Das ist Laila. Sie hat eine dicke Backe. Sie ist ein Lama. Liebenswert, ein bisschen stur, aber ausgesprochen gutmütig und wollig weich.
Das sind Laila und Inka. Eine von beiden hat eine dicke Backe. Die andere ist ein bisschen sturer.
Das sind Laila und die Testsiegerin. Es war Liebe auf den ersten Blick. (Nicht nur wegen des gleichen Kopfschmucks.) Zumindest von meiner Seite. Laila ist ein bisschen wie die Testsiegerin. Liebenswert, ein bisschen stur, aber gutmütig, und wollig weich. Wolliger als ich.
Scheinbares Bezugswissen, die Quantenphysik und Diskussionen übers Glück waren mir dieses Wochenende egal, weil ich nämlich einfach glücklich war. Da waren Lamas, da waren Wölfe, da waren Hasen, da waren Hunde, da waren Rindlandviecher, da sind Katzen, da waren Riesenmühlenbrote, Rindsschnitzel, Rhabarberkuchen, Lachs-Mozarella-Röllchen, da war Prosecco, da war Natur, da war Lachen, da war Nähe, da war Sonne, da war Regen, da war lebendiges Leben. Da waren Menschen, die ich sehr mag. Da war Glück. Ganz viel Glück. Ob mit oder ohne Glückstagebuch ist eigentlich egal.
Und auch wenn ich das alles genieße und aufsauge und mich lebendig fühle und jung, oberflächlich bin ich deshalb noch lange nicht. Ich werde weder die Wirtschaftskrise bekämpfen noch den Ölteppich aufsaugen können (aber ich hab meine Wohnung gesaugt, das konnte ich). Was ich kann ist, den Menschen rund um mich Wärme zu geben und was zu Essen. Das mag ein Tropfen auf den heißen Stein sein. Aber es ist, was es ist.
testsiegerin - 24. Mai, 22:27
Ich beschäftige mich ja grad sehr mit dem Glück, habe unzählige Glücksstudien und Forschungsergebnisse gelesen. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass Glück etwas sehr subjektives ist und stark mit unseren ureigenen Werten und Lebensmotiven zu tun hat und bin Glückstipps und Verallgemeinerungen gegenüber skeptisch. Neugierig und zum Teil fasziniert bin ich von den Ergebnissen zum Teil trotzdem.
So hat der italienische Psychiater Giovanno Fava depressiven PatientInnen empfohlen, ein Glückstagebuch zu führen. Jeden Abend sollten sie drei bis fünf Dinge aufschreiben, die sie zufrieden oder glücklich gemacht haben.
Klingt lächerlich, ich weiß, ist es vielleicht auch. Die Studie hat gezeigt, dass depressive Patienten nach zehn Wochen deutlich weniger Angst hatten, ihre Niedergeschlagenheit hatte sich stark gebessert. Ohne Antidepressiva, nur indem sie schöne Momente auch als solche wahrnehmen und bewusster und sinnlicher durch den Alltag gehen. (Und das hat für mich nichts damit zu tun, die Ölpest und die Wirtschaftskrise zu verleugnen und Probleme zu verdrängen. Es geht lediglich auf den Fokus.)
Ja, auf jeden Fall bin ich – wie gesagt, ein neugieriger Mensch. Also habe ich angefangen, Glückstagebuch zu schreiben. Wenns nicht hilft, dann wird es wohl zumindest nicht schaden. Und wenn ich jetzt so nachschaue, was ich in den letzten Wochen aufgeschrieben habe, dann bin ich entsetzt.
Mittwoch
• Krautfleckerl gekocht und gegessen
• trainiert
• Großmutters Germguglhupf gebacken
Donnerstag
• Frühstück mit S., schön und lecker!
