Den Text hab ich für die Lesung anlässlich der Tagung in Deutschland geschrieben. Für Uneingeweihte ist er wahrscheinlich schwer verständlich. Trotzdem.
Die dort mochten ihn.
„Und was machen Sie beruflich?“, fragt der freundliche Herr neben mir, nachdem wir die Themen Wetter, Politik und Flugzeugkost hinter uns gebracht haben.
„Ich bin Sachwalterin“, sage ich und denke: Warum bin ich nicht Floristin geworden, oder Automechanikerin? Jeder wüsste, was das ist und ich müsste mich nicht ständig erklären.
„Aha. Sachbearbeiterin. Welche Branche?“
Ich hab’s geahnt. „Keine Branche.“
Jetzt schaut er beleidigt.
„Nicht Sachbearbeiterin“, lenke ich versöhnlich ein, „Sachwalterin.“
„Oh. Sachverwalterin.“ Sein Blick verrät mir seine Ahnungslosigkeit. „Und was genau verwalten Sie?“
Ja, was verwalte ich eigentlich?
Menschen, denke ich. Ich verwalte Menschen. Und den Wahnsinn. Vor allem den. Ich achte darauf, dass er nicht über die Grenzbalken hüpft, um die Kreise derer, die nicht verrückt sind oder nur ein bisschen oder anders, so wenig wie möglich zu stören.
„Ich verwalte den Wahnsinn“, sage ich.
Er lächelt verlegen. „Ich verstehe“, lügen seine Lippen, aber seine Augen erzählen mir die Wahrheit. Nämlich die, dass er mich für verrückt hält.
Weil ich jemanden brauche, der nach der Landung meine schwere Tasche aus dem Gepäckfach hebt und ich ihn deshalb nicht vergrämen will, versuche ich es noch einmal.
„Um ehrlich zu sein, ich verwalte weder Sachen, noch den Wahnsinn.“
„Was dann?“
„Ich verwalte gar nichts. Ich bin Sachwalterin, nicht Sachverwalterin. Ich walte sach. Ähm... ich sachwalte... nun ja... Ich walte meiner Sache“, nicke ich und hoffe, dass er mit dieser Erklärung zufrieden ist. Ich bin es. Aber der Herr ist ein neugieriger und hartnäckiger Mensch. „Jetzt machen Sie es doch nicht so spannend. Welcher Sache walten Sie denn nun?“
Ich kratze mich am Kopf. „Puh, das ist nicht so einfach zu erklären. Viele Sachen, eigentlich. Ich arbeite bei VertretungsNetz.“
Jetzt kommen wir der Sache schon näher, verrät sein Lächeln. „Sie sind also Vertreterin.“
Na ja, fast richtig, wenn meine Kollegin auf Urlaub ist, dann vertrete ich sie. „Ja. So kann man sagen.“ Lassen Sie uns doch bitte das Thema wechseln, flehe ich leise.
„Warum sagen Sie das denn nicht gleich. Vertreterin zu sein ist ja keine Schande. Ich dachte schon, Sie wären Politikerin oder Polizistin oder etwas ähnlich Unanständiges. Sie vertreiben also Netze? Ich habe geglaubt, es gibt in Österreich gar kein Meer mehr?“
„Daran hat sich nichts vermutlich auch in der letzten halben Stunde nichts geändert. Wenn Sie mich bitte entschuldigen“, quetsche ich mich an ihm vorbei. „Ich muss kurz vertreten. Meine Füße.“
Er grinst. Die Deutschen sind leicht zu unterhalten.
Als ich zurückkomme, nehme ich einen neuen Anlauf. „Ich bin gesetzliche Vertreterin von psychisch kranken und geistig behinderten Menschen, die einzelne oder alle ihrer Angelegenheiten nicht regeln können, ohne dabei Schaden zu erleiden.“
Ich atme durch.
Er klopft sich freudig erregt auf die Oberschenkel. So hat noch keiner auf meinen Beruf reagiert. Vielleicht ist der Kerl neben mir ein bisschen pervers und ich bin in großer Gefahr. „Sie sind also Betreuerin!“, hellt sich sein Gesicht auf.
„Definitiv nicht. Ich betreue nicht, ich vertrete.“ So, Schluss mit lustig. Ich drehe den Spieß jetzt einfach um.
