Aus den Ritzen der dicken Mauern
kriecht gemächlich das Kühl
des vergangenen Winters
Aus dampfenden Körpern
strömt die Hitze
vergangen geglaubter Tage
Antikes Leinen, handgewebt
legt sich auf Leiber, lebensgegerbt
deckt Makel zu
und enthüllt
mächtiges, männliches Begehren
Gemach, Geliebter!
lächeln die Fältchen um Augen
und Lippen
Gemach!
Worauf noch warten?
Draußen droht schon der Donner
(und vom Gemahl Ungemach)
testsiegerin - 23. Jul, 10:58
testsiegerin - 19. Jul, 20:46
Ihr Leben war eine Reise. Und Reisen war ihr Leben. Voriges Jahr war sie da, wo ich so gerne hinwill. In West-Samoa. Vorige Woche war sie in der Karibik. Jetzt ist sie tot. Oder „auf ihrer letzten, großen Reise“, wie die Rednerin der Bestattung gesagt hat.
Wenn sie im Büro war, war alles ein bisschen heller als sonst. Meistens gut gelaunt, optimistisch und heiter. Und meistens mitten in Vorbereitungen für die nächste Reise.
Ob sie sich auf diese Reise auch vorbereitet hat? Kann man sich auf diese Reise überhaupt vorbereiten, außer, indem man lebt, in Hülle und Fülle, außer, indem man gut lebt, Gutes tut und andere Menschen mit seiner Fröhlichkeit ansteckt? Das hat sie immer getan.
Ich weine um M. Kann meine Gesichter nicht abwenden von ihren weinenden Töchtern. Bin in diesem Moment selbst wieder Tochter, die um ihre Mama weint. M. war gleich alt wie meine Mama, als diese gestorben ist.
Ich überlege, wie es wohl sein muss, von Beruf Bestattungsrednerin zu sein. Sie wirkt, als würde sie tatsächlich mitleiden. Jedes Wort wirkt ehrlich und authentisch, obwohl sie die meisten davon wahrscheinlich schon hundert Mal gesagt und damit Trauernde getröstet hat. Es ist eine schöne Rede. Eine, die M. gerecht wird. Es geht ums Reisen, um die Liebe, darum, dass diese auch über den Tod hinaus bleibt. Es ist nur eine Reise. Halt eine, von der man nicht wiederkommt.
Was empfindet die Bestattungsrednern, wenn sie den weinenden Angehörigen in die Augen schaut? Ist sie mehr Sprecherin, mehr Seelsorgerin oder mehr Schauspielerin? Oder ist sie einfach Mensch?
Ich beobachte sie, wie dann ganz allein aus dem Krematorium geht, durch die Arkaden. Bereitet sie sich jetzt auf die nächste Rede vor? Oder geht sie jetzt nach Hause zu ihren Kindern? Legt den schwarzen Hut und das schwarze Kleid ab, schlüpft in den Jogginganzug und backt Kuchen? Sagt sie bei Kaffee und Kuchen zu ihrer Familie: „Heute war es besonders berührend. Tod in der Karibik.“ Ob sie manchmal weint, wenn sie in die weinenden Gesichter blickt? Hat sie selbst festgelegt, wie sie bestattet werden will? Oder verdrängt sie den Tod auch? Kann man den Tod verdrängen, wenn man täglich so unmittelbar damit konfrontiert wird? Ob sie sich auch heimlich überlegt, was bei ihrer eigenen Trauerfeier über sie gesagt wird? Hat sie ihre eigene Trauerrede gar schon geschrieben?
Ich ertappe mich bei egoistischen Gedanken. Werden sie über mich auch sagen, dass ich eine liebende Mutter war? Eine, die immer für ihre Kinder da war? Eine, die gern gelacht hat? Was wird es sein, das den Menschen von mir in Erinnerung bleibt? Wer wird da sein und um mich weinen? Werden Sie für mich Konstantin Wecker und Patti Smith spielen? Wird Eleonore wütend und traurig „Get here, if you can?“ singen?
