„Schmeißen’s mir das weg!“, sagt Frieda Kurz knapp und reicht Emma Rogner einen Stapel nasser Zeitungen über den Zaun. „In die rote Tonne“.
Emma Rogner schaut sich um. Da ist eine braune Tonne (Bio) und eine schwarze (Restmüll). Keine rote. Eine rote Tonne tät für einen Packen nasses Papier eh nicht taugen, also stopft Emma den Stapel kurzerhand in die Restmülltonne.
„Haben Sie’s eh in die richtige g’schmissen?“ Frieda Kurz ist misstrauisch.
„Ja, ja, Frau Kurz. Ich bin Emma Rogner, Ihre Sachwalterin, ich tät mich gern ein wenig mit Ihnen unterhalten. Würden Sie mich bitte hineinlassen?“
Frieda nestelt an ihrem Schlüssel herum, findet nach Minuten schließlich ins Schloss und murmelt: „Eine alte Frau ist kein D-Zug.“
„Kein Problem, ich hab Zeit.“ Auch Emma ist kein Intercity mehr.
„Warum waren Sie eigentlich in der Psychiatrie?“, will Emma wissen, als sie ein paar Wollstrümpfe vom Sessel entfernt hat und die beiden am Tisch sitzen.
„Weil ich angeblich zu jemanden gesagt hab, dass ich nicht mehr leben will. Und die haben mich angezeigt und dann haben sie mich ins Krankenhaus gebracht.“
„Stimmt das denn?“
„Das hab ich damals gesagt und heute sag ich das auch und morgen auch. Ich will nicht mehr leben. Aber zum Leben nehmen hab ich ehrlich gesagt nicht den Mumm.“
Frieda klopft mit dem Zeigefinger auf das gerahmte Foto ihres verstorbenen Mannes, das vor ihr steht: „Oida“, sagt sie, „i hob g’sogt, i kumm und bin kumman und do bin i und do bleib i.“ Vor ein paar Jahren hätten sie die Gnadenhochzeit gefeiert. 70 Jahre verheiratet, immer mit dem gleichen Mann. „Überhaupt war er der einzige“, sagt sie und ein paar Tränen suchen ihren Weg über die Wangen.
Emma weiß nicht, ob Frieda weint, weil es nur einer war, oder weil es jetzt gar keiner mehr ist. Sie greift in ihre Tasche und reicht Frau Kurz ein Papiertaschentuch. Zum Glück hat sie gestern im Drogeriemarkt eine Hunderterpackung gekauft. Damit sie ihrem Kollegen nicht das Hemd vollrotzt. Auch eine Nagelfeile und eine Nagelschere hat sie erstanden, für den Fall, dass sie wieder vor einer versperrten Haustür steht und die Zeit totschlagen muss.
„70 Jahre mit ein und demselben“, wiederholt Frieda, „das können Sie sich nicht vorstellen, was?“ Frieda hat recht. Emma kann sich nicht mal ein halbes Jahr mit ein und demselben Mann vorstellen, und offensichtlich kein Mann mit ihr.
Schön wäre es nicht gewesen auf der Psychiatrie, obwohl die alle sehr lieb und lustig waren, erzählt Frieda. „Als Gesunde tut man sich schon schwer unter all den Kranken.“
Vergesslich sei sie geworden, sagt sie, „man hat das Gefühl, dass einem direkt ein Stückerl fehlt.“ Jetzt fehlt ihr grad die Brille. Und die zweireihige Perlenkette mit Biedermeierschließe. "Die Schließe war so teuer wie die ganze Kette. Und die Unterwäsche ist auch weg.“ Die wäre ihr gestohlen worden. Alles weggekommen, während sie weg war.
Das Haus macht nicht den Eindruck, als wäre hier eingebrochen und nach Schmuck und Stützstrümpfen gesucht worden. Emma fragt sich, was die Einbrecher wohl mit den Tonnen Damenunterwäsche machen, die sie ihren Klientinnen ständig klauten.
