Frank Frodor hatte vergessen, es in die Liste einzutragen. Damit nahm das Unheil seinen Lauf.
Seit Jahren trug Frank alles in Listen ein. Seine Bücher, Cds und DVDs, Fußballergebnisse von der Premiere League bis zur Regionalliga Ost, sein Wohnungsinventar; er führte Listen über die Häuser und Autos seiner Nachbarn - die blauäugige Jennifer zum Beispiel fuhr einen VW Beetle in Toffeebraun metallic, der Hautarzt gegenüber hatte sich vor kurzem einen Audi Roadster, Baujahr 2011, in Ibisweiß gegönnt.
Frank bespitzelte die Menschen nicht, um seine Listen zu füllen, er trug nur ein, was er zufällig erfuhr, was ihm sozusagen über den Weg lief, die Informationen dienten keinem speziellen Zweck. Er hatte nicht vor, jemanden mit seinem Wissen zu erpressen oder eine Doktorarbeit über das Wohn- und Autokaufverhalten der Menschen in seiner Straße zu verfassen. In Wahrheit interessierten die Menschen Frank Fodor nämlich überhaupt nicht.
Frank führte sogar eine Liste über seine Socken. In eine Spalte füllte er das Datum des Einkaufs, in eine andere die Farbe (also dunkelbraun, dunkelgrau oder schwarz), in die dritte die empfohlene Waschanleitung und in die vierte das Ablaufdatum.
Nun könnte man meinen, dass Frank sein Sockenwasch und -einkaufsverhalten auf diese Listen stützte und bei der Firma kaufte, welche die langlebigsten Socken herstellte, aber dem war nicht so. Frank kaufte Socken, wenn er welche brauchte und dort, wo er zufällig gerade war. Er wusch seine gesamte Wäsche mit 40 Grad. Er legte keinen besonderen Wert auf Qualität.
Franks Einkaufszettel waren nicht wie die anderer Menschen mit krakeliger Schrift auf leere Briefumschläge, unbenötigte Visitenkarten oder alte Einkaufsbelege gekritzelt, sondern sorgsam mit Excel-Listen erstellt, in der Reihenfolge, in welcher sie im Einkaufsladen angerichtet waren. Wenn er wollte, konnte er sie auch aufsteigend nach dem Listenverkaufspreis oder der Kategorie (Obst, Milchwaren, Gebäck, Fleisch, Sonstiges...) sortieren lassen. Wollte er aber nicht.
Frank druckte sich die Einkaufsliste nicht aus, das war nicht notwendig, denn er kaufte meistens das Gleiche ein. Zu essen bedeutete für ihn keinen Lustgewinn, sondern lediglich Nahrungsaufnahme, das Ausgleichen der Energiebilanz.
„Ihr müsst wissen, Frank freut sich an Listen“, hatte seine Mutter vor Jahren ihren drei Freundinnen erzählt und ihm dabei abschätzig über den Kopf gestrichen. Zum Glück hieß Frank nicht Liam oder Linhart, oder gar Liam-Linhart, denn seine Mutter hatte eine Schwäche für Alliterationen und hätte sonst womöglich überall hinausposaunt: „Mein Liebling Liam –Linhart liebt Listen.“
In Wahrheit liebte Frank keine Listen, er hegte ihnen gegenüber keine Emotionen, er führte sie einfach. Der Seelenklempner, zu dem seine Kurzzeitexfreundin Gisela ihn geschleppt hatte, und der zu seinem Langzeittherapeuten geworden ist, bezeichnete Frank als affektflach. Gerade so, als wäre es eine Leistung zu toben, zu heulen und vor Freude in die Luft zu springen.
Susanne, eine andere Kurzzeitexfreundin hatte schluchzend ihren Koffer gepackt und ihn verlassen, nachdem er gesagt hatte: „Ich kann dich nicht riechen.“ Was Susanne nicht wusste war, dass Frank im Alter von zwölf Jahren aufgrund einer Virusinfektion seinen Geruchssinn verloren hatte und seither an Anosmie litt. Aber weg war weg, sowohl der Geruchsinn als auch Susanne. Wozu sich noch erklären?