Ich möchte auch verbrannt werden. Ein letztes Mal noch so richtig brennen. Ich weine um M. Ich weine um meine eigene Sterblichkeit. Wieder einmal wird mir so richtig bewusst, dass es jeden Moment vorbei sein kann. Dass das Leben sich nicht planen lässt. Und man manchmal nur ein Hinflugticket braucht.
testsiegerin - 6. Jul, 18:47
Wer hier gerade geschliffene Texte, tiefgründige Gedanken zur politischen Situation oder kunstsinnige, prosaische Lyrik erwartet, hat sie wohl nicht mehr alle. Tut mir leid, Leute. Nicht so kurz vor Sommerbeginn (ja, ich glaube noch immer dran). Nicht vor Schulschluss. Nicht nach dem Diplom und vor der Zertifizierung.
Vor allem aber nicht während der WM.
Ich gestehe, ich war drauf und dran, heute Abend die Daumen für die Deutschen zu drücken. Na ja, einen wenigstens. Und den anderen für Ghana. Ich hab viele Freunde und Freundinnen in Deutschland, deshalb. Und sie haben im ersten Spiel wirklich klasse gespielt, und da sind ein paar sympathische und fesche Burschen dabei (Ich denke jetzt nicht an Podolski und Schweinsteiger)
An Roman Wallner und Sebastian Prödl kommen sie natürlich nicht heran. (Hab ich erwähnt, dass es ein Foto von mir und ihm gibt? Ist mir eh ein bissl peinlich, aber er wollte sich anlässlich der EM unbedingt mit mir fotografieren lassen.)
Auf jeden Fall hat mir Jogi Löw meine zarte Annäherung an die deutsche Fußballnationalmannschaft gestern bei der Pressekonferenz brutal zerschnitten und meine Hoffnung auf eine beginnende Freundschaft kaputtgetrampelt.
„Bei allem Respekt, es ist ein Unterschied, ob man gegen Österreich oder gegen Ghana spielt“, hat er abfällig gesagt, als er gefragt wurde, ob die Situation der EM gleiche, vor dem Drittrundenspiel gegen Österreich.
Bei allem Respekt, Jogi, aber das hat mich total gekränkt. Da schaut mein neu erworbenes Luxusgesicht ein bissl grantig. Das ist respektlos, zumindest den ÖsterreicherInnen gegenüber. Weil unsere Mannschaft nämlich bei der EM richtig gut gespielt hat, nicht so wie jetzt. Und überhaupt.
Und dann ist da noch dieses Boateng-Duell heute abend. Jerome und Kevin. Jerome, der brave, der für die Weißen spielt. Kevin, der Bad Boy, der für die Schwarzen spielt.
Jerome, das Liebkind des Papas, immer schon ein ganz netter und wohlerzogener. Kevin-Prince, das schwarze Schaf, wenn man das so sagen kann. Straffällig geworden, nicht gut genug für die deutsche Nationalmannschaft und dann hat er auch noch den Nationalheiligen Ballack niedergemäht.
Lieber Papa Boateng. Was haben Sie sich erwartet? Ich vermute mal, Jerome war ihnen schon mehr ans Herz gewachsen, als er noch im Mutterleib war. Wer sonst nennt sein Kind Kevin? Kevin-Prince noch dazu. Es war klar, dass da etwas krass schiefgehen muss, oder? Noch nie von Kevinismus gehört? (Als Kevinismus - auch: Chantalismus - bezeichnet man die krankhafte Unfähigkeit, menschlichem Nachwuchs menschliche Namen zu geben. (https://de.uncyclopedia.org/wiki/Kevinismus) Diese Krankheit tritt in Randschichten übrigens vermehrt auf.
Seine Abstieg war vorgezeichnet.
Lieber Papa Boateng, ich drücke heute trotzdem Ihrem schwarzen Schaf die Daumen. Oder deshalb. Beide Daumen. Weil ich für die Randgruppen bin. Und wegen Jogis mangelndem Respekt uns ÖsterreicherInnen gegenüber.
Möge Ghana gewinnen.
