur Gründung der Vereinigung Österreichischer Rübenbauern aufforderte.
„Tolle Rede!“, applaudierte sie, als er geendet hatte, „sehr eloquent, Herr Czermak.“ Sie stieg vorsichtig vom Tisch und der alte Herr folgte ihr ohne Widerspruch. „Die Erdäpfelsuppe wird kalt“.
Emma Rogner schaudert, wenn sie daran denkt, dass Alois Czermak demnächst unter Oberfeldwebel Ingrid dienen muss.
„Warum hat Frau Stocker schon wieder keine Zigaretten? Ich hab doch erst eine Stange vorbeigebracht.“
Schwester Ingrid betrachtet Emma mit einer Mischung aus Überheblichkeit und Mitleid. „Wir teilen ihr die Zigaretten jetzt ein. Jede Stunde bekommt sie eine. Meistens steht sie aber ohnehin schon zwanzig Minuten vorher vor dem Dienstzimmer, quält uns und schreit völlig grundlos herum."
„Kein Verhalten ist grundlos", sagt Emma leise. „Wir können den Grund nur manchmal nicht sehen."
Schwester Ingrid hört den Einwand nicht und fährt ungerührt fort: „Außerdem ist ihre Lunge angegriffen. Rauchen ist halt nicht gesund.“
„Ach so. Gut zu wissen. Da hat Frau Stocker ja Glück gehabt, dass sie trotzdem 95 geworden ist.“ Emma sehnt sich nach ihrer Lucky Strike. Deine Dummheit ist auch nicht gesund, denkt sie, verschluckt ihre Gedanken aber.
„Wie würde es Ihnen gehen“, fragt sie die Stationsschwester stattdessen, „wenn man Ihnen das Wenige, das Sie noch haben, wegnimmt und Sie Aufmerksamkeit nur dann bekommen, wenn sie lästig sind? Wenn sie um ihre Zigaretten betteln, Tabletten in den Blumentopf spucken, vor das Bett scheißen oder mit Schlapfen um sich werfen müssen, damit man Sie wahrnimmt? Wie würde es Ihnen gehen, liebe Schwester Ingrid, wenn Sie liebevolle, nicht leistungsorientierte Zuwendung überhaupt nicht mehr kriegen, nur weil sie dement und anstrengend sind?“
Schwester Ingrid blickt auf die Uhr. Es ist halb vier. Dienstschluss. „Schwester Ivana wird sich um Sie kümmern. Auf Wiedersehen.“ Sie knallt die Tür vor Emma zu.
„Vergiss mich“, zischt Emma.
Ich werde Frau Stocker schwere Holzpantoffeln kaufen, denkt sie auf dem Weg zu ihrem Wagen und inhaliert gierig den Rauch der Zigarette. Fünf Paar.
testsiegerin - 14. Apr, 22:33
Ich hab jetzt den Beweis. Die Menschen lernen nichts aus der Geschichte. Nicht mal Romeo und Julia. Ich hab die beiden heute an der Burg getroffen. Also nicht auf irgendeiner Burg, sondern im Burgtheater.
"Drei Worte, Romeo."
"Ich dich auch."
"Was?"
"Nix."
Der Balkon war ein gläserner Fahrstuhl und Romeo hatte sogar ein Handy. Genau das wurde ihm zu Verhängnis, denn die Mailbox war voll.
Ich hab mitgefiebert bis zum Schluss, aber ich hatte gegen die Hormone keine Chance: "Tu es nicht, Romeo!", hab ich gebrüllt, "sie ist gar nicht tot, das ist alles nur ein Trick! Lad deinen Akku auf, verdammt noch mal!" - aber der doofe pubertierende Romeo hat nicht auf mich gehört und nichts aus der Geschichte gelernt und total belämmert das Gift gesoffen. Dabei hat Julia noch im Sterben "Happy End!" gebrüllt.