„Wenn’s wieder kommen, können wir dann das Sackerl mit der Wäsche durchschauen?“ Frieda hält Emma für eine Betreuerin des ambulanten Dienstes. „Da gehört ein bissl was gestopft..“
Emma kann nicht Socken stopfen und erklärt ihr ihre Funktion und Aufgaben. „Ich werde das mit dem Geld regeln und dafür sorgen, dass Sie immer ein bisschen Bares bei sich haben“, verspricht sie, aber Frieda will „nicht ein bissl Bares, sondern anständig.“ Mit ein paar Hundertern gäbe sie sich nicht zufrieden.
„Haben Sie heut schon was gegessen, Frau Kurz?“
„Was Sie alles wissen wollen. Ziemlich neugierig sind Sie. A Brot hab ich gessen, und später koch ich mir Schinkenfleckerl. Oder Hörnchen.“ Essen auf Rädern komme ihr nicht ins Haus. Hochkant hinausschmeißen würde sie die, sie habe 75 Jahre gekocht und das werde Sie auch weiterhin tun.
„Die Damen vom ambulanten Dienst werden für Sie einkaufen“, lenkt Emma ab, aber das kommt für Frieda nicht in Frage. „Die dürfen mich gern ins Geschäft begleiten, aber ohne mich brauchen die nicht gehen. Keine Frau will, dass jemand anderer für sie einkaufen geht. Das muss ich ja sehen und angreifen“, sagt sie und auch einen Schlüsselsafe, damit die Heimhelferinnen reinkommen, lehnt Frieda ab. Es ist ihr egal, dass die Krankenschwester heute früh über den Zaun klettern musste, weil sie sie nicht gehört hat. "Wird ihr nicht geschadet haben."
Emma steht auf. Es hat keinen Sinn, das heute zu diskutieren. „Ich finde gut, dass Sie so genau wissen, was Sie wollen und was Sie nicht wollen.“
„Ich bin ja alt genug, um das zu wissen, oder?“
"Sicher. Schön haben Sie es hier“, sagt Emma und streicht über den alten Flügel. "Spielen sie Klavier, Frau Kurz?"
„Ach was. Mein Mann hat gespielt. Nach seinem Tod wollt ich den Flügel der Musikschule schenken.“, sagt sie, „aber die hatten keinen Platz oder kein Interessse, was weiß ich. Also is er dageblieben. Macht eh nix, so a Klavier frisst ja ka Brot.“
Emma Rogner ist Sachwalterin. Sie ist Mitte vierzig, lebt allein mit ihrer kratzbürstigen Katze und liebt gelegentlich zu zweit mit Männern, die behaupten, Emma wäre noch kratzbürstiger als ihre Katze und die nach wenigen Wochen flüchten.
Judith Blumenthal ist Jüdin. Sie ist Anfang hundert, und geflüchtet ist sie schon oft im Leben. Damals nach Amerika, vor den Nazis. Viele Jahre und drei Ehen später wieder zurück in ihre Heimat. Daheim fühlt sie sich hier trotzdem nicht. Nicht nur wegen der FPÖ-Plakate an der Hauswand gegenüber. Jetzt noch zu flüchten, lohnte sich nicht mehr. Sie hätte auch gar nicht gewusst, wohin.
Frau Blumenthal werde von Tag zu Tag gebrechlicher, leide an beginnender Altersdemenz und verhalte sich zunehmend paranoid, stand im Sachwalterschaftsakt, sie verbarrikaridere sich in ihrer Wohnung und lasse nicht mal mehr die Nachbarin hinein. Die Gutachterin und den Richter auch nicht.