Oder – wie Prinz Poldi (man beachte die Ähnlichkeit zu Kevin-Prince) so schön sagt:
„Fußball ist wie Schach ohne Würfel“
testsiegerin - 23. Jun, 09:24
... und hab deshalb grad keine zeit zum schreiben.
außerdem bin ich seit gestern diplomierte trainerin. nein, nicht für fußball. für wirtschafts- und sozialkompetenz. dabei hab ich von wirtschaft keine ahnung und sozial bin ich schon seit jahrzehnten kompetent. von fußball versteh ich auch was (und das nicht nur, weil ich gelesen hab, dass männer frauen, die was von fußball verstehen, attraktiv finden). drum muss ich jetzt wieder schauen. die seleção, sie verstehen?
bis bald.
testsiegerin - 20. Jun, 20:57
„Na Frau Müller, wie geht’s?“
Der Sachbearbeiter der Bundesagentur für Arbeit lächelte überheblich. Er genoss die neue Macht, die er hatte. Seit kurzem durfte er Leistungen an Arbeitslose vermehrt nach eigenem Ermessen verteilen und war nicht mehr durch gesetzliche Vorgaben gebunden.
Ingrid Müller schwieg und kramte nach einer Zigarette.
„Tun’s die Zigarette weg, Frau Müller“, meint er, „in öffentlichen Gebäuden ist rauchen verboten. Und so lange sie sich noch Zigaretten leisten können, scheinen Sie ja nicht am verhungern zu sein.“
„Bitte“, presste Ingrid Müller heraus, „wegen der Kinder.“
Sie fühlte sich gedemütigt. Die Frau Bundeskanzlerin wollte das so, weil man bei den Sozialmissbrauchern angeblich am meisten einsparen konnte. Frau Merkel wollte es sich schließlich nicht mit den Mächtigen anlegen, mit denen trank sie lieber Champagner. Hatz 4 – Bezieher waren da wesentlich pflegeleichter. Außerdem waren die schließlich schuld an der Banken-Krise. Hatten Konten mit nichts drauf und keine Aktien, an denen die sich bereichern konnten.
„Tut mir leid“, sagte der Sachbearbeiter, „wir müssen jetzt sparen. Sie wissen schon, wegen der Krise. Und seien wir uns ehrlich, die Kinder brauchen wirklich nicht jeden Sonntag ein Eis. Und Ihnen“, sein Blick wanderte von ihren Brüsten zu ihren Hüften, „Ihnen täte ein wenig abspecken auch nicht schaden.“
Ingrid Müller strich ihren Rock glatt und stand auf. „Nun dann...“
„Ich hätte da schon noch eine Idee“, rieb der Sachbearbeiter sein kantiges Kinn. „Es liegt ja nun in meinem Ermessen, seit sie die Gesetze für Sozialschmarotzer abgeschafft haben. Ich könnte Ihnen gern ein bisschen entgegenkommen, wenn Sie mir auch ein bisschen entgegenkommen. Der Sommer soll sehr feucht werden, und Sie brauchen ja noch Gummistiefel für die Kinder, oder?“
Ingrid Müller nickte. „Wie meinen Sie das?“, fragte sie arglos.
Der Sachbearbeiter stand auf und öffnete langsam den Reißverschluss seiner Hose. „Es liegt in meiner Hand, murmelte er, „ob Ihre Kleine weiterhin Blockflöte lernen kann. In meiner Hand...“, er grinste süffisant, „... und in Ihrem Mund.“
Sie würde nicht in die Knie gehen, dachte Ingrid Müller und presste die Lippen aufeinander. Sie nicht.
„Na? Ich hab gehört, die Stromrechnung ist auch noch offen?“
Ingrid Müller ging in die Knie.
Und dann biss sie zu.
https://derstandard.at/1271378244941/Der-Sozialstaat-muss-abspecken
testsiegerin - 6. Jun, 20:08
(dürfen aber natürlich auch die noch mal lesen, die die Geschichte schon kennen)
„Jetzt ist er weggeflogen.”
Enttäuscht blickte Hubert dem Greifvogel hinterher und drückte die Kappe auf das Objektiv, während die Frau keuchend die kleine Plattform erreichte. Sie erkannte den Vorwurf in seinem Blick und sah ihn fragend an.
„Schwarzmilan.” Hubert war Werbetexter und sonst gar nicht wortkarg. Sonst war er auch nicht so leicht zu frustrieren.