• Mittagessen beim Italiener mit Frau Dr. Blubb, danach mit ihr im Café Central Melange und heiße Schokolade getrunken
• mit M. Fußball geschaut und danach im Theater
Freitag
• Lachsfrühstück im Büro
• es gibt Lamm
• fleißig trainert und gut geschwitzt
• Zotter-Schokolade
Ja, so geht’s dahin. Kochen, Essen und Trainieren machen mich glücklich. Am glücklichsten mit Menschen, die mir wichtig sind. Und ich ertappe mich untertags beim Gedanken: Das ist jetzt schön, das muss ich mir unbedingt merken und heute Abend ins Glückstagebuch schreiben.
Gesternabend hab ich was besonders schönes reingeschrieben. Etwas, das ausnahmsweise nichts mit Essen zu tun hat.
E. hat mich angerufen. Ein schönes und offenes Gespräch, das mich berührt hat.
Zurück zu den Glücksstudien. Was viele Menschen noch glücklich macht, sind Singen, Tanzen und ehrenamtliches Engagement. Und die Fähigkeit, dankbar zu sein.
Ich bin grad sehr dankbar.
testsiegerin - 19. Mai, 20:37
Kennt ihr das?
Man ist gut gelaunt, durchtrainiert, frisch geduscht, erhitzt und trinkt die erste Melange des Tages. Man sagt flapsig etwas dahin, völlig ohne Hintergedanken, oder wenn mit Hintergedanken, dann mit freundlichnettennichtsböseswollenden Hintergedanken. Und plötzlich – patsch – kriegt man eine Watschn. Nur verbal natürlich, man ist schließlich kultiviert und gesittet.
Man weiß überhaupt nicht, wieso die andere Person zugeschlagen hat. Der Kaffee vermischt sich mit Schuldgefühlen, Ohnmacht und Ratlosigkeit. Vielleicht hat man die Watschn ja verdient, denkt man. Hat man ja in der Kindheit oft genug gehört, wenn man unschuldig eine bekommen hat. „Die hast du schon verdient“ oder rückblickend „wird dir nicht geschadet haben.“ Vielleicht hat man sein Gegenüber unabsichtlich verletzt oder provziert.
Plötzlich fühlt man sich wieder in die Kindheit zurückversetzt. Schafft es nicht, erwachsen zu reagieren und zu sagen: „Dein Tonfall hat mich jetzt verletzt“ oder „wieso redest du so mit mir?“ oder „bitte nicht in diesem Ton.“
Man sitzt nur da, wie ein begossenes Pudeljunges. Nach außen hin bewahrt man die Contenance, natürlich, man lächelt souverän, nippt am Kaffee und lässt sich nicht anmerken, dass man innerlich verstört, gekränkt und gelähmt ist.
Der Kaffee schmeckt nicht mehr, die Energie des fitten Morgens verflüchtigt sich und die Kälte von draußen kriecht Hand in Hand mit den Regenwolken nach drinnen.
Kurz denkt man: Ich allein entscheide, wer mich verletzen darf, und ich entscheide, ob ich mich verletzt fühle und wenn ja, wie ich mit dieser Verletzung umgehe. Ja, man ist geschult mit positiver Psychologie und der Kraft der positiven Gedanken, aber die finden nicht den Weg in den Bauch.
Ach, wäre ich nur wie der Zen-Meister dieser kleinen Geschichte. Oder wenigstens seine Schülerin.
Sein Problem
Ein Zen-Meister ging einmal auf einer Straße entlang. Da kam ein Mann daher und schlug heftig auf ihn ein. Der Meister fiel zu Boden. Dann stand er wieder auf und ging in der gleichen Richtung weiter, er schaute nicht einmal zurück!
Ein Schüler begleitete den Meister. Er war ganz einfach schockiert. Er sagte: "Wer ist dieser Mann? Was soll das bedeuten? Wenn du auf diese Art lebst, dann kann jeder daherkommen und dich töten. Und du hast nicht einmal geschaut, wer dieser Mann war und warum er das getan hat!"
Der Meister sagte: "Das war sein Problem, nicht meins."
testsiegerin - 16. Mai, 16:09
Als ich gestern gegen Mitternacht aus dem Theater (Berlin, Alexanderplatz im Theater Spielraum - sehr empfehlenswert!) nach Hause gekommen bin, war dieses Mail von meinem Sohn in meiner Box. Und ich gerührt.