„So eine Überraschung aber auch“, Emma Rogner schüttelte den Kopf, als sie den Akt durchblätterte, „eine Hundertjährige, die ein bissl verwirrt ist. Eine Jüdin, die sich verfolgt fühlt. Was ist das für eine Gesellschaft, in der man nicht mal mit hundert seltsam sein darf, ohne einen Sachwalter zu bekommen?“ Fritz, ihr Lieblingskollege, ein paar Jahre jünger als sie, liebenswert, gelassen und witzig, hatte keine Antwort. Wenigstens brachte er ihr einen Kaffee und ein Stück Marzipanschokolade. „So reg dich doch nicht so auf, das schadet deiner Schönheit.“
Natürlich regte Emma Rogner sich auf. Zorn und Wut auf die herrschenden Verhältnisse, gepaart mit Mitgefühl für die Klienten gaben ihr auch nach zwanzig Jahren in dem Job die nötige Energie für ihre Arbeit. Manchmal überschritt sie ihre Kompetenzen ein wenig, aber immer zum Wohl ihrer Klienten und Klientinnen.
„Warum müssen manchmal zufriedene und geistig fitte Menschen jung sterben und die gebrechlichen, verwirrten werden hundert?“ Emma Rogner dachte an ihre Mutter, die vor ein paar Jahren tödlich verunglückt war.
„Vielleicht haben sie einfach vergessen, dass sie sterben müssen.“
„Du? Wenn ich mal hundert bin?“, fragte sie leise und rieb die Fingerspitzen an den Schläfen, „würdest du dann die Sachwalterschaft für mich übernehmen, damit ich nicht einen arroganten, schnöseligen Rechtsanwalt bekomme, der nur mein Geld will und mich in ein Heim steckt?“
„Welches Geld denn?“
„Na ja, das ich haben werde, wenn ich hundert bin.“
Fritz lachte. „Träum weiter.“
„Also was jetzt? Magst du dann mein Sachwalter sein? Versprich es mir. Bitte.“
„Mit Vorbehalt.“
„Was soll denn das wieder heißen?“
„Na ja, wenn ich mit zweiundneunzig nicht schon selbst einen habe.“
Einen Nachmittag lang saß Emma Rogner auf der Türmatte vor Judith Blumenthals Wohnung. und sprach durch die geschlossene Tür. „Ich kann Sie gut verstehen, Frau Blumenthal“, begann sie, „wenn ich ehrlich bin, ich würde mir an Ihrer Stelle auch nicht aufmachen. Und wenn ich noch ehrlicher bin, dann kann ich mir auch etwas Besseres vorstellen, als hier zu sitzen und mit einer alten Flügeltür zu reden... Ich hätte einen Klienten besuchen können, der sich freut mich zu sehen... Ja, solche gibt es auch... Sogar im verrauchten Kaffeehaus wäre es gemütlicher als hier. Ich hätte mir heute Nachmittag einen richtig guten Film anschauen können, mit Popcorn und Cola light. Mögen Sie Kino?... Ach, egal.“ Emma Rogner kramte in ihrer Tasche nach der Nagelfeile, fand aber nur einen abgekauten Zahnstocher. Sie kratzte damit die Trauerränder aus den Fingernägeln. Mikrowellness im Zinshaus. „Ich hätte auch schwimmen gehen können, war ich schon ziemlich lang nicht und tät mir nicht schaden, wegen der Kreuzschmerzen. Aber was mach ich? Ich sitz hier, lass mich von Ihren Nachbarn für blöd halten und quassle vor mich hin.“ Weil grad kein Nachbar zu sehen war, zog Emma die Socken aus und nahm sich auch die Zehennägel vor. „Es ist nämlich so, Frau Blumenthal. Ich bin für Sie zuständig, das hat das Gericht so entschieden. Ich kann und will Sie natürlich nicht zwingen, mit mir zu reden. Ich schulde nicht den Erfolg, sondern das Bemühen, so steht es im Gesetz. Wem ich das schulde, seht nicht drin. Ich finde, ich bemühe mich redlich, was meinen Sie?... Hm... nichts meinen Sie also.“ Emma hatte keine Ahnung, ob Judith Blumenthal ihr zuhörte. Ob sie schlief. Ob sie überhaupt noch lebte. Irgendwann hatte sie auch keine Zahnstocher mehr.