„Und wovon leben Sie?“
„Ich bin auch Betreuer.“
„Aber ich nicht, verdammt noch mal“, meine Geduld sprintet in die Zielgerade. „Ich habe einen Betreuer. Auf meiner Weinviertler Hausbank. Also jetzt nicht auf der alten Holzbank vor dem Haus, auf der ich mich von meiner anstrengenden Arbeit ausruhe, sondern auf der Sparkasse. Ein schwieriger Mensch, mein Betreuer. Er will ständig Geld von mir.“
Das scheint ihm vertraut. „Meine Klienten wollen auch immer Geld von mir.“
„Klienten? Ich dachte, Leute, die Sparbücher eröffnen oder Kredite aufnehmen, nennt man bei Ihnen Kunden? Oder Patienten.“
„Ich bin ja kein Bankbetreuer.“
„Fußballschülerliga? Na, da sitzen Sie wahrscheinlich auch oft auf der Bank. Auf der Betreuerbank.“ Obwohl, betrachte ich ihn von der Seite, für den Job hat er eigentlich ein paar Schwimmreifen zu viel. „Seniorenbetreuer?“ Die Alten laufen wenigstens nicht mehr so schnell.
„Ein Betreuer“, stöhnt er jetzt, ein wenig gereizt, „ist ein gesetzlicher Vertreter von Volljährigen, die für ihre eigenen Angelegenheiten nicht sorgen können.“
Jetzt reicht es mir. „Auf Wiedersehen. Verarschen kann ich mich auch alleine. Und mein Gepäck krieg ich schon irgendwie runter.“
testsiegerin - 25. Mai, 22:30
Hannah ging in die Autorenfabrik, wie jeden Tag. Dort war sie in der Produktion beschäftigt und schraubte Autoren zusammen. Große, kleine, langweilige, bekannte und unbekannte, zweifelnde und von sich selbst überzeugte. Von letzteren die meisten.
Es war ein langweiliger Job, Fließbandarbeit eben, aber Hannah war froh, dass sie überhaupt noch eine Arbeit hatte. Die Firma, in der ihre Freundin mit der luftdichten Verpackung von Glücksmomenten beschäftigt war, musste vor ein paar Monaten Konkurs anmelden. „Dabei bräuchten die Menschen gerade jetzt Glück“, sagte Hannah, „aber sie können es sich nicht mehr leisten.“
Während Hannah schraubte, drechselte, zusammensteckte und polierte, redete sie. Sie erzählte den Autoren Geschichten. Geschichten, die ihre Mutter ihr erzählt hatte, und diese wiederum hatte die Geschichten von der eigenen Mutter und so fort. Auch Hannahs Urgroßmutter war in der Autorenfabrik beschäftigt. Dort lernte sie alle ihre sieben Männer kennen. Dort tötete sie alle ihre sieben Männer. „Ein Unfall“, erzählte sie der kleinen Hannah später augenzwinkernd, „leider sind sie irgendwann einer nach dem anderen in die Druckmaschine geraten. Ich konnte gar nichts dagegen tun.“ Bevor sie - im Alter von achtundneunzig Jahren - ihre blitzblauen Augen für immer schloss, hatte sie ihrer Urenkelin noch einen Rat mit auf den Weg gegeben: „Verlieb dich nie in einen Kerl, an dem du eigenhändig herumgeschraubt hast“.
Von Montag bis Freitag, in Hochzeiten sogar samstags, schraubte sie ihre Erfahrungen, Gedanken und Träume in die Köpfe der Autoren, die später daraus Geschichten machten. Manchmal allerdings war Hannah bei ihrer eintönigen Arbeit nicht bei der Sache, ihre Gedanken schweiften und ihre Hände rutschten ab, die Worte kamen durcheinander und sie feilte ein paar Ecken und Kanten in die Autoren. Das passierte ihr in letzter Zeit immer öfter. Diese Autoren waren die spannendsten und skurrilsten. Beinahe hätte Hannah sich in einen von ihnen verliebt, einen Finnen mit elfenbeinküstiger Mutter, der in der Sahara eine Saunalandschaft betrieb, erinnerte sich aber gerade noch rechtzeitig an das Schicksal der Ehemänner ihrer Urgroßmutter und an den Rat der alten Frau. Deshalb schickt sie ihren Elfenbeinkusstiger trotz brennenden Unterleibs und pochenden Blutes in die Wüste.