Das alles lag lang zurück. Damals war Franks Welt – für seine Verhältnisse - noch in Ordnung gewesen. Hätte er nur nicht vergessen, „es“ in die Liste einzutragen.
Fortsetzung folgt
testsiegerin - 8. Sep, 09:18
Diese Woche ist ja ein Fixpunkt im Jahreskreis. Schmuckwoche in Knappenberg, auf 1000 Meter Höhe wird gearbeitet, gelacht, gelebt, gegessen. Was für Menschen in der Gruppe. Wie z.B. die 84-jährige Roswitha, die - trotz Osteoporose - jeden Winter Schi fährt und "mich hauts eh nicht hin" sagt.
Boahh und die Eierschwammerl und Steinpilze. Welche Glücksgefühle im Wald. Am Abend gutes Essen und ein Schnaps.
Ich merke, dass ich mich im Tun und im Sein am besten erhole.
Und das sind meine diesjährigen Werke:

G-Punkt
(das Elfenbein stammt von einer Klaviertaste, dem zweigestrichenen G. Der Punkt war mal Teil eines Bremslichts. Der Rest ist Silber, ein wenig Messing)

Elektron
(Den Bernstein hat Josef - Roswithas Ehemann und ebenfalls 84 - in Bitterfeld gefunden und extra für mich geschliffen) Der Rest ist aus Kostengründen nicht aus Gold und Silber, sondern aus Messing und Alu)

Ring: Earth & Water
(oder Perlisander)

Anhänger: Earth & Water

Doppeldecker mit Labyrinth
(Silber, geschwärzt)
testsiegerin - 4. Aug, 13:51
Weil grad Sommer ist, lade ich dich zu einer kleinen Gedankenreise ein. Wir machen eine Kreuzfahrt. Entspann dich, schließ die Augen... das Wetter ist sonnig und warm, das Schiff luxuriös, die Reise kann beginnen. Es ist nicht verboten, an manchen Stelle der Reise innezuhalten und die Fragen, die sich stellen, zu beantworten. Lege dir dafür Stift und Papier bereit.
In deinen Koffer hast du deine wichtigsten Werte gepackt. Familie, Freundschaft, Toleranz, Disziplin Humor, Anerkennung, Glaube, Kreativität, Moral, Nächstenliebe, Gerechtigkeit, Lust, Fleiß,... was auch immer, all das, worauf du auch während Ihrer Reise nicht verzichten möchtest. Aber der Koffer ist klein, darin ist nur Platz für sechs Werte. Welche sind das?
Bei einer Rettungsübung am ersten Tag entdeckst du, dass in deiner Kabine keine Schwimmweste ist. Kein Rettungsschirm. „Kein Problem“, sagt der Offizier, „Sie geben mir zwei Werte und ich Ihnen eine Rettungsweste.“
Worauf verzichtest du?
Ein paar Tage später dann ein Ernstfall. Du hast zwar eine Rettungsweste, aber in den Rettungsbooten ist kein Platz mehr. Wieder musst du zwei Werte abgeben, für einen Platz im Boot, das angeblich voll ist. Welche hergeben? Welche zwei behalten?
Das Boot stürzt ins Wasser, du schwimmst um dein Leben. Da streckt dir jemand eine Hand entgegen. Du hast nur noch zwei Werte. Aber von einem musst du dich jetzt trennen, um zu überleben. Welchen gibst du unter keinen Umständen her?
(Ich kann euch verraten, bei mir war es die Kreativität. Sogar die Lust habe ich leichtfertig über Bord geworfen, und zuletzt sogar den Humor)
Als du in das Boot kletterst, frierend und klamm, kommst du aus dem Staunen nicht mehr heraus. Lauter Politiker sitzen drinnen. Wohlgenährt, zufrieden und trocken. Mit prall gefüllten Koffern.
„Wir haben den Kapitän bestochen“, sagen die Volksvertreter ungeniert und grinsen.
„Aha", du wunderst dich, dass du dich nicht einmal mehr wunderst. „Was sind denn eure Werte?“, fragst du mit einem Blick auf die Koffer.
Die Politiker klopfen sich auf die feisten Schenkel und lachen herzhaft. „Werte? Wer braucht denn heute noch Werte! Was für eine Träumerin bist du denn?“
Du beißt dir auf die Lippen. Ja, was für eine Träumerin bin ich denn?