Nach drei Stunden Selbstgeschwätz und vollendeter Mani- sowie Pediküre taten Emma Gesäß und Beine weh und sie wusste nicht mehr, wie sie sitzen sollte. „Also dann“, rief sie, schlüpfte wieder in Socken und Schuhe und rappelte sich auf, „ich geh dann wohl besser. Meine Katze ist bestimmt schon hungrig... Sie heißt Zora, wie die rote Zora, aber sie ist schwarz.“
Emma war bereits bei der Treppe angelangt, als sie das Scheppern der Türkette und dann das Quietschen der Tür hörte.
„Sie haben auch eine Katze? Mein Kater heißt Bagel.“
Emmas Katze musste sich an diesem Abend gedulden, denn ihr Frauchen verbrachte die nächsten Stunden in Judith Blumenthals Küche. Dafür brachte Emma Zora zum Abendessen Latkes mit, jüdische Kartoffelpuffer.
„Versprechen Sie mir, dass Sie mich nicht in ein Lager stecken?“, fragte Judith Blumenthal zum Abschied und Emma bekam eine Gänsehaut. Das heißt Pflegeheim oder Seniorenresidenz, nicht Lager, wollte sie sagen, aber sie biss sich auf die Zunge. Wenn Frau Blumenthal es so erlebte, würde sie ihr das nicht ausreden können.
Emma zögerte. Konnte sie so etwas tatsächlich versprechen? „Mit Vorbehalt“, sagte sie.
„Wenn Sie mit mir zusammenarbeiten, tue ich alles, was in meiner Macht steht.“
„Frau Blumenthal besitzt etwa ein komma vier Millionen Euro“, erklärte der Bankbeamte Emma, nachdem er den Gerichtsbeschluss dreimal im Kreis gedreht und dann auswendig gelernt hatte. „Angelegt vorwiegend in besicherten Schiffsanleihen, Wertpapieren und in Hybridanleihen.“
„Hybridanleihen?“ Emma verstand nur Bahnhof. Sie kannte sich weder mit Hybridmotoren noch mit Hybridanleihen aus.
„Eine Hybridanleihe ist eine eigenkapitalähnliche, nachrangige Unternehmensanleihe“, machte sich der Bankbeamte wichtig und Emma wäre am liebsten geflüchtet. So richtig wohl fühlte sie sich in Banken nie. Am wenigsten übrigens in ihrer eigenen. Geld war Emma einfach nicht wichtig genug. Und jetzt sollte sie Entscheidungen über ein derart großes, noch dazu fremdes Vermögen treffen.
„Ich möchte gerne alles auflösen und konservativ anlegen.“
Der Gesichtsausdruck des Bankbeamten wandelte sich von einem überheblichen Grinsen zu einem mitleidigen Lächeln. „Woran haben Sie denn gedacht?“
„Ein paar Kapitalsparbücher vielleicht. Und einen Bausparvertrag.“ Das schien ihr sicher. Einen Bausparvertrag hatte sie selbst auch.
„Einen Bausparvertrag mit ein komma vier Millionen, ja?“
„Nein?“
„Der hat eine Laufzeit von sechs Jahren. Glauben Sie tatsächlich, dass Frau Blumenthal so alt wird?“
Wenn du nicht sofort still bist, wirst du selber nicht alt, dachte Emma, lächelte aber verbindlich.
„Warum gibst du den Fall nicht ab?“, fragten die Kollegen sie bei der Teambesprechung. „Die kann sich eh einen Anwalt oder Steuerberater als Sachwalter leisten.“
„Weil Frau Blumenthal kein Fall ist.“ Emma verschränkte die Arme vor dem Körper. Und weil ich ihr etwas versprochen habe, dachte sie. „Und weil... ach nichts“, schwieg sie.