Hallo Mama.
Hab heute die Buntwäsche gewaschen und aufgehängt. Die
Waschmaschine mit der schwarzen die drehst du nicht auf, das mache ich morgen am Abend. Da kommt mein Arbeitsgewand und eventuell deine Sachen vom Fitnesscenter, falls du keine Ausbildung hast, dazu. Bis morgen am Nachmittag oder wann du halt heimkommst.
Gute Nacht.
testsiegerin - 14. Mai, 18:12
„Ich dachte, Sie wollten ins Heim, Frau Kurz? Warum waren Sie dann eine halbe Stunde später wieder zu Hause?“
„Die haben mich ausgetrickst, diese Betrüger.“ Frieda Kurz sucht ihre Brille. Frieda sucht ständig ihre Brille. Wenn sie nicht ihre Brille sucht, sucht sie etwas anderes. „Der Direktor vom Heim hat gesagt, ich krieg ein Einzelzimmer. Aber da war kein Einzelzimmer. Also bin ich wieder nach Hause gegangen. Das können die mit jemand anderem machen, nicht mit mir.“
Emma Rogner nickt. Mit mir auch nicht, denkt sie. „Das war sehr konsequent von Ihnen, Frau Kurz.“
„Die Hedi, meine Freundin, die war im Heim. Die hatte ein hübsches Einzelzimmer mit vielen Bildern an den Wänden und einem Balkon. Wenn Sie so eines für mich auftreiben, dann geh ich wieder hin.“
„Ich werde mich bemühen, Frau Kurz, aber versprechen kann ich nichts. Die Wartezeiten sind sehr lang.“
„Ja, ja“, sagt Frieda, „dann wart ich halt daheim auf den Tod.“ Sie steht auf und öffnet mit ihren knöchernen Fingern eine Schublade nach der anderen. „Das muss doch irgendwo sein.“
„Kann ich Ihnen helfen? Was suchen Sie denn überhaupt, Frau Kurz?“
„Sie geben die Finger da weg, aber schnell. Wer sind Sie überhaupt?“
Emma erklärt ihr, wer sie ist und was ihre Aufgabe ist. Aufs Geld aufpassen und dafür sorgen, dass die Versicherung gezahlt wird und die Heimhelferinnen kommen und Frieda ihr Leben nach ihren Wünschen und Bedürfnissen lebt. Nach Möglichkeit.
„Das hat die Trixi auch gemacht“, sagt Frieda, „sich um alles gekümmert. Aber die Trixi kommt nicht mehr.“
Ich weiß, denkt Emma Rogner. Trixi ist Friedas Enkeltochter und hat irgendwann keine Lust mehr gehabt, sich beschimpfen, beleidigen und beschuldigen zu lassen.
„Sind Sie jetzt meine neue Trixi?“, will Frieda wissen und tätschelt Emmas Hand. Dann sucht sie wieder. Diesmal das Radio. Sie findet aber nur eine Unterhose. In der Lade mit den Papieren.
„Nun ja... Ich heiße Emma Rogner, nicht Trixi.“ Als Profi tat es zwar nicht so weh sich kränken zu lassen wie als Enkeltochter, aber angenehm war es trotzdem nicht. Frieda sucht das Sparbuch, findet es und reicht es Emma. „Hier, für Sie “, sagt sie, „passen Sie gut drauf auf, meine neue Trixi.“
„War der Gutachter wegen des Pflegegeldes heute da?“
„Ein unangenehmer Mensch, dieser Arzt. Er hat mich mit Fragen durchlöchert wie eine Maschinenpistole. Mit indiskreten und unanständigen Fragen, verstehen Sie? Ob ich noch kochen kann und wer meine Wäsche wäscht. Das geht doch ein Mannsbild nichts an.“
Emmas Diensthandy klingelt. Der Gutachter ist dran. Verantwortungslos wäre es, die Frau so leben zu lassen, zürnt er. Wie Emma das zulassen könne. Die Frau gehöre schleunigst ins Heim.