„Isabell Würger. Tut mir leid, Herr Schwarz. Ich wusste ja nicht...”
„Ein Isabellwürger? Wo?“ Sofort steckte er die Kappe wieder in die Tasche und presste das Fernglas an seine Augen. „Im Juni 2002 hab ich einen gesehen, im Mühlviertel. Die sind sehr selten.“
Du bist auch ein seltener Vogel, dachte Isabell. Sie entschied sich für F69. Nicht näher bezeichnete Persönlichkeits- und Verhaltensstörung.
„Was immer Sie da jetzt suchen. Ich heiße so. Würger. Sie dürfen mich gern Isabell nennen.“
„Hubert.“ Er schüttelte ihre Hand. „Hubert Weiss.“
So, so. Aus Milan Schwarz wird mal eben Hubert Weiss. Isabell lugte vorsichtig nach hinten. Den Fluchtweg sichern. „Angenehm“, log sie.
„Poltern sie immer so laut einen Aussichtsturm hoch?“ Hubert war es offensichtlich auch nicht angenehm.
„Ich trainiere.“
„Für die Staatsmeisterschaft im Vögel-Vertreiben?“
Isabell stöhnte und wünschte sich weit weg. Nach Dubai, am liebsten. Dort könnte sie sich wesentlich effizienter auf den Treppenlauf vorbereiten als im Waldviertel. Die Hochhäuser hier waren dünn gesät.
„Für Niesen.“
„Ich verstehe. Sie rennen hier leicht bekleidet herum, holen sich eine Erkältung und werden das Niesen souverän gewinnen. Nehmen Sie auch am Husten teil?“
„Der Niesen. Das ist ein Berg in der Schweiz. Da gibt’s die längste Treppe der Welt. Aber Sie haben recht, ich hole mir noch eine Lungenentzündung hier oben. J18.0 übrigens.“
Hubert lächelte verständnisvoll. „Darf ich Ihnen eine Decke anbieten?“
„Ja, gern.“ Der war offensichtlich doch harmlos. „Sie fotografieren Vögel?“
„Nein, ich beobachte sie nur. Früher war ich Hobbyornithologe. Heute nennen sie uns Birder. Das Tier, das sie mir verscheucht haben, war ein Schwarzmilan. Hier ausgesprochen selten. Noch seltener ist allerdings der Isabellwürger.“
Sie schaute erstaunt. „So einen Vogel gibt es wirklich?“
„Der Würger ist kein Mörder, erfreut das Herz vom Birder. Entschuldigen Sie“, er grinste verlegen. „Und Sie? Warum trainieren Sie ausgerechnet hier für Ihren Treppenlauf? War Ihnen New York zu langweilig?“
„Ich habe beim Pokern verloren.“
„Klar.“ Die Frau war nicht ganz dicht.
„Ich verreise immer gemeinsam mit meiner Freundin“, erklärte sie. „Ich wollte nach Dubai. Aber sie hat gewonnen. Sie gewinnt immer.“
„Vermutlich schummelt sie.“
Isabell lachte. „Ja, aber nicht immer zu ihrem Nutzen. Sie hat mal ein Rendezvous mit einem Mann gewonnen. Und deshalb ist sie jetzt geschieden und will nicht nach Dubai. Der Kerl war Araber.“
„Pssst.“ Er legte seinen Zeigefinger über die Lippen und beugte sich zu ihr. „Horchen Sie mal.“
Sie hörte nur ihr Herz klopfen.
„Halten Sie Ihr Goldkettchen fest“, flüsterte er ihr ins Ohr.
„Warum?“, hauchte sie zurück. „Kommt der Würger?“
„Nicht der Würger. Der Halsbandschnäpper.“
„Meine Güte, ich komm mir vor wie in einem Edgar Wallace-Film. Sind Sie etwa der Frosch mit der Maske?“
„Sehr witzig.“ Hubert verzog beleidigt das Gesicht.
„Beschäftigen Sie sich beruflich mit Vögeln?“, versuchte Isabell die Situation zu retten und trat ins nächsten Fettnäpfchen.