„Lassen Sie doch das Geld, wo es jetzt ist“, riet die Richterin am Telefon, „das ganze Theater mit dem Veranlagen lohnt sich in dem Fall ja ohnehin nicht mehr.“
„Das werden sie über uns auch irgendwann sagen“, rührte Emma in ihrem Kaffee und teilte Fritz das Milchpackerl. „Dass sich irgendetwas nicht mehr lohnt. Ein Urlaub ins Ausland? Ach, das lohnt sich nicht mehr. Ein neues Sofa? Nicht dein Ernst Oma, oder? Ein künstliches Hüftgelenk? Ich bitte Sie, das lohnt sich doch nicht mehr. Und weißt du was, Fritz? Wenn ich ehrlich bin, frag ich mich das ja selber auch oft. Zum Beispiel, ob sich eine neue Beziehung noch lohnt, in meinem Alter.“
Judith Blumenthal hielt ihren Teil der Vereinbarung ein. Sie arbeitete mit Emma zusammen, so gut sie konnte. Murrend öffnete sie die Tür, wenn Emma kam, meistens jedenfalls. „Ich brauch keine Hilfe“ sagte sie als Begrüßung. Murrend zeigte sie ihr die Dokumentenmappe und murrend ließ sie schließlich zu, dass zwei slowakische Pflegerinnen abwechselnd bei ihr wohnten und sie betreuten. Natürlich unterstellte sie den Frauen immer wieder, ihre Unterwäsche zu stehlen oder Milch und Butter im Schuhschrank zu verstecken. Zum Glück verstanden die beiden Frauen ohnehin nur schlecht Deutsch. „Stellen Sie sich vor, die können nicht mal anständigen Gefüllten Fisch kochen“, beschwerte sie sich einmal bei Emma. Die stellte kurzerhand eine jüdische Köchin ein, obwohl sie genau wusste, dass Judith Blumenthal kaum noch etwas aß, schon gar keinen Gefüllten Fisch. Höchstens ein oder zwei Becher Joghurt am Tag, mehr brauchte ihr Körper nicht mehr. Aber Bagel war ziemlich verfressen, und die beiden Slowakinnen auch.
Zu Judiths Blumenthal 103. Geburtstag kamen der Bürgermeister, der Chef der jüdischen Kultusgemeinde und ein paar Herren von der Presse. Die hatten die Rechnung ohne Wirtin gemacht.
„Keine Fotos“, bestimmte die Jubilarin bestimmt und hielt die Hände energisch vor die Objektive wie eine Diva, die von Paparazzi belagert wird, „ich schau auf Bildern immer so alt aus. Außerdem lohnt sich das gar nicht mehr. Scheren Sie sich zum Teufel!“ Judith Blumenthal griff nach ihrem Stock und war drauf und dran, die Fotografen aus der Wohnung zu prügeln. „Die sind eh nur wegen der Latkes da, nicht ihretwegen“, flüsterte Emma ihr ins Ohr und brachte sie zum Lachen.
Zwei Wochen später war Judith Blumenthal tot.
Emma wusste, was zu tun war. Verwandte, die sie hätte verständigen müsste, gab es nicht. Judith Blumenthal hatte sich ein jüdisches Begräbnis gewünscht. Deshalb hatte Emma die Kosten für die Bestattung schon vor zwei Jahren bei der jüdischen Kultusgemeinde eingezahlt.
„Wir brauchen für die Beerdigung noch zehn Männer“, sagte der Rabbiner.
„Oh“, sagte Emma, „mir würde einer reichen.“
Sie würde Fritz fragen, der spielte jeden Donnerstag Fußball, der konnte bestimmt bis morgen zehn athletische Jungs auftreiben.
„Nicht irgendwelche Männer“, sagte der Rabbiner „für eine jüdische Beschneidung, einen jüdischen Gottesdienst und eine jüdische Beerdigung braucht es zehn jüdische Männer.“
„Und wo nehm ich die her?“
„Wir können die gerne für sie organisieren. Aber das kostet halt extra, Frau Rogner.“
„Du darfst kein Geld mehr von ihrem Konto beheben, das weißt du genau. Die Sachwalterschaft endet mit dem Tod. Wer betont das ständig?“ Fritz ging im Besprechungsraum auf und ab. Sie hatte ihn selten so wütend erlebt.