„Da ist aber kein Einzelzimmer frei“, meint Emma lapidar.
Der Arzt redet sich in Rage. Die arme Frau könne stürzen und sich den Oberschenkel brechen. Oder vergessen, den Herd abzudrehen oder sonst irgendwie zu Tode kommen.
Tatsächlich ein unangenehmer Mensch, denkt Emma. Frieda hat eine wunderbare Menschenkenntnis. „Ja, Sie haben Recht, Herr Doktor. Das Leben ist in der Tat furchtbar lebensgefährlich “, sagt Emma, „da kann es schon mal passieren, dass man im Alter von 93 stirbt. Oder mit vierzig von einem Dachziegel erschlagen wird. Gehen Sie heute also besser nicht mehr raus.“
Aus dem Zürnen wird ein Brüllen. „Was erlauben Sie sich“, tönt es aus dem Handy, „das wird Konsequenzen haben.“
„Entschuldigung“, schreit Emma ins Telefon und zwinkert Frieda zu, „der Empfang ist hier ganz schlecht. Rufen Sie mich in ein paar Monaten wieder an.“
„Ich komm nächste Woche wieder, Frau Kurz“, sagt sie zu ihrer Klientin und steckt das Sparbuch in die Tasche, „machen wir es so: Ich pass gut auf Ihr Sparbuch auf und Sie passen gut auf sich auf, ja?“
testsiegerin - 11. Mai, 21:24
„Ja. Ich kümmere mich drum. Sobald ich kann. Ja. Wiederhören.“
Sie stellte das Telefon zurück in die Ladestation. Ich kann aber sobald nicht, dachte sie. Das Kümmern wuchs ihr in letzter Zeit oft über den Kopf. Sie hätte sich auch gern manches Mal in so eine Ladestation gelegt. Schon fast halb zwei. Wenn sie jetzt keine Mittagspause machte, dann konnte sie auch ganz darauf verzichten. Ihr Magen knurrte. Ihre Nerven bellten. Und ihre Lendenwirbelsäule biss zu.
„Ich bin in zwei Stunden zurück“, sagte sie zu ihrer Sekretärin, „vielleicht“. Sie spürte das Prickeln in ihrer eigenen Stimme. So etwas Ungehöriges hatte sie in den letzten 40 Arbeitsjahren nicht gesagt.
Die Sekretärin starrte sie an, als hätte sie eben verkündet, auf den Mars zu fliegen. „Gut. Wenn etwas wirklich dringend und wichtig ist, ruf ich Sie am Handy an.“ Immerhin konnte sie endlich zwischen wichtig und dringend und wirklich wichtig und wirklich dringend unterscheiden.
„Nein, das werden Sie nicht tun.“ Das machte ja richtig Spaß.
„Tschuldigung, Frau Inspektor. Guten Appetit.“
Noch zwei Jahre sollte sie durchhalten. Noch zwei Jahre Kümmern. Wann hatte sich eigentlich zuletzt jemand um sie gekümmert? Kümmerte sie sich überhaupt genug um sich selbst? Jetzt helfe ich mir selbst, so hieß das kleine Büchlein, das sie sich gekauft hatte, als sie noch den alten hellblauen Käfer fuhr. Heute fuhr sie einen schwarzen Chrysler Cherokee, gebraucht zwar, aber er funktionierte tadellos. In ihrem Leben war alles Second Hand, die Kleidung, der Ehemann, die Kinder und eben das Auto.
Damals, mit dem hellblauen Käfer, hatten noch reihenweise Autofahrer angehalten, wenn sie am Straßenrand liegen geblieben war. Nun hatte sie seit zwanzig Jahren nicht mal mehr eine Panne gehabt. Früher war überhaupt alles besser. Früher war alles früher. Ganz in Gedanken lief sie gedankenlos durch die Fußgängerzone.