„Also, ich hab Schwarzgeld, Macht und Arroganz im Koffer“, sagt einer, der grad vom Friseur kommt und zu schön, zu intelligent und zu erfolgreich fürs Leben ist.
„Ich führe Waffen, Unantastbarkeit und Gripen-Schutzmasken mit“, sagt ein Graf. „Ein gutes Geschäft.“
„Ich hab die Angst mit“, sagt der, dessen tschechischer Name Angst heißt (strach = Angst) stolz. „Ich schüre sie, weil die Leute mich dann wählen.“
„Ich hab nur leeres Gewäsch“, sagt der ärmste unter ihnen und zuckt die Schultern. „Ein paar Floskeln. Billig, aber beliebig anzuwenden.“
Du öffnest resigniert dein winziges Köfferchen. Vom Vertrauen hast du dich vorhin schweren Herzens getrennt. Jetzt ist auch dein wichtigster Wert nichts mehr wert, denkst du und beobachtest traurig und wütend, wie die Hoffnung in den Fluten versinkt.
Du kannst die Augen jetzt wieder aufmachen. Ganz weit. Halte sie bitte offen. Sorge dafür, dass die letzten Werte nicht untergehen!
testsiegerin - 2. Jul, 18:58
Viele Geschichten enden damit, dass alles nur ein Alptraum war.
Der Protagonist erwacht und stellt fest, dass das Leben in Wahrheit total nett ist. Diese Geschichte endet nicht mit einem Alptraum, sie beginnt damit.
Ich habe geträumt, dass Release 19.84 des neuen Klienteninformations- und -dokumentationssystems endlich online und ab sofort auch das Sexualverhalten unserer Klienten einzutragen ist. Diese Neuerung dient der Arbeitserleichterung, schreibt die Geschäftsführung. Einzutragen sind die wöchentliche Anzahl und Dauer des Geschlechtsaktes und die bevorzugte Stellung (zur Auswahl stehen: Oral, anal, Missionarsstellung, Sonstiges).
Sonstiges? Was bitte denn sonst noch, überlege ich verzweifelt, ist so eine Missionarsstellung nicht pervers genug? Ich rufe in der Zentrale an und werde mit einem Mitarbeiter, der sonst nichts zu tun hat, verbunden. „Komm einfach rüber, Barbara“, säuselt er schleimig, „dann besprechen wir das persönlich.“
Ich lege schnell auf und recherchiere lieber im Internet.
In meiner Aufregung trage ich versehentlich bei der 89jährigen Elaria Pozlacek eine der gegoogelten, versauten Praktiken ein. Delete. Ein neues Fenster öffnet sich. Sie sind nicht berechtigt, den Datensatz zu löschen, heißt es. Wenig später erhalte ich einen Anruf aus dem Pflegeheim. Meine Klientin bestünde darauf, den Anweisungen ihrer Sachwalterin Folge zu leisten.
So kann es nicht weitergehen. Es ist ein Alarmsignal, wenn mein Arbeitsalltag nicht mehr ausschließlich meinen Arbeitsalltag, sondern auch meine Träume dominiert.
Ich schüttle den Traum ab, quäle mich aus dem Bett und logge mich in den Tag ein. Es dauert zwei Tassen Kaffee lang, bis er endlich aus dem Ruhezustand hochfährt. Passwort entspricht nicht den Sicherheitsanforderungen, sagt der Tag, als ich Orson Wells eingebe. 0.Orson_We11s funktioniert zum Glück.
Ich rufe im Büro an und melde mich krank.
„Mach langsam“, sagt die Sekretärin, „ich muss das jetzt in den Computer eingeben. Nur krank genügt nicht mehr.“ Ich höre sie tippen. „Also... Grippaler Infekt, Magen-Darm-Grippe, Menstruationsbeschwerden, Übergenuss von Alkohol, Migrä…“
„Sonstiges“, unterbreche ich sie ungeduldig. „Burnout. Ich gehe heute in Burnout. Morgen bin ich wieder da. Vielleicht.“
Raus, ich muss dringend hier raus. Ich ziehe mich an und verlasse das Haus.
