Warum brauche ich das noch? Schon wieder dieser Satz. Wie ein lästiger Ohrwurm spult er sich immer tiefer in mich. Wie lange brauche ich den Refrain „Warum brauche ich das noch?“ noch?
Wahrscheinlich bis zum letzten Atemzug. Er ist mein Begleiter. Hand in Hand mit „Bin ich gut genug?“ Gestern beim Fitnesscheck. Ich bin nicht gut genug. Nicht fit genug. Für wen? Für mein Alter. Wozu trainiere ich zwei- bis dreimal die Woche, wozu stemme ich Gewichte im Takt und crosse auf dem Trainer, wenn ich dann ein „mangelhaft“ im Zeugnis stehen hab? Mein Herz ist gut, immerhin, aber dafür kann ich nichts. Meine Lungen sind auch gut, dafür kann ich was, weil ich nicht rauche. Aber meine Fitness ist nicht gut genug. Ich keuche immer noch, wenn ich im vierten Stock Altbau ankomme. Obwohl ich mich Woche für Woche lustvoll quäle. Ich will weder zu den nächsten olympischen Spielen noch zu Weinviertels next Top Model. Ich will mich halbwegs fit fühlen, meinen Körper gern haben und weiterhin lustvoll leben, gierig sein und glücklich. Und dann boxt sie mir dieses „mangelhaft“ in den Magen. Es fühlt sich genauso an wie damals in der Schule. Ich wieder das kleine Mädchen, das in keine Mannschaft gewählt wird. Die Trainerin ähnlich zynisch wie die Lehrerin damals: „Na ja, wenn du zufrieden bist, dann passt’s ja.“
Vergleichen macht unglücklich, sagt eine Glücksstudie. Glücklich ist, wer sich nicht vergleicht. Es gibt nämlich - meistens muss man gar nicht lange nach ihnen suchen - immer wieder welche, die fitter, schöner, besser, intelligenter, kreativer, tüchtiger, fleißiger und begabter sind. Bei solchen Vergleichen schaut man immer schlecht aus, weil man sich ja eher selten mit denen vergleicht, die untalentiert und unscheinbar sind und einen Intelligenzquotienten knapp über der Raumtemperatur haben. Besser als die besten ist man aber höchstens, wenn man Weltmeisterin ist oder wenigstens eine Inselbegabung hat, wie zweihundert Stellen von Pi auswendig zu können. Aber ich bin keine Insel, schon gar keine Insel der Seligen.
Ich bin ein buntes Gewirr von unterschiedlichen Ländern. Vielvölkerstaat. Meistens leben sie friedlich nebeneinander her, meine unterschiedlichen Begabungen, meine Talente, meine Fähigkeiten, meine Fertigkeiten, meine Interessen. Manchmal schlagen sie einander die Schädel ein. Vor allem meine Fähigkeit zum Chillen und Genießen und mein Ehrgeiz liefern sich Grabenkämpfe. Hin und wieder hat irgendwer die großartige Idee zur Revolution und macht sich wichtig. Immer wieder mal will hier einer die Macht anstatt einer friedlichen Gemeinschaft und erklärt den anderen den Krieg. Besetzt rücksichtslos das Territorium eines anderen, weil er glaubt, besser zu sein. „Klappe“, schreie ich. „Hier“, antwortet die kleine Herzklappe und öffnet sich nervös für den Blutstrom.
Als es endlich still ist in der Union, höre ich, wie eine kleines, aber starkes Volk inmitten meines Reiches weint. Das Herz. „Ich bin auch nicht gut genug“, sagt es. „Ich bin erschöpft. Ich pumpe mein Herzblut in alle Völker, aber es ist nie genug. Immer haben sie Angst, dass einer mehr bekommt als der andere. Ich kann nicht mehr. Und überhaupt: Für alles macht man mich verantwortlich!“, heult es, "sogar für Liebeskummer."
Ich will diese ständige Jammerei nicht mehr hören. Ich habe keine Lösung für die Konflikte in mir. Nicht einmal gut genug für eine Lösung bin ich. Die anderen können das bestimmt viel besser. Ihrem Herzen zu folgen. Ihr Herz zufriedenstellen. Die Völker befrieden.