„Eine Sushi-Bento-Box bitte, mit Miso-Suppe und...“ Sie biss sich auf die Lippen. Verdammt. Sie war in dem Wäscheladen neben dem Japaner. Sie lachte laut und verlegen. „War nur ein Scherz.“
Sie deutete auf die Unterwäsche, die auf dem Ständer mit der Aufschrift „Angebot des Monats“ hing. „Die ist hübsch. Die nehm ich.“
„Wild Tiger. Die freche Kombination aus Animalprint und samtigem Petrol, sowie der hauchzarte, leicht transparente Tüll machen dieses Modell zu einem absoluten Hingucker, Frau Inspektor. Das gefällt der Frau Tochter bestimmt. Soll ich es als Geschenk einpacken?“
Frau Tochter? Hatte diese Tussi tatsächlich Frau Tochter gesagt? „Danke, ganz lieb, aber ich denke, ich werde sie gleich anlassen.“ Sie griff sich den Kleiderhaken und stolzierte zur Umkleidekabine.
„Warten Sie. Diese Unterwäsche ist von der Anprobe ausgenommen. Sie wissen schon. Wegen der Hygiene.“ Die Verkäuferin sprang ihr wie ein Panther hinterher, aber die wilde Tigerin war längst hinter dem Schutz des Vorhanges verschwunden.
„Keine Sorge. Ich bade jeden Samstag. Und heut ist ja erst Mittwoch.“
„So hab ich das nicht gemeint, Frau Inspektor.“
„Nicht so? Wie dann? Sorgen Sie sich um meine Gesundheit? Seh ich so gebrechlich aus? Mit den paar Filzläusen in Ihrem Höschen werde ich schon noch fertig.“ Mit Läusen war sie auch im Schuldienst immer wieder konfrontiert und fertig geworden.
„Reden Sie mit mir?“, fragte eine warme Männerstimme mit südosteuropäischem Akzent.
„Aber gern“, sagte sie durch den dunkelroten Stoffvorhang, „warum nicht? Worüber möchten Sie denn reden?“ Sie war es gewohnt, dass Menschen ihr die Herzen ausschütteten und Lösungen von ihr erwarteten. Hilflose und überforderte Schuldirektoren, Lehrerinnen, Eltern und Schüler. Keiner ahnte, dass sie sich selbst oft hilflos und überfordert fühlte. Jetzt zum Beispiel mit dem Verschluss des BHs.
Irgendwie schaffte sie aber doch, das Häkchen in die Öse zu fädeln, schaute in den Spiegel und drehte sich ins Profil. Kein Mann war so blöd und drehte sich vor dem Spiegel ins Profil um seine Problemzonen besser sehen zu können. Frauen verglichen sich mit perfekt retouchierten Frauen in Frauenzeitschriften, Männer mit birnenförmigen Kollegen in der Sauna. Deren Leben war eindeutig einfacher.
Sie drehte sich auf die andere Seite. Mit ihrer Figur war sie halbwegs zufrieden, bis auf ein paar Dellen und Falten, die das Leben ihr auf den Leib geschneidert hatte.
„Ich dachte, Sie wollten mit mir reden?“, erinnerte sie sich an den Mann auf der anderen Seite des Vorhangs.
„Ah ja. Ich bin auf der Suche nach einem Muttertagsgeschenk. Für meine Mutter.“
„Wie originell. Nehmen Sie doch auch Wild Tiger, ist grad im Angebot. Die samtige, hauchzarte Animalprintkombination und transparenter Petroltüll machen dieses Modell zu einem absoluten Hingucker“, äffte sie die Verkäuferin nach, die sich gekränkt zurückzog.
„Darf ich denn hingucken?“ fragte der Mann.
„Nicht einmal dran denken.“
„Und wenn ich doch dran denke?“
„Selber schuld. Vielleicht bin ich achtzig und habe 150 Kilo?“
„Sicher nicht. Wild Tiger gibt es nur bis Größe 40. Vielleicht sind Sie dreißig und haben langes, blondes Haar.“
„Vielleicht habe ich kurzes Haar und bin sechzig.“
„Vielleicht. Haben Sie ein Problem mit Ihrem Alter?“
„Manchmal. In der Früh brauche ich immer länger, um mich zu entfalten und die Visitenkarten haben mittlerweile die Größe eines Aktenordners.“
„Darf ich jetzt endlich schauen?“
„Moment noch.“ Sie zippte den Reißverschluss ihrer Hose zu und stopfte die getragene Unterwäsche in ihre Tasche. „So, jetzt.“
Er zog den Vorhang zur Seite. „Sehr schön“, sagte er.