Die Verkäuferin beim Bäcker bitte ich um drei Salzstangerl und ihr Geburtsdatum. Seit kurzem bin ich ständig auf der Suche nach neuen Daten und Fakten.
„15. Juli, Krebs, Aszendent Wassermann“ sagt sie und lacht. Wahrscheinlich denkt sie, dass ich nicht vergessen möchte, ihr zu gratulieren. „Haben Sie ansteckende Krank...“ Ich schlucke den Rest des Satzes hinunter. Eigentlich möchte ich das von der Frau, die mir Lebensmittel verkauft, nicht wirklich wissen. Aber es gibt mir so ein leeres, schlechtes Gefühl, wenn einzelne Felder nicht ausgefüllt sind.
Die Angestellte an der Wursttheke ist noch halbwegs freundlich, als ich sie nach ihrem Religionsbekenntnis frage und danach, ob sie ledig ist. Als ich „seit wann genau ledig?“ wissen will, wird sie ungehalten und gibt mir die Wurst mit den ausgetrockneten Rändern. Beim Anblick der Leberwurst in der Vitrine überlege ich kurz, ob ich nach der Beschaffenheit ihres Stuhls fragen soll. Lieber nicht.
Jahrelang hatte ich Angst, verrückt zu werden. Man liest ja gelegentlich, dass man in jedem Job irgendwann die Eigenschaften seiner Klientel übernimmt. Ich bin weder verrückt noch kognitiv beeinträchtigt. Oder doch? Ich fühle mich wie in den unsichtbaren Krallen von Dr. Mabuse.
„Warum wollen sie wissen, wo mein Zweitschlüssel deponiert ist?“, fragt mich der Mechaniker in der Werkstatt.
„Nur so“, sage ich und erröte. „Wegen der Arbeitserleichterung.“
„Wie bitte?“
„Nichts, nichts. Alles in Ordnung.“
Ruhe, ich brauche Ruhe. Ich gehe nach Hause, lege mich in die Hängematte und denke nach. Aber es drängen sich immer wieder Masken in meine Gedanken. Hässliche Fratzen, die von mir gefüttert werden wollen.
Ich werde meine Freundin anrufen und mich bei ihr ausheulen.
Keine Verbindung. Sie haben den Kontakt nicht ins Umfeld eingetragen. „Doch, das hab ich!", brülle ich mein Handy an. Sie haben vergessen, auf Übernehmen und Speichern zu klicken, antwortet es wie ein Burgschauspieler auf Drogen.
Ich weine. Ich habe keine Facebook-Freunde, weil ich kein Facebook habe. Jetzt hab ich nicht einmal mehr echte Freunde, weil ich vergessen habe, sie ins Soziale Umfeld einzutragen. Vielleicht ist wenigstens mein Psychiater in der Liste. Standardisierter Kontakt. Postleitzahl beginnt mit der Zwei. Klick.
Er ist nicht zu Hause.
Ich hyperventiliere. Atme. Ich muss wieder runterkommen von dem Trip. Ooooooommmm.
Der Fortschritt in der Gesellschaft und in meinem Job ist nicht aufzuhalten. Wir schreiten fort vom Wesentlichen in unserer Arbeit, den Menschen.
Ich muss es mir eingestehen, ich brauche professionelle Hilfe. Weil es keine Schande ist, um Hilfe zu bitten, wenn man Hilfe braucht (das erzähle ich zumindest meinen Klienten immer), wende ich mich an den Helpdesk First Level.
Warum geht in meinem Leben alles schief?, tippe ich und hänge einen Screenshot meines schiefen Lebens an.
„Es liegt nicht am Leben“, sagt die Dame vom Helpdesk liebenswert. „Es liegt an dir. Wenn du alles falsch machst, hilft das beste System nicht. “
Ein paar Stunden später versuche ich es noch einmal. Diesmal mit der Frage nach einem Leben nach dem Tod.
„Da gibt es noch Entwicklungsbedarf“, sagt der Helpdesksecondlevelmitarbeiter, „wenn du mit dem Sterben bitte noch auf Release 20.45 warten würdest?“
„Passt sage ich, „um 20:45 muss ich sowieso Fußball schauen.“
Irgendwann werden Außerirdische den Elektroschrott finden und sich wundern, warum jemand festgehalten hat, dass Elaria Pozlacek am 23. Februar ihre Medikamente nicht genommen, seltsame sexuelle Wünsche an den Tag gelegt und einen Weltempfänger bestellt hat. Mir wird schlecht, wenn ich daran denke, welche Informationen sie einmal über mich finden werden. Unser Jahrhundert wird als Zeitalter der unsinnigen Dokumentation in die Geschichte eingehen.