Die Bücher des Elfenbeinkusstigers und aller anderen wunderbaren und spannenden Autoren jedoch wurden zu Ladenhütern, weshalb Hannahs Chef sie eines Tages – es war ein Mittwoch – zu sich ins Büro rief.
„Sie wissen, ich schätze Ihre Arbeit sehr“, sagte er, „aber den Menschen ist zu kompliziert, was diese Autoren produzieren. Erinnern Sie sich an Uwe Tellkamp? Da haben sie sich anscheinend in einen Wahn geschraubt, genauso verschraubt klang dann auch der Turm. Nun gut, zum Glück gibt es ein paar Intellektuelle, die solche Bücher für ihre Regale erstehen, aber gerade in Zeiten der Krise haben die Menschen eine Sehnsucht nach dem Einfachen. Nach Autoren, die überhaupt nichts von Literatur verstehen, am besten auch nichts von Fußball und Musik, wie Oliver Kahn oder der... wie hieß er gleich noch mal?... ah ja... Bohlen. Diese Beiden haben sich wie warme Semmeln.“
Hannah lachte und dachte an den Tag, an dem sie Dieter zusammengeschraubt hatte. Diesem Tag war eine Nacht mit einer aufregenden Frau und dreiundzwanzig Gläsern Tequila vorausgegangen. Kein einziges Rädchen hatte sie an die richtige Stelle gelötet, keine einzige Mutter gerade auf den Dübel geschraubt.
„Es. tut. mir. leid“, stotterte der Geschäftsführer fort, „aber die Krise zwingt uns...“
Hannah lächelte und bedeutete ihm mit dem Zeigefinger auf ihren Lippen zu schweigen. Sie ließ den Schraubenzieher fallen, packte ihre Habseligkeiten zusammen und ging zum Fabriktor hinaus.
Draußen – es regnete gerade Langeweile - schüttelte sie den Staub der Wörter von ihrer Jacke, schnallte sich die Phantasie auf den Rücken und flog davon.
testsiegerin - 22. Mai, 19:01
Die Telefonrechnung von Herrn Gruber war höher als Emma Rogners Werkstattrechnung. Und die Werkstattrechnung von Emma Rogner war höher als der monatliche Gehalt der Billa-Kassiererin.
Emma tippte die Zahlen in den Taschenrechner und wusste nicht, wie sie das bezahlen sollte. Weder die Telefonrechnung ihres Klienten noch ihre Werkstattrechnung.
„Ich hab eine neue Freundin“, hatte er das letzte Mal strahlend erzählt. „Das ist ja ganz wunderbar!“, gratulierte sie ihm ebenso strahlend und hoffte für und mit ihm, dass die Neue starke Nerven hatte. Starke Nerven, unendliche Geduld und ein prall gefülltes Bankkonto. „Die Svetlana hat gesagt, sie mag meine Mama“, erzählte er Emma bei ihrem letzten Hausbesuch „und die Mama hat gesagt, sie mag die Svetlana.“
„Das ist schön“, hatte Emma gesagt und ihm kein Wort geglaubt.
Die Mama vom Herrn Gruber lag seit vielen Jahren auf dem Friedhof und ihr Sohn legte ihr täglich frische Blumen aufs Grab. Damals, als die Mama nur zum Blumen gießen auf dem Friedhof war, hatte sie keine Frau leiden können, die Herrn Gruber näher kam, nicht mal Emma Rogner. Ob der Tod tatsächlich so viel Macht hatte, das zu ändern?
Emma studierte die Telefonrechnung von Herrn Gruber. Sie gab Details über seine neue, große Beziehung preis.
Die Telefonnummer seiner Flamme begann mit 0900, und sie rief ihn nie, er sie aber umso öfter an. Manchmal ging es ganz schnell, und manchmal schien er ein bisschen länger zu brauchen, was Svetlana bestimmt freute.
Selbst schuld, dachte Emma, denn sie hatte vergessen, die Mehrwertnummern sperren zu lassen. Also musste sie ihm jetzt erklären, dass er sich solche Gespräche mit seinem Einkommen nicht leisten konnte. Sein Einkommen reichte kaum für ein anständiges Auskommen, und schon gar nicht für ein weniger anständiges.