Wie lange brauche ich das noch? Die Frage, ob ich gut genug bin für mich?
testsiegerin - 6. Dez, 20:13
Früher war alles viel früher. Früher hat er sich – sobald ich das Buch aus der Hand gelegt habe – sanft an mich geschmiegt, hat mich in seine Arme genommen und mir schöne Wörter ins Ohr geflüstert. Bis zum Sonnenaufgang hat er mich im Arm gehalten und in Sicherheit gewogen, mich zärtlich auf den Mund geküsst, mir einen wunderbaren Tag gewünscht und ist unter die Dusche gegangen. Jeden Tag hat er das gemacht, nur am Sonntag hat er nicht geduscht, sondern hat noch eine Weile verschwitzt mit mir im Bett gekuschelt und nach Wärme und Lust gerochen. Wenn er aufgestanden ist, bin ich noch ein paar Minuten liegengeblieben, hab über den kommenden Tag nachgedacht, ein bisschen im Forschertagebuch geschrieben und mich gut gefühlt.
Und jetzt? Nach so vielen gemeinsamen Nächten? Wenn ich das Buch weglege, ist er immer noch da und ich strecke meine kalten Füße unter seine warme Decke. Aber immer öfter nervt es ihn, wenn ich noch lese und er sagt: „Hör auf zu lesen. Dreh das Licht ab.“
Er hat sich verändert. Ich habe mich verändert. Unsere Beziehung hat sich verändert. Das Selbstverständliche, die Leichtigkeit, die unsere Beziehung früher ausgemacht hat, die ist verflogen. Wir führen eine Vernunftehe. „Das ist ganz normal“, sagen meine Freundinnen, „das sind die Hormone“. Es ist mir scheißegal, was es ist, ich will, dass es wieder so ist wie früher.
Ja, ich sollte zufrieden sein, andere haben nicht einmal das. Er presst sich wenigstens immer noch an mich, wenn ich das Licht ausmache. (Früher haben wir uns oft auch bei Licht geliebt, oder während der Fernseher gelaufen ist, das war uns völlig egal, wir sind hemmungslos übereinander hergefallen.) Nein, alles war nicht besser früher. Nur früher halt. Und manches war ein bisschen leichter.
Ich bin ein bisschen beunruhigt, wenn er sich beinahe jede Nacht aus dem Schlafzimmer schleicht. Meistens nur kurz, wahrscheinlich glaubt er, ich merke es gar nicht. Natürlich merke ich das. Ob er eine Geliebte hat, die er Nacht für Nacht anruft? Wahrscheinlich eine jüngere. Ich weiß es nicht. Ich will es auch nicht wissen. Ich liebe ihn nämlich immer noch.
Morgens, wenn das Cello aus dem Wecker tönt und ich aufstehen sollte, legt er sich einfach auf mich und drückt mich mit aller Kraft in die Matratze, vor allem jetzt im Winter. „Ich könnte schon wieder“, stöhnt er. Ich will nicht wirklich, ich will aufstehen, arbeiten, frühstücken, Forschertagebuch schreiben, meinen Alltag leben. Aber ich kann mich nicht zur Wehr setzen, er nimmt mir einfach den Kugelschreiber aus der Hand und presst sich fester an mich.
„Na gut, von mir aus.“ Wir einigen uns auf einen Quickie. Er dringt tief in mich ein und fickt mich.
Manchmal schaffe ich es, ihn abzuschütteln. „Geh duschen“, sage ich dann, „du stinkst.“
Wie gesagt, ich liebe ihn immer noch, und wir leben immer noch ganz gut miteinander. Wahrscheinlich ist unsere Beziehung besser als die der meisten, und trotzdem sehne ich mich nach unserer gemeinsamen Vergangenheit. Und ich muss zugeben, er ist nie eine ganze Nacht weggeblieben. Er weiß anscheinend auch, dass wir zusammengehören und ich bedeute ihm immer noch viel. Aber er ist unverlässlicher geworden, egoistischer. Er kommt und geht, wann er will.