Ich hake den Tag ab. Schlafe. Koche. Sortiere im Kopf die Lebensmittel in die verschiedenen Listen und trage die Kalorien ein. Zur Arbeitserleichterung. Ich schüttle den Kopf, fassungslos darüber, dass ich dieses Argument schon selber glaube.
Irgendwann schlafe ich vor Erschöpfung und dem Gefühl, überhaupt nichts Sinnvolles gemacht zu haben, ein.
Die Nacht verläuft ruhig und traumlos.
Als ich ins Büro komme, sitzen bereits alle Kollegen an ihren Thin Clients und geben Daten ein. Nichts mit Frühstück. Sie würden sonst mit den Eingaben nicht fertig, sagen sie. Noch immer habe ich die Hoffnung, dass alles nur ein böser Traum ist. „Aufwachen!“ schreie ich hysterisch, und mein Appell gilt mir und ihnen. „Wir müssen endlich aufwachen!“
Sie reagieren nicht, sondern arbeiten weiter, wie ferngesteuert.
Nein, ich bin nicht verrückt, denke ich. Ich öffne die elektronische Akte von Elaria Pozlacek. Ich bin nicht verrückt. Ich drucke sie aus, lege den dicken Stapel aufs Fensterbrett und öffne das Fenster. Ich bin nicht verrückt, murmle ich. Ich starre in die Weite und warte. Lange warte ich. Sehr lange.
Ich kann es hören, noch bevor ich es erkennen kann. Ein silbrigglänzendes Raumschiff landet auf dem Feld.
testsiegerin - 1. Jul, 11:37
Wegen chronischem und akutem Fußballfieber vorübergehend geschlossen.
testsiegerin - 12. Jun, 22:40
Ich bin eine Rabenmutter. Ich hab mein Kind aus dem Nest geworfen, damit es fliegen lernt. „Nütz die Chance und geh für drei Monate nach Berlin“, hab ich gesagt, obwohl ich weiß, wie sehr mein Rabenjunges sein Nest liebt.
Jetzt ist sie weg. „Hast du ihr wenigstens gesagt, dass sie sich warm anziehen soll?“, hat ein Freund mich heute geneckt.
Nein, ich hab es nicht gesagt, nur gedacht, als ich sie gestern am Bahnhof verabschiedete, in kurzen Hosen. Sie hat gefroren in der Nacht, erzählt sie heute am Telefon, es war total kalt im Zugabteil.
In meinem Leben ist grad Loslassen angesagt. Im Februar musste ich meinen lieben Kollegen loslassen, der plötzlich starb, jetzt meine Lieblingskollegin, die ein Baby kriegt und meine Tochter, die kein Baby kriegt, sondern für einen Sommer nach Berlin geht. Und so ganz nebenbei noch einiges, das mir wichtig ist.
Ja, ich weiß, es ist lächerlich. Es ist normal, wenn junge Frauen das Haus verlassen und ihr eigenes Leben leben. Drum hab ich sie ja rausgetreten, sozusagen. Außerdem verlässt sie ja noch nicht mal das Haus, sondern macht einfach ein Praktikum in Berlin und kommt im September wieder, wenn ich auf Kur bin. In ein paar Wochen werde ich sie besuchen. Trotzdem heulen die beste Freundin meiner Tochter und ich im Auto, als wir sie in den Zug gesetzt haben, mit zwei Koffern und zwei Taschen. „Sie kommt ja wieder“, tröste ich die beste Freundin, die längst Teil der Familie ist. „Schon, aber... sie fehlt mir jetzt schon.“
Mir auch.
Einen wunderschönen Abend haben wir verbracht am Freitag, bei Katiza im Salon. Weltberühmt in Österreich, mittlerweile. So schön ist das, wenn die Menschen nicht nur miteinander feiern, sondern ganz bewusst etwas miteinander teilen. Sich öffnen.