„Sie kenn ich doch!“ rief sie aus.
„So? Sie kennen mich?“ Er lächelte, und sein Lächeln war hinreißend. Sein muskulöser Körper auch.
In ihrem Hirn begann es zu rattern – und nicht nur da. Kannte sie ihn aus der Kantine? Ein Beamter der Sozialabteilung, vielleicht, oder der Vater einer Schülerin. Vielleicht war es ein neuer Lehrer? Ein Religionslehrer, das waren oft die attraktivsten. Vielleicht sogar ein angehender Priester, für die Damenwelt unrettbar verloren, zumindest offiziell.
„Natürlich kenn ich Sie.“ Zu spät. Jetzt konnte sie ihn nicht mehr fragen, woher. Jetzt musste sie so tun, als wüsste sie, wer er war. Dabei hatte sie keine Ahnung. Das passierte ihr in letzter Zeit immer öfter.
„Vermutlich denken Sie, dass ich täglich wildfremde Frauen in aufregender Unterwäsche sehe. Aber das stimmt nicht.“
„Natürlich nicht. Sie sehen bestimmt lieber aufregende Frauen in wildfremder Unterwäsche.“ Religionslehrer war er also nicht.
„Auch das nicht. Aber ich sehe täglich verschwitzte Männer in verschmutzter Unterwäsche.“
Sie überlegte. War er etwa einer der Pfleger aus dem Seniorenheim, in dem Onkel Albert seine letzten Tage fristete? „Ich heiße Inge“, sagte sie, um Zeit und wertvolle Informationen zu gewinnen.
„Ivica“, sagte er, „meine Freunde nennen mich Ivo.“ Sie kramte in der riesigen Schublade ihres Gedächtnisses. Ivica. Das half ihr nicht wirklich weiter.
Inge bezahlte die Unterwäsche. Ivo verhielt sich wie ein richtiger Mann und entschied sich für Gutscheinmünzen für die Frau Mama.
Sie verließen den Laden und spazierten durch die Fußgängerzone. Sie fühlte sich gut, mit der schönen Wäsche am Körper und dem schönen Mann an der Seite. „Sie sind verdammt durchtrainiert.“
„Jo. Man bezahlt mich dafür“, sagte er.
Alles klar. Er unterrichtete Sport. Er schien ein beliebter Lehrer zu sein, denn etliche Jungs blieben stehen und wollten ein Autogramm von ihm.
Leider konnte sie das Gekritzel nicht lesen. Und leider wurde sie vom Gutfühlen und der neuen Unterwäsche auch nicht satt. Ihr Magen brachte sich mit einem lauten Knurren in Erinnerung.
„Oh. Höre ich da den wilden Tiger in Ihnen?“
„Sozusagen. Würden Sie mir bitte helfen irgendwo ein hilfloses Kalb zu reißen?“
„Wie stellen sie sich das vor? Soll ich dem armen Tier von hinten in die Hacken grätschen? Dafür gibt’s glatt Rot“
„Dann schlagen Sie halt was anderes vor. Oder laden Sie mich ein.“
„Gern, da vorn ist ein Würstelstand.“
Sushi wäre ihr lieber gewesen, aber einer geschenkten Käsekrainer schaute man nicht... egal wohin.
„Dere, Ivica!“ rief der Würstelmann entzückt aus. Wieso kannten alle hier diesen Sportlehrer?