Emma erinnerte sich an ihre sexbesessene Klientin Berta, der sie vor Jahren einen Callboy mit Orgasmusgarantie und Wohnmobil zum Geburtstag geschenkt hatte. Gern hätte sie auch die Wünsche von Herrn Gruber erfüllt, aber dafür reichte das Geld einfach nicht mehr, und auch das Sozialamt war weit weniger spendabel als früher. Gut, damals hatte sie ein bisschen geschwindelt, als sie „Physikalische Anwendungen“ in den Antrag geschrieben und sich dafür Schwierigkeiten mit dem Bezirkshauptmann eingehandelt hatte. Das wollte sie nicht wieder riskieren.
„Herr Gruber“, Emma Rogner zog nervös an ihrer Lucky Strike und bot auch ihrem Klienten eine an, obwohl der Nichtraucher war. Eigentlich gingen sie derart intime Dinge nichts an und sie wollte mit dem Gruber weder über Svetlana noch über Natascha reden, Svetlanas beste Freundin, mit der er hin und wieder telefonierte, wenn Svetlana sich um ihre kranke, russische Mama kümmern musste. „Schauen Sie, Herr Gruber, vielleicht ist es besser, Sie rufen Svetlana nicht mehr an. Sicher ist es besser... zumindest für ihr Konto.“
Scheiß Job, dachte Emma Rogner und beneidete die Billa-Kassiererin. Nicht um ihr Einkommen, aber der blieben zumindest solche Gespräche erspart.
„Aber ich suche doch die große Liebe!“, schluchzte Herr Gruber jetzt bitterlich. „Sie geben mir ja nicht die Liebe, die ich brauche, Frau Rogner!“
Wo er Recht hatte, hatte er Recht.
„Tut mir leid, das gehört nicht zu meinem Aufgabenkreis“, sagte Emma knapp. „Ich bin nur für die Verwaltung ihres Einkommens und für die Vertretung vor Behörden und private Vertragspartner bestellt. Außerdem fürchte ich, so werden Sie die große Liebe nicht finden.“
„Wo dann?“
Gute Frage. Emma hatte längst aufgehört an die große Liebe zu glauben. In ihrem Leben hatten sich viele kleine Lieben die Hand gegeben. In den letzten Jahren waren sogar die ausgeblieben. „Vielleicht im Hallenbad, auf dem Stadtfest, im Kaffeehaus, im Raiffeisen-Lagerhaus, auf dem Pfarrflohmarkt, auf dem Friedhof. Überall kann man die große Liebe finden, Herr Gruber. Ich hab gehört, sogar im Internet.“
Jetzt leuchten seine Augen wieder. „Im Internetz? Darf ich so ein Internetz haben?“
Emma Rogner biss sich auf die Lippen. In ihren Gedanken sah sie, wie sich die unbezahlten Rechnungen und Mahnungen für von Gruber im Internet bestellte Dinge und Dienstleistungen auf ihrem Schreibtisch stapelten. Sie schüttelte den Kopf. „Ich fürchte, das ist keine so gute Idee. Versuchen Sie es lieber auf dem Pfarrflohmarkt.“
Herr Gruber fiel auf die Knie, faltete die Hände zum Gebet, bettelte, schluchzte und schwitzte. „Wissen Sie, ich hab ja auch so... so... männliche Bedürfnisse. Soll ich die herausschwitzen?“
Emma Rogner zuckte zusammen. Bitte nicht herausschwitzen, dachte sie und sah schon die klebrige Flüssigkeit aus seinen Poren sprießen. Nicht jetzt. Nicht, solange ich da bin.
Dann hatte Emma Rogner eine – wie sie fand zündende - Idee. „Vielleicht könnten Sie ja das Geld, mit dem sie die Blumen kaufen, für die Telefonate mit Svetlana sparen?“, schlug sie vor. „Ihre Mama freut sich bestimmt mit Ihnen.“
Gruber hielt kurz mit dem Weinen inne. „Niemals!“, brüllte er, riss das Bild seiner verstorbenen Mutter von der Wand und drückte es an seine Brust. „Niemals!“
„Ich muss dann mal“, verabschiedete sich Emma hastig, diesmal ohne ihm die Hand zu geben, „meinen Wagen aus der Werkstatt holen.“
testsiegerin - 1. Mai, 20:45
ich will deine weichen stellen
flüsterte er
und sie zog die notbremse
ich brauche niemanden
der mir die richtung
vorgibt
kein leben
auf schienen
sie schob ihn
auf das abstellgleis
geradeaus und hart
dabei wollte er
nur
ihre warmweichen kurven
testsiegerin - 28. Apr, 17:07
Ernestine lebte in einer Zimmer-Küche-Kabinettwohnung am Stadtrand von Wien. Der Dienstag war wie der Montag, der Mittwoch wie der Dienstag, der Donnerstag wie der Mittwoch und so fort. Ein Tag wie der andere. Nur der Sonntag, der war anders. Ganz anders eigentlich auch nicht, abgesehen davon, dass Ernestine am Sonntag nicht einkaufte, weil die Geschäfte geschlossen hatten, aber Ernestine stand um die gleiche Zeit auf wie an den restlichen Tagen, sie putzte die sauberen Fenster und kehrte den sauberen Boden. Oft wusch sie auch die saubere Wäsche, weil sich nicht genug Schmutzwäsche angesammelt hatte, abgesehen von den Putztüchern.