„Dann zahl ich die zehn Kerle halt von meinem Geld.“
„Bist du übergeschnappt? Das ist völlig unprofessionell.“
„Ich weiß. Dann sollen sie mich halt hinausschmeißen.“
„Ach, Emma. Du hast in den letzten Jahren alles für sie getan. Vor allem hast du ihr den wichtigsten Wunsch erfüllt, nämlich den, zu Hause zu sterben. Was spielt es jetzt noch für eine Rolle, ob da zehn jüdische Jungs in der Leichenhalle beten? Das kann dir doch scheißegal sein.“
„Ist es aber nicht. Das bin ich ihr schuldig.“
„Warum?“
Emma schossen die Tränen in die Augen. „Weil...“, sie schüttelte den Kopf, „darüber kann ich nicht reden.“
„Komm mal her“, Fritz drückte sie an sich und ließ sich sein neues Hemd vollrotzen. Ganz unprofessionell.
Am Grab standen Emma, die jüdische Köchin und die beiden slowakischen Frauen. In dem Katzenkorb, der zu Emmas Füßen stand, trauerte Bagel. Hoffentlich würde Zora wenigstens halbwegs nett zu ihm sein.
Aufgebrezelt für die Lesung, im kleinen Schwarzen und mit den schwarzen Strümpfen mit den großen Löchern, schau ich vorher noch bei meiner Lieblingsgroßtante vorbei.
Ich war immer das Liebkind von meiner Lieblingsgroßtante. Als Kind hab ich bei ihr Peter Alexander und Heintje gehört, am Samstag Abend Heinz Conrads „Guten Abend die Madln, servas die Buam“ geschaut, Würstel mit Senf und Semmeln (zu Hause gab es Semmeln nur ganz selten) gegessen und auf Kartonplättchen gezeichnet. Mit der Riesenpackung Buntstifte, weil ihr Bruder in der Buntstiftfabrik gearbeitet hat.
Als ich 18 war und und zu Bernd, dem deutschen Psychotherapeuten gezogen bin, ist sie zu mir gestanden. Und hat Bernd 10.000 Schilling geborgt, für die Autoreparatur. Bernd hat sein Auto reparieren lassen und war weg. Das Geld auch. „Nicht so wichtig“, hat meine Lieblingsgroßtante gesagt, die von der Mindestrente gelebt hat. „Das war Lehrgeld, das wir bezahlt haben.“ Von mir wollte sie es nicht zurück.
Jetzt ist sie 84.
„Barbara“, begrüßt sie mich, „du schaust ja entsetzlich aus. Hast du keinen Spiegel?“
Ähm. Ist auf der Fahrt ein Pickel gewachsen? Oder Nasenhaare? Ich werfe einen Blick in ihren Badezimmerspiegel. Alles wie es sein soll. O.k., ein paar Fältchen um die Augen, aber ich mag kein Botox. „Ganz schrecklich!“ Tante ist fassungslos. „Der Lippenstift ist viel zu rot.“
Ah. Das ist es. „Tu das weg. Da rennen ja die Leute davon bei deiner Vorlesung“, warnt sie mich. „Und diese zerrissene Strumpfhose! Dabei könntest du so bildhübsch sein.“ Immerhin. „Ja, schämst du dich denn gar nicht?“
Nein. Tu ich nicht, wenn ich ehrlich bin. Trotzdem beruhige ich sie. In dem Alter soll sie sich nicht mehr so aufregen. Sie ist herzkrank, hat Hautkrebs, Gicht und auch sonst alles, was nicht wirklich gesund ist. „Tante, keine Sorge, so zieh ich mich normal eh nicht an. Nur, wenn ich lese.“
Aber das beruhigt sie nicht. „ Barbara, Barbara, du wirst auch nicht gescheiter.“ Da mag etwas Wahres dran sein. „So eine Schande. So etwas können junge Dinger anziehen, aber doch nicht du in deinem Alter. Damit kannst du höchstens im Garten Laub rechen.“
Da würde sich mein Nachbar aber schön bedanken, Tante. Wenn ich in dem Aufzug und mit diesen Schuhen im Garten Laub reche.
„Wisch dir wenigstens den Lippenstift runter!“, rät sie mir noch.