„Eine Bratwurst, mit Scherzerl, bitte, und a Sechzehner Blech.“
„Bitte sehr. Hab dich am Sonntag im Fernsehen gesehen, Ivo. Beim Interview. So a Schand’, dass du nimma spielst. Ich mein, vierzig is ja noch kein Alter ned. Dabei täten’s di so dringend brauchen.“
In Inges Hirn schoben sich ein paar Puzzleteile ineinander. Schön langsam wurde ihr klar, woher sie diesen Typen kannte. Aus dem Fernsehen. Er war kein Lehrer, sondern Schauspieler. Puh, war ihr das peinlich. Sie erinnerte sich. Er spielte eine Hauptrolle in der Werbung mit der Fußbodenheizung. Und in dem Spot mit der Nougatcreme.
Ivo ließ das Bier aus der Dose zischen. „Sechzig ist auch noch kein Alter nicht“, raunte er und zwinkerte ihr zu.
„Und was darf’s für Sie sein, “, strahlte der Würstelmann sie an, „das gleiche wie für den Herrn Sohn? Mit scharfem oder süßem Senf, Frau Vastic?“
Vastic. Jetzt dämmerte es ihr. Ivica Vastic. Der Fußballspieler.
„Mit Nutella“, sagte sie zum Würstelmann.
Ivo lachte. „Und ich hatte schon gedacht, Sie kennen mich gar nicht.“
Inge lächelte milde. „Sie halten mich wohl für total verkalkt.“
„Aber nein. Natürlich nicht. Ich hätte nur nicht geglaubt, dass sie sich für Fußball interessieren.“
„Na hören Sie. Heutzutage kennen wir Frauen uns besser im Fußball aus als die Männer. Und deshalb drücke ich Ihnen auch ganz fest die Daumen.“
Er lächelte dankbar und verneigte sich leicht. Und sie fügte mit nationaler Begeisterung hinzu: “Viel Glück in Südafrika!“
testsiegerin - 8. Mai, 20:29
... nach einem Tag voller anstrengender Außendienste und Innentelefonate.
Nein, leider keine neuen. Nur alte, traurige Erkenntnisse, die heute sehr sichtbar geworden sind.
Letztendlich wollen sie alle geliebt und anerkannt werden. Die 95-jährigen Mütter von den 70-jährigen Töchtern, die 70-jährigen Töchter von den 95-jährigen Müttern, die 45-jährigen (Enkel-)töchter von den Müttern und Großmüttern.
Und was tun sie, statt einander wertzuschätzen und zu lieben? Sie kränken, sind gekränkt, werden krank. Sie können nicht verzeihen und vergeben. Sie vergessen, was sie zu Mittag gegessen haben, aber nicht, dass sie vor fünzig Jahren nicht zur Hochzeit eingeladen worden sind.
Sie beleidigen, leiden und können einander nicht leiden. Sie heulen sich bei mir aus, anstatt miteinander zu reden.
Dabei täten sie einander so gern lieben. Aber sie haben es nie gelernt. Oder verlernt. Wegen eines falschen Wortes. Einer bösen Geste. Einer vertanen Chance. Für einen ersten Schritt sind sie zu stolz. Die Angst ist zu groß, wieder zurückgestoßen zu werden. Die Töchter sagen: Meine Mutter liebt mich nicht. Nie war ihr recht, was ich getan hab. Die Mütter sagen: Sie hat nie akzeptiert, dass ich mein Leben gelebt hab, wie ich es gelebt hab.
"Sie hat nicht einmal danke gesagt", hab ich heute fast wortgleich gehört, von Mutter und Tochter.
Bei Vätern und Söhnen ist es oft nicht viel anders. Die gehen mit bloßen Fäusten aufeinander los, anstatt einander zu umarmen. Damit sie sich wenigstens irgendwie berühren. Im besten Fall. Im schlechtesten sind es nicht die Fäuste, sondern Waffen.
Dabei wollen sie alles das gleiche. Geliebt werden.
Deshalb Leute: Liebt. Vergebt. Umarmt einander. Und seid dankbar.
testsiegerin - 4. Mai, 19:46
Skandal in England.
Gordon Brown – Weltmeister des Fettnäpfchenzielspringens - hat bei einer Wahlkampfveranstaltung einer bornierten, ausländerfeindlich gesinnten Frau - einer klassischen Labour-Wählerin - höflich und professionell Fragen beantwortet. Very nice to meet you, hat er zum Abschied gemeint.