Sonntag war Tatort-Tag. Von Montag bis Mittwoch tauschte sie sich mit ihrem Nachbarn, mit dem sie sonst kaum ein Wort wechselte, über den sonntäglichen Tatort aus, von Donnerstag bis Sonntag freute sie sich auf den folgenden. Verbrechen im Zusammenhang mit Wirtschafts- und Computerkriminalität mochte sie nicht, da kannte sie sich meistens nicht aus und wusste zwar am Ende meistens, wer der Mörder war, verstand aber die Zusammenhänge nicht.
Die klassischen Themen, die waren Ernestine viel lieber. Eifersucht, Untreue, Vergewaltigung, Sexualüberfälle waren mehr nach ihrem Geschmack, gelegentlich auch Kindesmissbrauch oder ein kleiner Raubmord.
Von den vielen Kommissaren waren ihr Kain und Ehrlicher die liebsten gewesen, die beiden Ostdeutschen, und als Ehrlicher vergangenes Jahr in Rente ging, da schickte Ernestine ihm eine Glückwunschkarte zur Pensionierung und war richtig traurig.
Bei Thiel und Börne liebte sie die Dialoge, das Auto vom Börne und den alten Vater vom Thiel, den Taxifahrer. Der hatte so etwas Verwegenes und rauchte sogar Haschisch, obwohl sein Sohn Polizist war. Das hätte Ernestine sich nie getraut.
Nur die lesbischen Emanzen wie die Lena Odenthal, die konnte sie nicht leiden, weil sie immer auf supercool machte. Und Charlotte Lindholm war ihr zu depressiv. Überhaupt fand sie, dass Frauen nicht wirklich als Kommissare taugten. Trotzdem schaute sie sich jede Folge an.
„Und, Frau Doktor? Ist er wirklich hin?“, platzte es aus Ernestine heraus.
Die Ärztin kniete über dem Nachbarn und warf ihr einen giftigen Blick zu. „Pardon“, korrigierte Ernestine und machte die Schreibtischlade schnell wieder zu, nachdem sie einen Umschlag in ihre Schürze geschoben hatte, „...hin... hinübergegangen?“
Sie hatte ihn gefunden, vorhin, als sie ihm ein Stück Kuchen bringen wollte. Ernestine hatte geklopft, wie immer, aber er hatte nicht geöffnet, dabei wusste sie genau, dass er zu Hause war. Schließlich hatte sie ihn durch den Türspion beobachtet, als er am Nachmittag von seinem Spaziergang zurückkam. Ob ihm etwas zugestoßen war?
Mit dem Reserveschlüssel hatte sie aufgeschlossen, den armen Mann am Boden liegen sehen und sofort den Notarzt gerufen. Wenn sie gewusst hätte, dass die eine Frau schicken, hätte sie es sich vielleicht überlegt und gleich die Polizei verständigt. Bei der Polizei gab es nämlich zum Glück noch nicht so viele Frauen wie im Fernsehen.
Die Ärztin fühlte den nicht existierenden Puls. „Ja, schaut so aus, als hätte er die Ebenen gewechselt.“
Die Ebenen gewechselt. Wie geschwollen die daherredete. Vielleicht war sie sich ja einfach nicht sicher?
„Sie müssen ihm einen Spiegel vor den Mund halten“, riet Ernestine und freute sich über ihre gute Idee, „das hab ich beim Tatort gesehen.“
Da machten die Ärzte das auch immer, und wenn der Tote noch lebte, was aber im Tatort so gut wie nie der Fall war, dann beschlug sich der Spiegel vom Atem. Sie kramte einen Taschenspiegel aus der Schürzentasche und reichte ihn der Ärztin.