„Wäre ich ein plumper, etwas einfältiger Kerl würde ich jetzt mit, nein, das ist mein Hobby, antworten. Bin ich aber nicht. Deshalb übergehe ich diese Ihre Frage souverän.“
„Danke.“
„Bitte.“
Sie schwiegen.
Ich sollte ihm die Decke zurückgeben und zum Campingplatz laufen, dachte sie. Dort würde sie gegen ihre Freundin beim Pokern verlieren und zum vierten Mal in dieser Woche das Essen bezahlen.
Ich sollte die Sache mit dem Schwarzmilan für heute vergessen, dachte er. Nach Wien zurückfahren, ein paar dämliche Werbetexte für Schokokekse schreiben und mir einen guten Film anschauen.
Während sie so dachten, standen sie unbeweglich auf der Plattform. Es dämmerte.
„Darf ich mal?“ Sie deutete auf das Fernglas.
Er reichte es ihr.
Zunächst sah sie gar nichts. Wenig später ein bisschen verschwommenen Himmel. Dann viele Bäume, die langsam schärfer wurden. Plötzlich hielt sie inne.
„Was sehen Sie?“, flüsterte er.
„Still!“, zischte sie und er gehorchte.
Die Frau, die sie im Objektiv hatte, trug Rot. Lehnte am Baum und lachte. Erstarrte im nächsten Moment. Hände, die ein Stück Seil umklammerten. Es gegen den Hals der Frau drückten. Isabell wollte schreien, brachte aber keinen Ton heraus. Sie schwenkte das Fernglas nach links. Eine schwarze Lederjacke. Blaue Augen, die jetzt direkt zu ihr schauten.
Das Fernglas rutschte ihr aus den schweißnassen Händen und landete im hohen Gras. „Schnell.“ Sie zerrte an seiner Jacke. „Ducken Sie sich. Er hat uns entdeckt!“
„Spinnen Sie?“, herrschte er sie an, so leise, wie er konnte. „Wissen Sie, was das gekostet hat?“
„Ich hab ihn gesehen“, stammelte sie.
„Wen haben Sie gesehen?“
„Den Würger.“
„Oh Gott! Beschreiben Sie ihn!“ Er hatte keine Zeit, sich über ihre Ornithologiekenntnisse zu wundern.
„Er ...“, stotterte sie „..blaue Augen. Eine Glatze.“
Er hatte auch keine Zeit, sich über ihre psychische Verfassung zu wundern. „Das kann nicht sein. Der Kahlkopfwürger lebt nur auf Borneo.“ Fassungslos schüttelte er den Kopf.
„Kein Vogel, Sie Idiot!“, presste sie hervor. „Ein Mörder! Ein richtiger Mörder.“
Isabell klammerte sich an ihn.
Sie ist verrückt, dachte Hubert und löste sich von ihr. Sie ist übergeschnappt. Ich hätte es ahnen können. Wer läuft schon freiwillig Treppen hoch? Noch dazu im Waldviertel.
„So schauen Sie doch selbst!“, flehte sie ihn an.
„Das geht nicht. Sie haben soeben mein Glas über Bord geschmissen.“ Er schlich nach unten, kämpfte sich auf allen Vieren leise durchs hohe Gras, fand sein Fernglas wieder und kletterte wieder auf die Ausichtsplattform.
„Da ist eine Lichtung." Sehen Sie die? Und ein paar Birken.“
Er sah die Lichtung. Er sah die Birken. Aber er sah keine Leiche. Nur ein Eichkätzchen sah er. Er wandte seinen Blick zu Isabell. Ihre Augen waren starr. Hubert war kein ängstlicher Mensch, aber jetzt war auch ihm etwas mulmig zumute.
Sie riss ihm das Fernglas aus der Hand. Fand die Stelle. Kein Rot. Kein Glatzkopf. Keine Tote. Kein Seil.
„Aber ... Aber ich hab’s doch genau gesehen. Vielleicht hat er sie verscharrt.“
„In sieben Minuten? Meinen Sie, er trainiert für die Europameisterschaft im Leichenvergraben?“ Er holte den Flachmann aus seiner Brusttasche und reichte ihn ihr. „Hier. Beruhigen Sie sich erstmal. Und dann gehen Sie dorthin, wo Sie hergekommen sind. Die Decke können Sie behalten.“ Und gleich morgen gehen Sie zum Psychiater, hätte er gerne noch hinzugefügt.