Ich weiß, sie meint es gut. Deshalb drücke ich ihren schmalen Körper an mich und einen rubinroten Lippenstiftkuss auf ihre Wange. „Pass gut auf dich auf“, sage ich und wische nicht den Lippenstift vom Mund, sondern eine Träne aus den Augenwinkeln. Beinahe zerreißt es mir mein Herz. Nicht, weil ihre Ehrlichkeit mich kränkt. Sondern weil ich jedes Mal, wenn ich sie umarme, denke, es könnte das letzte Mal sein.
Und da war es wieder. Dieses Gefühl, das so unendlich geil ist. Zu spüren, dass ich mit meinen Geschichten die Herzen der Menschen erreiche. Von ganz unterschiedlichen Menschen noch dazu. Sie mochten die schnell dahingerotzten Texte, die gefeilte Lyrik, die erotische Geschichte, die Gedichte von A.M.See.
Selten bin ich so glücklich wie in diesen Momenten. Dafür schreibe ich. Dafür lebe ich. Und amüsiere mich immer wieder an der Frage, ob ich davon leben kann. Davon nicht, nein. Nur dafür.
A propos A.M.See
Es gibt eine Vorabversion in streng limitierter Auflage. Gedichte und Fotos von A.M.See. Zu beziehen bei mir.
Allen praktizierenden Katholiken rate ich vom Betrachten dieses Films ab. Sollten sie es dennoch tun und in ihren religiösen Gefühlen verletzt sein, entschuldige ich mich.
Manchmal passen Texte auch noch Jahre nachdem man sie geschrieben hat. Fast auf den Tag genau.
Unter der warmen, feuchten Traurigkeit sprießt Johanniskraut. Doch es kommt nicht an gegen die Depressionen, die der Winter - im Schnee versteckt – als Geschenk bringt. Ich will deine Geschenke nicht mehr, brülle ich den Winter an, behalte das eisige Eis und den flockigen Schnee. Du bist ein verdammter Lügner, denn du hast versprochen, du ziehst bald weiter. Noch immer aber hockst du vor meinem Haus und schenkst mir trojanische Pferde. Der Schnee glitzert in der klirrenden Sonne und fast möchte man ihn lieben, doch wenn er schmilzt, quillt Dreck und Trauer hervor. Alles ist eine große Täuschung. Du ein Illusionist.
Er schmilzt nicht, der Schnee. Am Frauentag baue ich Schneefrauen mit üppigen Brüsten und dicken Bäuchen. Ihre Füße stecke ich in warme Lammfellstiefel, damit sie nicht frieren. Sie haben den Auftrag, den Winter in den Arsch zu treten. Aber die Weiber sind ungehorsam. Und das ist gut so. Sie wirken stark und unsterblich, aber auch das ist Illusion.
Ihr schreit und schreibt den Frühling herbei, so als hätte er Erbarmen und ließe sich locken mit Texten über Schneeglöckchen und Primeln. Merkt ihr nicht, dass er flieht, wenn ihr Herz auf Schmerz reimt und Sonne auf Wonne? Der Frühling hat eure Gedichte satt, er liegt im Gras, irgendwo, wo er ein Stückchen Wiese gefunden hat, malt Lyrik aus Zwölftonmusik und wartet auf ein Echo.
Irgendwann der große Showdown. Im Teich singt die Seekanne ein unsinkbares Lied. Detektive liegen Rücken an Rücken mit Heckenschützen auf der Lauer. Niemand weiß, wonach sie suchen, worauf sie zielen, wonach wir suchen, was unsere Ziele sind.
Der Eisenbahnräuber setzt alles auf rot und verliert. Josef Schrammel erschlägt mit seiner ersten Geige die Walzerseligkeit und sagt: Genug getanzt, jetzt wird gelebt und geliebt.
Wie lebt man, frage ich, denn das habe ich in dem langen Winter verlernt. Wer zeigt mir, wie man lebt?
Die Schneefrauen schütteln vorsichtig den Kopf. Wir nicht, sagen sie mit Tränen in den Augen, denn wir werden bald sterben. Wir haben große Angst vor dem Tod. Wer aber den Tod so fürchtet, der kann nicht leben.
Nicht richtig.