„Danke für den Tipp. Feststellen des Todes war im Medizinstudium kein Thema.“
„Ehrlich?“ Veräppelte diese Frau Doktor sie oder war sie tatsächlich so ahnungslos wie sie sich anstellte? Ernestine sah sich in ihrer Ansicht, dass nicht nur weibliche Kommissare, sondern auch weibliche Ärzte völlig unfähig waren, bekräftigt. Sie nahm den Deckel von der Dose auf dem Kästchen und schob sich einen Keks in den Mund. Einen ziemlich trockenen Keks. „Woran ist er denn abge...“, sie biss sich auf die Lippen, „gestorben?“
Ernestine ging zur Leiche und drückte dem Mann sanft die Augen zu. Sogar darauf hatte diese Ärztin vergessen. Ein bisschen mehr Würde hatte sich der Nachbar schon verdient.
„Vermutlich Herzstillstand.“
Die war vielleicht kurz angebunden. Das nächste Mal würde sie beim Roten Kreuz bitten, dass ein etwas gesprächigeres Exemplar geschickt wurde.
„Vielleicht ist er ja vergiftet worden?“ Bei diesem Gedanken erschrak Ernestine, spuckte den Keks hastig aus und versteckte die klebrige Masse unter dem Tischdeckchen. „Das kommt beim Tatort auch manchmal vor. Soll ich die KTU anrufen?“ Sie war erleichtert, endlich aktiv helfen zu können.
„Welche Kathi wollen Sie anrufen?“
„Nicht die Kathi, die kriminaltechnische Untersuchung. Wie beim Tatort.“ Damit kannte sie sich aus. Obwohl – sie hatte früher auch nicht gewusst, was die Abkürzung bedeutete und sah diese Unwissenheit der Ärztin deshalb lächelnd nach.
„Hier heißt das Spusi, Spurensicherung.“
Stimmt, wie hatte Ernestine das vergessen können? Der österreichische Kommissar, der Moritz Eisner, der rief auch immer die Spusi an. Den Eisner, den mochte sie als Bergdoktor ja viel lieber.
„Und die Spusi brauchen wir nicht“, fuhr die Ärztin fort und begann, den Totenschein auszufüllen, „wenn ein 98-jähriger an Altersschwäche stirbt. Sie schauen zu viel fern, meine Liebe.“
Ernestine verschränkte beleidigt die Arme vor dem Körper und verteidigte sich. „Gar nicht. Nur Tatort.“ Hoffentlich hatte das jetzt nicht zu scharf geklungen, denn Ernestine hätte sich trotz allem noch gern ein bisschen mit der Ärztin unterhalten, über ungelöste und mysteriöse Mordfälle zum Beispiel. Meistens war ja nichts los in dem Haus. „Darf ich Ihnen wenigstens einen Apfelstrudel anbieten, Frau Doktor?“, fragte sie versöhnlich. „Ich hab ein neues Rezept ausprobiert.“
„Aus dem Tatort?“
Entsetzt starrte Ernestine auf die Pendeluhr. Verdammt. Jetzt hatte sie den Tatort versäumt, das erste Mal seit dem Tod ihres Mannes vor fast fünf Jahren. Und ausgerechnet heute ermittelten Max Ballauf und Freddy Schenk.
„Nein, da gibt’s keine Rezepte, nur Tote. Vom Perfekten Dinner.“
testsiegerin - 24. Apr, 20:34
Radetzkymarsch von Joseph Roth im Schauspielhaus Graz.
Ein grandioses, reduziertes Bühnenbild. Eine grandiose Inszenierung. Tolle Schauspieler.
Immer wenn auf den Gleisen der Rampe langsam eine Bahre auf die Zuschauer zugerollt kommt, ist entweder jemand gestorben oder jemand stirbt gleich. Manchmal legen sich Menschen freiwillig zum Sterben auf die Bahre, weil sie spüren, dass ihre Zeit abgelaufen ist.
Beklemmend. Aufwühlend. Berührend.
Der junge Trotta in seiner Hilflosigkeit, im Wissen, den Ansprüchen des Vaters und des Großvaters (des Helden von Solferino) niemals genügen zu können, in seiner Unfähigkeit Beziehungen zu leben, bemitleidenswert.
Drei Musiker mit stoischen Gesichtern, die ein paar Takte des Radetzkymarschs spielen. Immer wieder. Immer an anderen Stellen der Bühne.