Ich sehe dort meine Tochter mit anderen Augen als die der Mutter. Eine tolle junge Frau ist das, denke ich. Und ich hab ein bisschen Anteil daran. Mein Mann hat großen Anteil daran, weil er derjenige war, der immer für sie da war und ist, der sie gewickelt, die Zehennägel geschnitten und verarztet hat, wenn sie sich verletzt hat. Der sie vor allem immer so angenommen hat, wie sie ist. „Wenn es dir nicht gutgeht, hol ich dich“, sagt er, und wir wissen, dass er es ernst meint. Die D., die meine Tochter als Wahloma ausgesucht hat, sagt das selbe. Wir wissen, dass auch sie es ernst meint. Die beste Freundin, seit fast 15 Jahren, mit der sie sich so gut ergänzt. All die anderen Menschen rund um sie, die sie lieben.
Sie nimmt viel mit, nach Berlin, was sie gut brauchen wird in der großen Stadt. Nicht nur die zwei Koffer und Taschen. Vor allem viel Liebe nimmt sie mit. Ihre starke Persönlichkeit und ihr großes Herz. Ihren schwarzen Humor.
Bestimmt rollt sie mit den Augen, wenn sie das hier liest. Roll du nur, Kind. Aber zieh dich warm an, damit du nicht frierst. Und iss wenigstens hin und wieder auch etwas Gesundes, ja? Man ernährt sich nicht von Kaugummis. Und wenn du wiederkommst, gibt es Milchreis. Versprochen.
testsiegerin - 3. Jun, 21:03
„Oh mein Gott“, flüstert Jan Josef Liefers mir ins Ohr, „ich will mit Ihnen schlafen. Oh, wie gern ich das will.“ In seiner Stimme liegt alles, was eine Frau braucht. Sanftheit, Sicherheit, maskuline Stärke, Intellekt, Witz, Erotik.
Meine Hand wandert unter meinen Rock. „Jan Josef, ich will das auch!“, stöhne ich. Eine Spur zu laut, wie ich merke, als meine Mitpassagiere in der Abflughalle in lautes Gelächter ausbrechen.
Ich laufe rot an. Jan Josef hat nicht zu mir gesprochen, sondern seine Stimme Mick Stranahan geliehen, der wiederum nur deshalb mit Joey schlafen will, weil der Autor des Hörbuchs es so möchte. Gut für die Spannung. Joey, die totgeglaubt ist, weil ihr Scheißmann sie über die Reling eines Kreuzfahrtschiffes geworfen hat, was Joey allerdings überlebt hat, weil Mick Stranahan, der Kerl, der jetzt so dringend mit ihr schlafen will, ihr das Leben gerettet hat, was wiederum ihr Mann nicht weiß, der Joey noch immer tot glaubt.
Joey erstellt in Gedanken eine Liste mit den Gründen, nicht mit Mick zu schlafen. Bei Punkt vier gibt sie auf und schläft mit ihm. Mir fällt nicht mal ein Grund ein, nicht mit Jan Josef zu schlafen. Höchstens vielleicht der, dass er mich nicht gefragt hat.
Ich lächle die Menschen, die mich auslachen, liebenswert an. Kennt mich ja keiner, denke ich, spule zurück, weil ich in meiner Aufregung nicht mitgekriegt hab, ob Joey ebenfalls – so wie ich - „Ich will das auch!“ gestöhnt hat. Ich konzentriere mich auf die Handlung und nicht darauf, dass es mein Lieblingsschauspieler Jan Josef Liefers ist, der mir die Geschichte vorliest. Bitte lies mir irgendwann ein Telefonbuch vor, flehe ich ihn an. Bitte das von Tokio.
Es gelingt mir nicht, mich auf das Geschehen in Florida zu konzentrieren, weil einer der 132 anwesenden Frankfurter Wichtigtuer in ihrer Uniform aus grauem Anzug, schwarzen Schuhen, schwarzem Koffer und dunkelgrauer Ignoranz, und zwar nicht irgendeiner, sondern ausgerechnet der neben mir, ein wichtiges Telefonat führen muss. Sein Tonfall hört sich an, als ginge es um Leben und Tod.