Sie trank. Vielleicht bin ich verrückt, dachte sie. Erkrankung aus dem Schizophrenen Formenkreis, vielleicht hab ich das. Die zugehörige Zahl fiel ihr nicht ein. Isabell tippte bei der Krankenkasse Diagnosen in den Computer, da gingen viele Krankengeschichten durch ihre Hände. Unter anderem solche von Menschen, die tote Kinder im Keller sahen, oder der Nachbarn auf dem Dachboden. Sie halluzinierte. Sah Leichen, wo gar keine waren. Was würde ihre Mutter sagen, wenn sie eine Karte aus der Psychiatrie schrieb? Ob es dort ausreichend Treppen gab? Mit wem und worum würde ihre Freundin ohne sie pokern?
„Ich kann nicht gehen.“ Trotz Decke bibberte sie. „Er hat mich gesehen. Er wird mich auch töten.“
Er tätschelte ihren Kopf, wie eine Mutter den Kopf ihres Kindes tätschelte, das sie trösten wollte, aber nicht ernst nahm. „Ist schon gut. Ich bringe Sie dann zurück. Aber ein bisschen mag ich gerne noch schauen.“
Sie nickte, kuschelte sich fester in die Decke und trank die Flasche leer. Hin und wieder wurde sie von Weinkrämpfen geschüttelt, was Hubert hilflos machte. Irgendwann schlief sie ein.
„Oh Gott!“ rief er und schüttelte sie."Schauen Sie mal!"
„Was ist da?“ fragte sie benommen, bevor die Erinnerung zurückkehrte. Er drückte ihr das Fernglas in die Hand. "Dort drüben, bei den Eichen. Sehen Sie den roten Fleck?"
Plötzlich war sie hellwach. "Die tote Frau?"
„Ach was, Sie schon wieder mit Ihren Leichen. Viel aufregender. Ein Rotmilan.“
testsiegerin - 1. Jun, 21:57
Erst sag ich selber ein paar Worte zum gestrigen Tag, dann lass ich jemand anderen sprechen, weil Eigenlob ja müffelt.
Den ganzen Vormittag hab ich geredet und um Sätze gefeilscht (Arbeitsgruppe Handbuch für Ehrenamtliche). Den ganzen Nachmittag hab ich neue Ehrenamtliche in Sachen medizinische Behandlung und Sachwalterschaft geschult. Viel geredet halt.
Im Auto nach Wien hab ich auch nicht geschwiegen, weil ich erst ein bissl runter kommen musste nach der Schulung und ein bissl Sorge gehabt, ob meine Stimme das eh aushält. Und in der Zypresse hatte in dann Angst, ob das Lamm hält. Also, ob es noch Lamm gibt nach der Lesung, weil ich vorher nichts essen kann. "Es gibt Lamm" hat Lamamma gesagt und mir wohlige Schauer in den Bauch gejagt.
Total liebe Leute waren da. Welche, die ich schon kannte, und welche, die ich erst kennenlernen muss.
Ein bissl Bauchweh hatte ich. Nicht nur wegen des Hungers, sondern auch, weil es oft schwerer ist, vor Freunden zu lesen als vor Feinden... ähm... Fremden. Und weil ich ja nicht wollte, dass danach irgendjemand zu Lamamma sagt: Wo hast du diese Tussi denn her? Das war ja schrecklich!
Und dann hab ich gelesen. Trotz Hunger und Bauchweh. Und Eleonore hat gesungen. Und wie so oft, wenn sie singt, hab ich eine Gänsehaut gekriegt. Und mich fallen lassen. In ihre Lieder. In meine Texte. Und jetzt lass ich den Steppenhund (der Mann, der aus einer Blase besteht) reden.
steppenhund (Gast) - 29. Mai, 01:16
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Tja, alle selber schuld, die keine Zeit haben oder zu
weit weg wohnen. Das war ein äußerst stimmungsvoller Abend. Als ich als erster in das Lokal kam und erfuhr, dass die Lesung im Hauptraum statt fände, war ich verwundert, weil mir das Lokal doch sehr klein vor kam. Doch als dann der Reihe nach alle ein trudelten und das Lokal uns gehörte, ging es sich wunderbar aus.