In der vermeintlichen Privatsphäre seines Autos hat er dann über ebendiese bornierte Frau gesagt, dass sie borniert ist. Doch die vermeintliche Privatsphäre war gar keine, denn das Mikrophon war noch eingeschaltet und die Szene wenige Minuten später auf youtube.
Skandal!, hat die Presse gerufen und darüber berichtet. Aber nicht die Verletzung der Privatsphäre war der Skandal, sondern das Verhalten von Brown.
Zeit, mich endlich zu outen. Auch ich hab mich in meinen letzten Wahlkämpfen völlig daneben benommen. Ich hab alten, griesgrämigen Männern lächelnd Manner-Schnitten und Billigfeuerzeuge geschenkt und mir hinterher viel schlimmere Dinge als „bigott und borniert“ gedacht. Ich gebe zu, ich hab es sogar gesagt, zu meinen Genossinnen. Zum Glück waren grad zufällig keine Kameras dabei.
Jetzt könnte man natürlich sagen, dass ich in der Partei nur ehrenamtlich tätig bin und man da keine Professionalität erwarten kann. Vorsicht, jetzt kommt’s.
Auch in meiner beruflichen Laufbahn ist mir so etwas schon das eine oder andere Mal passiert. Da war ich zu Angehörigen und Beamten freundlich und aufmerksam, hab so abgrundtief falsche Dinge gesagt wie: „Schön, dass Sie sich die Zeit genommen haben und gekommen sind“ und bin später in der Küche so richtig über sie hergezogen. Letztens hab ich sogar über eine einflussreiche Amtsperson (der ich Stunden vorher noch unterwürfig zugenickt habe) gesagt: „Unglaublich, was der für ein präpotenter Arsch ist.“ Mein Kollege hat zustimmend genickt, nicht unterwürfig. Ich hoffe, er hat es nicht heimlich mit dem Handy aufgenommen und die Szene auf youtube gestellt, sonst bin ich beruflich und privat erledigt.
Ich gestehe, sogar über eine Kollegin hab ich schon mal im Kreis der anderen KollegInnen geschimpft, und zwar nicht auf die feine, englische Gordon-Brown-Art. Ich fürchte, sogar über meine Vorgesetzten. Manche Worte sind so unanständig, dass ich sie hier gar nicht schreiben kann. Skandal im Weinviertel.
Und das Schlimmste: Auch bei meinen KlientInnen, also sozusagen meinen WählerInnen (dabei haben die mich gar nicht gewählt, sondern mich aufs Aug gedrückt bekommen) ist mir so etwas Peinliches schon passiert. Mit denen gehe ich durchaus wertschätzend um, und in der Öffentlichkeit spreche ich auch wertschätzend über sie. Aber manchmal, wenn sie ständig Geld von mir wollen, das ich gar nicht habe, oder wenn sie mich beschimpfen und aggressiv werden und so... frage nicht, was ich dann meinen Kollegen so beim Pausenkaffee über sie erzähle.
Auch zu meiner Lieblingskollegin bin ich nicht immer nett.
„Fuck you!“, sage ich, wenn sie mitten im Sommer Schihüttenlieder singt.
„Red deutsch mit mir“, sagt sie dann.
Und ich: „Leck mich!“
Und sie: „Danke, gern.“
Gordon Brown ist ein Aristrokat, verglichen mit uns.
Ich hab das schon mit meinem russischen Therapeuten besprechen, weil ich gerne wollte, dass er mich von dieser schlimmen Angewohnheit heilt.
„Geht nicht“, hat er gesagt.
„Warum geht das nicht, du Arsch!“, hab ich ihn angebrüllt. Ich hab vergessen, was das auf Russisch heißt. Ich weiß nur noch, was Sehenswürdigkeit heißt: Dostoprimetschotjelnost.
„Geht nicht, weil Psychohygiene. Ist wichtig.“
Vermutlich auch für Gordon Brown.
testsiegerin - 1. Mai, 13:09