Wenn es einmal länger dauert, lese ich ein bisschen, trinke heiße Milch mit Honig und warte, bis er wieder kommt und sich trunken an mich schmiegt. Kein Wunder, dass ich ihn in der Früh oft gewaltsam aus dem Bett werfen muss.
Da schaut er mich beleidigt und vorwurfsvoll an, während ich ins Kleid und die Strumpfhose schlüpfe.
„Geh noch nicht“, sagt er dann kleinlaut, „ich bin noch nicht fertig mit dir.“
Er ist ein Arsch. Aber ich liebe ihn. Und ich hätte so gern, dass er wieder ganz zu mir zurückkommt. Mein Mann, der Schlaf.
testsiegerin - 5. Dez, 21:13
the winner of the friday's trophy:
Eine dreiköpfige und sechsbeinige internationale Jury, bestehend aus einer Blonden, einer Rothaarigen und einer Schwarzhaarigen, hat tagelang getagt und beraten (o.k., zwischendurch haben wir auch ein bisschen gegessen), Argumente abgewogen und wieder verworfen, Listen erstellt und schließlich in geheimer Abstimmung folgende SiegerInnen gekürt:
The third place, the bronze-medal goes to...
Nömix for
Naked Lunch. Begründung der Jury: "Weil ich den Film so mag" und "weils so kurz ist".
La medaille d'argent pour la deuxieme place....
pour
Monsieur oeuf du mireur pour son
Banque de Sperme. Begründung der Jury: "So halt."
A N D . T H E . W I N N E R . I S . . .
Madame
Sternenstaub für
Wiedermal Spieleabend im Pfarrhaus. Begründung der Jury: "So schön böse!"
Madame Sternenstaub hat also die Ehre/Pflicht/Verantwortung/Bürde/Freude/Last, den nächsten Freitagstexter auszurichten.
Die internationale blond-schwarz-rote Jury bedankt sich auch bei allen anderen für die tollen Beiträge. Dabei ist alles!
testsiegerin - 27. Nov, 00:01
Handeln Sie erfahrungsgemäß!

testsiegerin - 22. Nov, 00:01
(weil ich da grad einen interessanten Text über Wahrheit und Lügen gelesen hab)
Ich glaube, die Bachmann hat sich geirrt. Die Wahrheit ist uns nicht zumutbar. Den anderen auch nicht. Wäre sie uns nämlich zumutbar, hätten Gott oder das Fliegende Spaghettimonster oder das Universum nämlich nicht die Lügen erfunden und Freud nicht die Verdrängung entdeckt. Wäre die Wahrheit den Menschen zumutbar, würde es keine Schriftsteller geben, die sich Geschichten mit Happy End ausdenken, mit denen sie uns aus der Realität entführen, in Träume sperren und mit Phantasie fesseln. Im Kino und Fernsehen würde es ausschließlich Dokumentarfilmer und Kriegsberichterstatter geben. Gut, das hätte was, die Verfilmung von fünfzig grauen Schatten würde uns so erspart bleiben.
Wäre die Wahrheit den Menschen zumutbar, würden sich Psychotherapeuten, Lebensberater und Coachs als Taxifahrer ihren Lebensunterhalt verdienen. Was gäbe das für ein Verkehrschaos!
Hätte die Bachmann Recht, gäbe es weder getönte Antifaltencremes noch Bauch-weg-unterhosen, sondern wir würden die hässliche nackte Wahrheit dem Spiegel, uns selbst und anderen zumuten.
Langjährige Freundschaften würden an flapsig Dahingesagtem zerbrechen und Ehen gar nicht erst eingegangen. Die paar Romantiker unter uns würden einander nicht nur ewige Treue versprechen, sondern auch schwören, immer und überall die reine Wahrheit zu sagen. Neben den Romantikern auch die Sadisten, die hätten nämlich ihren Spaß daran, unter dem Deckmantel der Wahrheit andere Menschen zu verletzen und ins Unglück stürzen. Die Masochisten würden „Ja, ich will“ hauchen und strahlend hinein rennen.