Die Performance ist ausgezeichnet, sagt er und atmet tief. Erst denke ich: Oh, auch ein Künstler, ein etwas untypischer Künstler halt, aber ich hänge zum Glück nicht an Klischees. Ich will ihm ebenfalls von meiner Performance am Vorabend erzählen. 150 Leute im Publikum, ich im kleinen Schwarzen mit den Leseschuhen, mit denen ich nur lesen und ficken, aber nicht gehen kann, auf der Bühne. Headset auf dem Kopf. Wichtig. Ein verführerisches Lächeln auf den Lippen. 300 Augen an meinen Lippen. Aber das scheint den Kerl neben mir nicht zu interessieren, er blufft weiter mit seinen Imponiervokabeln wie Cashflow, Blue Chips und Volatilität.
Ich drehe meinen Ipod lauter, aber Jan Josef hat keine Chance gegen ihn. Impertinenz schlägt Intellekt. Ich drücke resigniert auf Stopp. Versuche, dem Geschwätz neben mir zu folgen, aber es will mir nicht gelingen. Das unbeabsichtigte und ungewollte Verfolgen von Handy-Telefonaten ist nicht nur unsäglich und unerträglich, es macht dem Gehirn vor allem deshalb Stress, hab ich mal gelesen, weil dieses ständig damit beschäftigt ist, sich potentielle, plausible Antworten des Gegenübers auszudenken, um die Puzzleteile richtig zusammenzusetzen. Keine halben Sachen.
Mir fallen beim besten Willen keine plausiblen Antworten auf Stop-Loss-Order und Fundamentalitätsanalyse ein.
Der Kerl neben mir redet laut und wichtig, die Menschen neben ihm ignoriert er, weil er sie gar nicht wahrnimmt. Wahrscheinlich verdient er das Zehnfache von dem, was ich verdiene, obwohl er noch nie in seinem Leben etwas Richtiges gearbeitet hat. Noch nie einer alten Frau den Hintern ausgewischt, am Bau Ziegel geschupft oder beim Billa die Regale betreut. Na gut, auch ich habe das alles noch nicht gemacht, aber trotzdem.
Ich denke an die Menschen, die ich am Vortag besucht habe. Die schlanke Blondine, zehn Jahre jünger als ich. Sechs Kinder, die drei minderjährigen, alle geistig schwer behindert, leben bei ihr, und sie sorgt gut für sie. Die ältere Frau, die seit Jahren ihren Mann pflegt. Alkoholiker. Leberzirrhose. Vor zwei Wochen ein Bein amputiert. Nekrosen am ganzen Körper. „Vielleicht muss der zweite Hax’n auch dran glauben“, hat sie gesagt, „beinahe wäre er bei der OP gestorben, aber mein Mann ist hartnäckig“.
Das sind für mich Heldinnen, denke ich, nicht diese Bankenfuzzis, die sich nur ums Geld sorgen und nicht um die Menschen. Geld ist offensichtlich in dieser Gesellschaft mehr wert. Ich frage mich, was die beiden Frauen, die mit den Jungen und die mit dem Alten, von so einem Typen denken würden. Aber diese Frauen fliegen ja nicht von Frankfurt nach Wien. Die fahren höchstens in die Apotheke und in die Sonderschule.
Ey, sei ein bisschen toleranter, ermahne ich mich. Wird bestimmt wahnsinnig wichtig sein, sein Job. Ich komme aber nicht drauf, für wen und warum.
Je länger der Kerl neben mir brabbelt und prahlt, desto wütender werde ich. Nicht nur, weil er mich von Jan Josef abhält. Ich beobachte die anderen Menschen in der Halle. Da, an der Tür. Drei gut gekleidete Araber. Vielleicht ist zufällig einer von ihnen ein Selbstmordattentäter, der die Maschine in die Luft jagt, denke ich, als mir einfällt, dass ich Klischees hasse und außerdem in diesem unwahrscheinlichen Fall auch tot und es um mich ziemlich schade wäre.