Die Ärzte würden singen:
Romantische Schwärmer nennen es „Liebe“ (ich würde sagen)
Hier kann man Hormone bei der Arbeit sehen
testsiegerin - 13. Apr, 23:53
Das war eine meiner allerersten Geschichten:
Es stank nach Fisch. Sie stank nach Fisch. Er stank nach Fisch. Sie drehte den Kopf zur Seite, als er seine Zunge in ihren Mund stecken wollte und schloss die Augen, als er sich in der Garderobe in sie bohrte. Sie schloss die Augen und hoffte, es möge schnell vorbei sein.
„Wo warst du?“ brüllte Ana ihr durch den Maschinenlärm zu, als sie wieder in der Halle stand und die toten Fische abspritzte.
„Mir war schlecht“, antwortete sie tonlos. Das war noch nicht mal gelogen.
„Sei froh, dass der alte Moura nicht gekommen ist“, meinte Ana. „Sonst hätten wir uns wieder was anhören können!“
Maria verschwieg, dass Joao Moura soeben gekommen war. Er kam fast jeden Tag. In ihrem Körper. In dem Körper, der ihr einmal lieb und vertraut und der ihr jetzt so fremd war.
„Dir ist schlecht? Schon wieder? Sag bloß du bist schwanger?“ Ihre Freundin schaute sie mitfühlend an. Maria schüttelte den Kopf und arbeitete weiter.
So gern hätte sie mit ihrem Mann ein Kind gehabt. Aber es hatte nicht sein sollen. Um abzuklären, warum es nicht klappen wollte, waren sie in der Klinik gewesen. Die Untersuchungsergebnisse hatte sie nie aus dem Labor abgeholt. Nach seinem Tod war es egal. Und jetzt war ohnehin alles egal.
„Weißt du, was mich wundert, Maria?“ fragte Ana in der Pause und packte ihr Brot aus. „Dass die da...“ sie deutete mit dem Kopf zum Nebentisch, an dem die anderen Frauen saßen und durcheinander redeten, „...dass die da dem Alten noch nicht gesteckt haben, dass du hin und wieder für mich stempelst. Dabei können die uns nicht ausstehen und behandeln uns, als hätten wir eine ansteckende Krankheit.“ Sie biss in ihr Käsebrot. „Na ja, lass uns froh sein, dass sie die Klappe halten. Sonst wären wir den Job schon los.“
Maria zuckte mit den Schultern, schwieg und wunderte sich nicht. Ihre Arbeit war ihr mittlerweile egal. Aber Ana war ihr nicht egal. Und Anas kleine Tochter Laura auch nicht. Deshalb hatte sie ihr ohne zu zögern angeboten, auch ihre Karte in die Stechuhr zu schieben, wenn sie Frühschicht hatten, damit Laura nicht eine halbe Stunde allein vor dem Kindergarten stehen und warten musste.
„Maria, ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll.“ Sie hielt ihre Hand.
„Schon gut, Ana. Du würdest das an meiner Stelle auch tun.“
Ana lebte seit fünf Jahren in dem Fischerdorf im Alentejo. Am Anfang hatte Maria sie nicht leiden können. Ihre Sorglosigkeit. Ihre Schönheit, mit der sie alle Männerblicke auf sich zog. Ihr Lachen, das viel zu laut war. Und später das Glück, das ihr aus den Augen sprang, wenn sie mit ihrer Tochter spielte oder von ihr erzählte.
Dann war der Unfall passiert. Der Sturm hatte die Fischer draußen von einer Minute auf die andere aus dem Leben gerissen und die beiden Frauen zu Witwen gemacht. Der Sturm hatte sie schließlich auch Freundinnen werden lassen.
Verstohlen und durch einen Schleier von Tüll und Tränen hatte Maria sie auf dem Friedhof von der Seite beobachtet. Und plötzlich eine andere Ana gesehen als die, die sie kannte. Eine Zerbrechliche. Eine Leise. Aber gleichzeitig eine unheimlich Starke, die dem Leben ins Gesicht spuckte. Die dem Tod die Stirn bot und ihn zornig anbrüllte: „Mich kriegst du nicht klein!“ Doch das Glück in Anas Augen sprang seitdem nicht mehr. Es machte nur noch ganz kleine zaghafte Schritte und drohte in lauter kleine Scherben zu zerbersten.