Ich weiß, die Bachmann hat das nicht so gemeint. Sie hat gemeint, dass wir den Schmerz nicht leugnen und seine Spuren nicht verwischen und über ihn hinwegtäuschen dürfen. Wir müssen ihn wahrhaben und wahrmachen, damit wir sehend werden. Die Bachmann hat gesagt, wir wollen alle sehend werden. Müssen wir? Wollen wir? Können wir?
Wo doch der Grat zwischen Wahrheit und Unwahrheit an manchen Stellen so schmal ist, dass wir keinen Halt darauf finden. Wo wir oft keine Wahl zwischen wahren und falschen Entscheidungen haben, sondern nur zwischen ein bisschen mehr oder ein bisschen weniger falschen. Und wie auch immer wir uns entschieden haben, am Ende sterben wir.
Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar. Vielleicht. Ich brauch meine blinden Flecken noch. Es gibt Situationen im Leben, da will ich manchmal nicht hin-, sondern wegschauen. Ganz bewusst.
testsiegerin - 8. Nov, 19:43
Ihr seid herzlich eingeladen!
toll3steweiber@gmx.at
www.toll3steweiber.at
testsiegerin - 3. Nov, 18:20
ich weiß nicht, warum ich grad die letzten Tage so viel an dich denke. Vielleicht, weil Allerheiligen und Allerseelen war und weil man da an die Verstorbenen denkt. Vielleicht aber auch, weil die E. gestorben ist und der Tod allgegenwärtig ist.
Tut mir leid, dass ich nicht auf dem Friedhof war. Ich mag Friedhöfe, aber nicht zu Allerheiligen. Und ich hab auf dem Friedhof nicht das Gefühl, dass du mir näher bist als sonst. Ein Friedhof ist ein Friedhof ist ein Friedhof, nicht mehr. Als Kind musste ich immer mit auf den Friedhof zu Allerheiligen. Den, auf dem nur Holzkreuze erlaubt sind, den fand ich irgendwie schön. Wo nicht einer den anderen selbst im Tod übertrumpfen will.
Gefroren hab ich meistens am Friedhof und mich ein bisschen gelangweilt. Später dann in Uniform „Ich hatt’ einen Kameraden“ mit dem Waldhorn gespielt, in der Musikkapelle. Das ist mir heute fast ein bisschen peinlich.
Ich würde jetzt gern mit dir einen Kaffee trinken. Aber nicht den aufgewärmten von in der Früh aus der Filtermaschine, ja? Obwohl... wenn ich so sparsam wäre wie du es warst, dann hätte ich ein paar Probleme weniger jetzt.
Weißt du, ich hätte dich grad gern hier. Nein, nicht zum Aufräumen, auch nicht zum Kekse und Kuchen backen, sondern einfach so. Das Kuchenbacken übernimmt grad deine Enkeltochter. Da stautnst du, oder? Einen Kuschelkuchen macht sie für ihren Bruder zum Geburtstag. Der ist beim Opa, wie jedes Jahr zu seinem Geburtstag. Bestimmt denken die zwei da auch an dich.
Eine tolle, junge, friedliebende und warmherzige Frau ist sie geworden, deine Enkeltochter.
„Ich stell mir vor, die Marzipanwürfel, die ich da hineinwerfe, sind kleine Wesen und sie verrecken“, hat sie grad gesagt und die Küchenmaschine eingeschaltet. Sie ist entzückend.
Aufräumen ist immer noch nicht so ihres. Da wünschte ich manchmal, diese Aufgeräumtheit hätte mütterlicherseits nicht zwei Generationen übersprungen. Obwohl... du hättest sie sehen sollen, wie eifrig sie letztens geputzt und aufgeräumt hat... Ja. Die Liebe. Nein, nicht die Rosi, die ist nur ihre beste Freundin, und die ist grad in Nicaragua und liebt einen Nicaraguaner. Deine Enkeltochter hat jetzt einen Freund aus Dänemark. Genau, einen Wikinger. Du würdest mit ihm zwar nicht reden können, weil er kein Deutsch spricht, aber ich glaub, du würdest ihn genauso ins Herz schließen wie wir.