Die Lammkeule gab es noch vor der Lesung, was eine gute Basis für entspanntes Zuhören ergab.
Und jetzt kommen zwei Kritiken:
Eleonore:
Ich höre ihr gern zu. Sie singt sooo richtig. Manchmal entschuldigt sie sich während des Singens, weil ihr ein Ton gerade nicht gelingt oder sie die selbst gedichtete Hymne an die beiden Protagonistinnen B und M nicht lesen kann. Doch wenn sie "over the rainbow" intoniert, passt jeder Ton in Ausdruck, Stimmlage und Dynamik. Und die Emotionalität, die sie in den Song hineinlegt, klingt echt und berührt.
Sie involviert die Zuhörer und bringt sie zum Mitmachen und es kann mich verwundern, wie rhythmisch richtig dann mit gegluckst, mit geschischt oder noimmadoiert wird. Fad kann einem auch schon deswegen nicht werden, weil jede Musiknummer mit einem anderen Instrument gebracht wird, das schließt auch "kein Instrument" ein, wenn sie a capella singt.
Doch das ist alles viel zu eklektisch. Besser beschreibt es vermutlich der erste Satz: "Ich hörer ihr gerne zu."
Barbara:
Ich weiß nicht mehr, wie lange es her ist, dass ich sie das erste Mal bei einer Lesung erlebt habe. Mir fällt auf, dass sie gehörig an Selbstsicherheit gewonnen hat. Das waren zwar alles Freunde oder Freunde von Freunden (oder Freunde von Freundinnen, oder ... (weitere Gendervariationen bitte selbstständig ergänzen)), doch man merkt schon eine Selbstsicherheit, die zu recht vermutlich von den bereits früher stattgefundenen Lesungen her rührt. Ihre Geschichten regen ja schon beim Lesen zum Schmunzeln oder auch zur Besinnlichkeit an, doch vorgetragen wirken sie noch besser, stärker und die Situationen können besser visualisiert werden. Auch wenn ich die Geschichte vom Herwig Steiner schon gelesen hatte, habe ich mich aufs Neue köstlichst amüsiert.
Die abschließende Geschichte über den schweigsamen Heinz, der fast ein Bauer mit wirklichem Hochschulabschluss ist, hätte ich vor zwanzig Jahren schon kennen sollen. Dann hätte ich die Frauen besser verstanden. Die Wechselrede (nachdem vorher die Leere des Kühlschranks beschrieben wurde): "Hast Du gar kein Fleisch im Haus?" - "Doch, das schält gerade einen Hokkaido." die muss einer erst einmal einfallen. Insgesamt ist die Geschichte so verfasst, dass ich mich mit dem männlichen Protagonisten ja leider gar nicht identifizieren kann. Doch beim Folgen der Leserin in die immer dichter werdende Atmosphäre laufen bei mir die Erinnerungen an Bestehendes vorbei, die Aktionen, bei denen sich diese spontane und rasche Verdichtung bis hin zur Zweisamkeit eingestellt hat. Die Geschichte erinnert mich auch an das Bedauern, dass sich bei mir manchmal bei Bekannten einstellt, bei denen ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, dass aufgrund einer momentanen "Zufälligkeit" die Zukunft für einen Augenblick oder für Stunden oder für Tage komplett aus den Augen verloren wird. Ich habe gelesen, dass Frauen etwas bedauern, was sie nicht gemacht haben, während Männer die verpassten Gelegenheiten bedauern.
Nun, diese Frau hat die Gelegenheit nicht verpasst und da scheint auch nichts zum Bereuen dabei gewesen zu sein.
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Damit komme ich zum Schluss. Zu bedauern sind die, die aus den unterschiedlichsten Gründen nicht dabei sein konnten. Ihr könnt aber die Geschichten vom Herwig Steiner und auch andere direkt von Barbara bestellen und kaufen. Das richtet sich insbesonders an die Frankfurter Freunde:)
testsiegerin - 29. Mai, 20:18