Trotz oder wegen ihres Schmerzes war Ana nach der Beerdigung mit ihrer kleinen Tochter am Arm geradewegs auf Maria zugekommen. „Wir sollten jetzt zusammenhalten. Das Leben geht weiter. Deins auch, Maria. Du weißt, wo du mich findest, wenn du mich brauchst.“
Sogar in ihrer Trauer war sie stark und stolz gewesen. Selbst in ihrer Einsamkeit hatte Ana gespürt, dass da jemand war, der noch einsamer war als sie. Der sie brauchte.
Maria hatte es nicht geschafft, an Anas Tür zu klopfen. Wieder war es Ana gewesen, die zu ihr kam, mit einer Flasche Wein in der einen und ihrer Tochter an der anderen Hand.
Von diesem Tag an saßen sie oft zusammen, hörten Fado und schwiegen. Bei Ana flossen die Tränen, die ein wenig von der Traurigkeit wegschwemmten. Bei Maria floss nur der Wein. Sie konnte noch immer nicht weinen.
Mit der Zeit hatte das Glück erneut Tritt gefasst in Anas Leben und vorsichtig wieder Sprünge versucht. Das von Maria war Hand in Hand mit dem Leben aus ihrem Körper gekrochen und hatte sich aus dem Staub gemacht. Und sie versuchte nicht einmal, es einzuholen.
Es war eine stille und zärtliche Nähe, die zwischen den beiden Frauen entstand. Sie redeten nicht viel, wenn sie zusammen saßen. Ein warmes tröstendes Band war zwischen ihnen, und die Schwere fühlte sich nicht mehr ganz so schwer an, wenn die andere da war. Ana hatte erleichtert gewirkt, als sich zögernd kleine Flammen von Fröhlichkeit in Marias Augen schlichen. Aber in den letzten Wochen waren auch die wieder erloschen.
Maria hatte Ana nichts davon erzählt, dass die Frauen sie bei Moura angeschwärzt hatten und der über die Sache mit der Stempelkarte informiert war. Ana hatte nicht den blassesten Schimmer davon, dass er Maria zu sich ins Büro geholt, sie angebrüllt und ihr gedroht hatte, sie beide auf der Stelle zu entlassen. Es sei denn, und bei diesen Worten hatte er dreckig gegrinst, es sei denn, Maria käme ihm ein bisschen entgegen.
Maria blieb stehen. Es war Moura , der ihr entgegenkam.
Es war nicht die Angst vor Moura, die Maria davon abhielt, sich zur Wehr zu setzten, als er ihr an die Brust fasste. Es war die Liebe zu ihrer Freundin Ana, die sie beugte. Es war die Sorge um Anas Tochter Laura, die sie in die Knie zwang. Ana war auf den Job in der Fabrik angewiesen. Es gab keine andere Arbeit hier in der Gegend. Nicht im Winter, wenn keine Touristen da waren. Und schon gar nicht für eine Witwe mit einer kleinen Tochter.
Nachdem Moura über ihr und in ihr gekommen war, verschwand Maria aufs Klo und kotzte seine Macht wieder heraus.
Seit Dienstag kotzt Maria nicht mehr. Seit Dienstag ist Moura verschwunden. Seit Dienstag kein Gebrüll mehr über zu langsame Arbeit. Keine Abzüge für zu lange Pausen. Kein in die Knie gehen. Seit vier Tagen.
Maria schneidet sich ein Stück Brot vom Laib und öffnet eine Dose Makrelen. Als sie zur Gabel greift, legt Ana ihr hastig die Hand auf den Arm.
Am Freitag hat Ana durch den Türspalt gesehen, wie Moura seinen stinkenden Fischkörper an Maria gerieben hat. Am Samstag hat sie den Entschluss gefasst. Am Sonntag alles geplant. Am Montag den Plan ausgeführt.
„Nicht essen, Maria!“ sagt sie und streicht ihr eine Strähne aus dem Gesicht. „Wer weiß, was da drin ist.“
testsiegerin - 1. Apr, 17:16