Im Publikum eine Frau mit Hustenanfällen.
Ein Schuss.
Entsetzen.
Stille.
Trotta ist tot.
Die Frau im Publikum lebt.
Zum Glück. Denn die Frau war ich.
*
Graz, am nächsten Tag. Ein kleines Tonstudio. Ein großartiger Text. Unter dem Milchwald, von Dylan Thomas. Ein Hörspiel. Sprachlich phänomenal.
Die Textsiegerin... pardon... die Testsiegerin, die eigentlich nur für eine kleine Rolle vorgesehen war, die Hörspielmacher beim Probelesen jedoch so beeindruckt hat, liest die Hauptrolle (nämlich die Erzählerin). Zwei Großpackungen Emser Pastillen ohne Menthol hat sie in den vergangenen Stunden gelutscht, damit die von den Hustenanfällen der letzten Woche beleidigte Stimme trägt.
Die Testsiegerin liest. Sie lebt. Sie liebt und lebt den Text, und obwohl das Studio für den halben Tag gebucht war, ist der Text nach zwei Stunden eingelesen, der Tontechniker zufrieden, der Hörspielmacher zufrieden und die Testsiegerin zufrieden.
Was ist mit deiner Stimme?, fragen die Kinder am Abend.
Die hab ich in Graz abgegeben.
Graz hat gewählt?
Ja. Mich.
*
Korneuburg, am nächsten Tag. Eine Lesung. Die Testsiegerin entschuldigt sich beim zahlreichen Publikum, dass ihre Stimme nicht wie gewohnt tragen wird. Die Stimme überrascht sie aber wieder. Sie ist aus Graz zurückgekehrt. Und das Publikum liebt die Testsiegerin, die Texte der Testsiegerin und vor allem Herwig Steiner, den Beamten der Bezirkshauptmannschaft.
Die Testsiegerin kehrt mit einem wunderschönen Strauß orangefarbener Rosen nach Hause und sucht nach einer Vase. Sie erzählt der Familie, dass die Stimme zum Glück getragen hat. Vase findet sie keine, aber einen schweren Bierkrug. Die Testsiegerin ist glücklich, zufrieden und im Gleichgewicht.
Das Regalbrett aber verliert im selben Moment die Balance. Dreißig Gläser schlittern auf die Testsiegerin zu, sie schreit (die Stimme hält noch immer), Glas bricht, Gläser brechen, etwa dreißig Gläser brechen. Weingläser, Teegläser, Caipirinhagläser, Wassergläser. Vor allem ein Glas bricht.
Das Proseccoglas mit der Sonne und der Aufschrift "Dolce far niente", das die beste Freundin der Testsiegerin zum Geburtstag geschenkt hat.
Die Testsiegerin verliert das Gleichgewicht und weint. Nicht um die neunundzwanzig Gläser.
Nur um das eine.
testsiegerin - 18. Apr, 10:34
... hmmmmm... mmmnnnjaaaa...mach weiter... ohhhhhh..... jaaaa..... gut tut das..... woooooowww.... ist das geil..... und schön..... bitte nicht aufhören....... aaaaaaaaaaahhhhhhhh.....gleich......oooooooooooooo
ooooooooooooooooohhh...
ja ja jaaaaaaaa!
oooooooooooooooohhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh
testsiegerin - 14. Apr, 11:10
In unserer Familie ist ja irgendwie keiner ganz normal. Was immer dieses "normal" überhaupt ist, hier ist es selten zu Gast.
Letztens haben meine Tochter und ich festgestellt, dass ich in meinem Freundeskreis ziemlich viele depressive (manche davon sind zum Glück hin und wieder auch manisch) Menschen habe.
Meine Tochter: "Und du hast dich bis jetzt noch nicht gefragt, warum das so ist? Dein nerviger Optimismus macht die krank und depressiv. Das hält ja keiner aus!"
*
Mein Sohn hat sich zu Ostern einen Teppichklopfer gewünscht. Weil es so mühsam ist, den Teppich in seinem Zimmer zu saugen. Natürlich versuche ich die Wünsche meiner Kinder zu erfüllen, also begebe ich mich in den nächsten Baumarkt.
"Wo sind die Teppichpracker, bitte?"
Meine Tochter: "Das ist voll peinlich. Jetzt halten die uns für Hausfrauen!"
testsiegerin - 11. Apr, 13:38