Als du so alt warst wie sie, hast du schon ein Kind gehabt. Und bald danach das nächste, nämlich mich. Sie hat nur tageweise ein Kind, nämlich den lieben Sohn einer Freundin.
Die einzige Ohrfeige in ihrem Leben hat sie von dir gekriegt. Die haben wir dir aber längst verziehen, weil wir wissen, dass das keine Erziehungsmaßnahme war, sondern ein Zeichen der Erleichterung. Du hast sie nirgends gefunden und Panik gehabt, dass sie auf den Balkon geklettert ist. Im zehnten Stock. Und sie hatte Panik, weil sie im Badezimmer irrtümlich die Lüftung eingeschaltet und gedacht hat, sie hat was kaputtgemacht. Deshalb hat sie sich unter der Eckbank versteckt. Und du hast ihr dann aus lauter Erleichterung eine geschmiert.
Den Führerschein hat sie jetzt auch, beim zweiten Anlauf hat’s geklappt. Dein Enkelsohn nimmt demnächst auch wieder Anlauf für den Traktorführerschein, aber bitte sei nicht enttäuscht, wenn er es nicht schafft. Weißt du, er hat so viel geschafft in seinem Leben. Du wärst bestimmt stolz auf ihn, auch ohne Führerschein. Er arbeitet jetzt auf der Gemeinde. Grünflächenpflege. Wenn ich mit dem Auto vorbeifahre, wenn er Laub recht, strahlt er mich an. Er mag seine Arbeit gerne, wie er überhaupt alles gerne macht, was er tut. Ihm geht’s immer noch jeden Tag gut, weil ihm nichts einfällt, warum es ihm nicht gut gehen sollte.
Vor kurzem hat er sich eine Woche Urlaub genommen. Im Urlaub ist er noch früher aufgestanden als sonst und hat den Bauern bei der Kartoffelernte geholfen. Er hat mich beschämt mit seiner Antwort auf meine Frage, ob die ihn dafür bezahlen. „Ich brauch das Geld nicht“, hat er gesagt, „ich verdiene 800 Euro im Monat, das ist viel mehr, als ich brauche.“
Die Sparsamkeit hat er von dir, Mama. Ich lad ihn zum Geburtstag zum Sushi essen ein, das tun die Bauern nämlich nicht. Und zu Weihnachten wünscht er sich eine DVD. Ich glaub, sie heißt „Moderne Landtechnik im Einsatz“.
Großartige Menschen sind deine Enkelkinder geworden, obwohl wir sie nicht erzogen, sondern einfach geliebt haben. Mir ist es manchmal richtig peinlich, wenn andere Leute sich über ihre Kinder beklagen und mir fällt nichts Negatives ein.
Schade, dass du das alles nicht mehr erlebst. Blöd, dass da diese nasse Wurzel war, auf der du ausgerutscht bist. Ich tröste mich immer noch damit, dass du nicht gelitten hast. Weißt du, dass ich deine Hausschuhe, eines der wenigen Dinge, die ich mir damals von dir genommen hab, immer noch trage? Jetzt gehen sie schon ein bisschen aus dem Leim.
Wie es mir geht? Es geht mir gut. Ich hab immer noch den gleichen Beruf, den ich immer noch total mag, und mit deinem Schwiegersohn verhält es sich ähnlich. Ob er auch glücklich ist, weiß ich nicht, du kennst ihn ja, er ist kein Schwätzer. Außerdem muss er die Welt retten, und so wie die Welt grad beinander ist, ist das ganz schön viel Arbeit. Da hat er für solche Lappalien wie ein Gespräch über die Beziehung keine Zeit.
Ich schreibe sehr viel, Mamsch. Am Mittwoch hab ich wieder einen Auftritt. Ich stell mir dann vor, dass du im Publikum sitzt und stolz auf mich bist. Du wirst danach sagen „Ich hab ja keine Ahnung von Kunst“, aber es wird dir gefallen, glaub ich. Ah ja, und Theater spiele ich auch. Die freche Rotzgöre liegt mir am meisten. Na ja, jahrelange Übung.