„Schluss jetzt mit dem Quatsch!“, brodelt meine ganze Wut an die Oberfläche und kocht über. „Rufen Sie wenigstens Ihre Freundin an und fragen Sie, was es zum Abendessen gibt. Aber wahrscheinlich haben sie gar keine Freundin, weil mit so einem Schleimer keine Frau etwas zu tun haben will. Oder noch besser: Denken Sie einmal über Ihr verkorkstes Leben nach. Konzentrieren Sie sich verdammt noch mal auf den bevorstehenden Flug und machen Sie Ihre Atemübungen. Wenn wir abstürzen, können Sie mit Ihren Aktien scheißen gehen. Halten Sie endlich Ihre verdammte Klappe, Sie präpotenter Arbeitsverweigerer. Solche wie Sie haben uns schon tief genug in den Ruin geritten. Und wenn Sie schon telefonieren müssen, dann bitte heimlich auf dem Klo, nicht in aller Öffentlichkeit. Dieser Schwachsinn interessiert ja keinen!“
Tosender - beinahe möchte man sagen frenetischer - Applaus brandet in der Abflughalle auf. Ja, die haben nur auf so jemanden wie mich gewartet. Auf jemanden, der es einem von denen einmal richtig hineinsagt.
Ich werde kostenlos upgegradet, die Cabin Crew bringt mir Martini, mit Zitrone und Eis. Gerührt. Ein nasses, kühles Tuch für die Stirn. "Entspannen Sie sich ein bisschen, Frau Lehner."
Ich darf mir aus dem Boardkatalog zwei Parfums, vier Lippenstifte und drei Uhren aussuchen, der Pilot lädt mich in das Cockpit ein und erklärt mir die vielen bunten Lämpchen, man serviert mir rosa geschmorten Kalbsrücken mit Frühlingsgemüse-Melange. Der schwule Flugbegleiter massiert meine Füße und für wenige Stunden bin ich Heldin des Alltags, Rächerin der Enteigneten. Ich bin stolz auf mich, und froh, dass ich mich endlich gewehrt habe. Mein ganz persönliches Blockupy in Frankfurt.
„Frau Lehner, aufwachen!“, tätschelt mir die Flugbegleiterin die Wangen. Oh, schon da? Ich schlage die Augen auf. Sie trägt einen blau-weißen Kittel und ein weißes Mützchen. Mein Business-Class-Liegesitz stellt sich als Pflegebett heraus. „Nicht bewegen, Frau Lehner, Ihr Körper ist von Hämatomen übersät. Offenbar sind Sie mit Aktenkoffern traktiert worden und man hat Zigaretten auf Ihren Oberschenkeln ausgedämpft. Auf ihrem Rücken hat jemand die Dax-Börsenkurve eingeritzt. Sie müssen ja etwas Schlimmes angestellt haben, dass die führenden Börsegurus Frankfurts derart über Sie hergefallen sind.“
Tränen kullern über meine Wangen. Ich habe Schmerzen, innen und außen. „Die Infusion wird gleich wirken, Frau Lehner“, sagt die liebenswerte Schwester. „Sollen wir jemanden von Ihren Angehörigen verständigen, oder eine Freundin?“
Ich schüttle den Kopf. „Danke nein. Sagen Sie bitte nur Jan Josef Liefers, dass er kommen und mir vorlesen soll.“
testsiegerin - 26. Mai, 17:46
Ganz warm wurde mir, beim Lesen der Feedbackbögen nach der dreitägigen (verpflichtenden) Schulung, die ich geleitet hab.
"Ach, wären doch nur alle Schulungen so wie diese hier!", stand da. Oder: "Bewundernswert, wie man so schweren Stoff (Anm.: Ersatzweise Zustimmung zu medizinischen Behandlungen, Wohnortbestimmung etc.) so leicht machen kann."
Oder: "Wunschlos glücklich."
Fast lauter Einser bei Fachlicher Kompetenz, Didaktisch-methodischer Kompetenz (Vermittlung, Flexibilität, Präsentation, Rhetorik) und Sozialkompetenz (Motivationsfähigkeit, Kommunikation, Teilnehmerbezogenheit, sonstiges Auftreten). Hach, tut das gut!
Und weil das Auge mitisst, stand bei Sonstiges in einem Feedbackbogen: Schöne Strumpfhose, Barbara! und in einem anderen (wohlgemerkt mit einem Kreuzchen bei "beste Bewertung"):
Zu sexy angezogen ;-)
testsiegerin - 22. Mai, 10:01