Du hast es auch nicht immer leicht gehabt mit mir, wie? Und schau, trotzdem ist etwas geworden aus mir, auch wenn’s beim Dach reinregnet, die Schulden noch nicht abbezahlt sind und das Laub im Garten nicht gerecht ist. Aber was auf dieser Welt ist schon gerecht?
testsiegerin - 3. Nov, 14:12
(Kulinalyrisches in 5 Teilen)
1. Ouverture
Bruschetta
Im dritten Aufzug von Aida
kommt der kleine Hunger wieder
Drum dreht er die Musik nun leiser
und häutet einen Paradeiser
röstet dann das Knoblauchbrot
und gibt im ersten Morgenrot
Basilikum und Thymian
sowie Olivenöl daran
Beglückt die Begehrte im Bette
mit betörenden Bruschette
2. Zwischenspiel
Kostprobe
Nach Erde und frischem Brot
riechst du
nach unendlich Angekommensein
Nach Lust und Verlust
schmeckst du
und ich riskiere mich zu verlieren
Meinen Hunger auf Haut
stillst du mir
doch das Satt währt nur kurz
zu kurz
und führe mich in Versuchung
aber verschling mich nicht
3. Akt
Seezunge mit grünen Bohnen, Pfirsichen und Scampi
Marktfrisch die Liebe wie die Viktualien
Und unberührt noch Fleisch und Fisch
das eine auf, das and’re vor dem Küchentisch
mit Scampi und Gemüse aus Italien
„Die Zunge“, erklärt er voll Leidenschaft
während sie – nur leicht bekleidet
den fleischigen Pfirsich in Spalten schneidet
„liebt einen Hauch Zitronensaft“
Die Frau zählt zweiundzwanzig Lenze
Doch fasst sie mit geübten Händen
der Schalentiere schmale Lenden
und befreit die nackten Schwänze
Während er das Feuer schürt
Wird das Gemüse angeschwitzt
Was ihn jedoch viel mehr erhitzt
Ist wenn sie zärtlich ihn berührt
4. Libretto
Flambiert
Du schälst dich aus den Kleidern
reichst schweigend mir das Streichholz
die Wollust längst entflammt
die Leiber brennen
die Angst löschen wir
mit Nähe
später dann
zudecken mit Vertrauen
damit sie nicht auskühlt
die Liebe
5. Finale
Mousse au Chocolat
Im Wasserbad verschmelzen dunkle Rippen
der Schokolade, sündig und süß zugleich
Gierig berühren einander sehnende Lippen
werden Körper schmiegsam und weich
Es wird gelöffelt, geliebt und begehrt
da klopft der Tod an, mit seinen Gebeinen
und während dieser das Mousse verzehrt
genießen die Beiden seinen Bruder, den kleinen
(2007)
testsiegerin - 1. Nov, 09:22
Hättest du mich festgehalten, sagt das Blatt und fällt vom Baum.
Hättest du mich festgehalten, verglüht der Sommer und vergießt ein paar Krokodilstränen.
Hättest du mich festgehalten, beschwert das Unfallopfer sich beim Gurt, der nicht angelegt war.
Hättest du mich festgehalten, wirft der junge Mann seiner Mutter vor und kämpft mit seiner Unfähigkeit zu lieben.
Hättest du mich festgehalten, würde der Schlüsselbund im Gully denken, könnte er denken.
Hättest du mich festgehalten, sagt der Sterbende zum Leben. Vielleicht.
Hättest du mich festgehalten, der Ball zum Tormann, nach dem 0:4.
Hättest du mich Fest gehalten, sagt der einsame Geburtstag und bläst die letzte Kerze aus.
Hättest du mich manchmal fest gehalten, tippt die junge Frau in ihr Handy und löscht seine Nummer.
Hättest du mich nicht so festgehalten, sagt die ältere Frau vor dem Bezirksgericht.
testsiegerin - 30. Okt, 08:09