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Samstag, 19. Mai 2007

Haare

Haare. Haare. Und immer wieder Haare. Ich erinnere mich an Unmengen von Haaren, wenn ich an den Sommer bei Tante Ingrid denke. Schwarze, blonde, rote und graue.

Mein Vater hatte eine Glatze, aber das war in diesem August völlig egal, denn er lag zwei Meter unter der Erde auf dem Friedhof von Mühlbach. Meine Mutter lag mit einem gebrochenen Bein im zweiten Stock des Krankenhauses. Sie war ins Grab gefallen, als sie ihm „Du versoffenes Arschloch!“ hinterher gerufen hatte.

Zum Glück gab es Tante Ingrid. Sie schleifte mich zu sich nach Hause, zog den schwarzen Mantel aus und eine weiße Kleiderschürze an und ärgerte sich darüber, dass der Hut ihre Frisur zerdrückt hatte.
„Zum Spielen hab ich keine Zeit“, sagte sie, „ich muss nach der Mittagspause wieder das Geschäft aufsperren. Wennst magst, kannst den Holzkopf frisieren, Bub.“
Ich war überrascht. „Der Onkel Otto hat aber doch auch eine Glatze, so wie der Papa. Wie soll ich ihn da frisieren?“
„Ach Bub“, schüttelte die Tante den Kopf. Erst als wir im Friseursalon waren, verstand ich, was sie meinte. Dort stand nämlich ein Kopfmodell aus Holz, an dem die Lehrmädchen das Lockenwickeln lernten.

„Den nennen wir auch Onkel Otto“, flüsterte mir Agnes zu, die schon jede Menge Übung im Wickeln hatte. „Deine Tante weiß das aber nicht.“
„Natürlich weiß sie das“, schallte eine brummige Männerstimme durch den Salon.
Es roch nach feinen Damen, nach Dauerwellen und Trockenhauben. Und nach der Zigarre, die im Mundwinkel von Onkel Otto, dem ohne Holzkopf, eingeklemmt war. Mich wunderte, dass er mit dem Stumpen reden konnte, aber er hatte offensichtlich jahrelange Routine darin. Tante Ingrid hatte jedoch mindestens genauso viel Routine darin, ihm den Kopf zu waschen.
„Hier wird nicht geraucht, Ottilein“, sagte sie ihrem Gatten, „das ist nämlich mein Reich. Und tschüs!“ Mit diesen Worten zwängte sie den fetten Onkel durch die schmale Tür.

Auf die Dauer war es für einen Neunjährigen etwas fad, kleine Plastikröllchen in eine Kunstperücke einzuwickeln. Deshalb drückte mir Agnes einen großen Besen in die Hand.
„Hier gibt’s den ganzen Tag etwas zu fegen. Und dort drüben im Schrank ist der Schacht.“ Hinter der grauen Tür verbarg sich ein großes Loch, in dem sich die Haare der Kunden türmten.
Als Agnes und Tante Ingrid im Hinterzimmer Kaffee tranken, wühlte ich im Schacht nach den dichten blonden Haaren von Frau Paltram. Die Frau Paltram war meine Lehrerin, und wenn ich ihr während des Unterrichts über den seidigweichen Kopf streicheln wollte, klopfte sie mir mit dem Lineal auf die Finger und meine Mitschüler lachten mich aus.
Mama hatte auch blondes Haar, doch das war strähnig und fettig. Während ich so wühlte und fühlte, geriet mir etwas kleines, hartes zwischen die Finger. Ein Ring. Verstohlen blickte ich mich um, aber niemand hatte mich beobachtet. Ich ließ meinen Fund schnell in der Hosentasche verschwinden und verzog mich aufs Klo.
Ein Siegelring war das. Er passte genau auf meinen Mittelfinger, also gehörte er bestimmt einer Frau. Auf dem dunkelblauen Stein prangte in silbernen Initialen: G.P. - Gundula Paltram! Mir wurde warm.
Ich strich behutsam über den Stein und konnte dabei ihre Stimme hören. Schneiden, Waschen und Legen, Frau Ingrid. Ich drückte einen Kuss auf den Ring.
„Aber nein, Frau Paltram. Hier kommt gewiss nichts abhanden. Und Sie sind sicher, dass Sie ihn hier verloren haben? Hm, hm. Ja. Ich werde alles durchsuchen. Ja doch. Ja. Auf Wiederhören, Frau Paltram.“

Tante Ingrid trommelte ihr Personal zusammen. Sogar Onkel Otto durfte und musste in den Salon kommen. Silberner Siegelring. Lapislazuli. Initialen G.P. Die Fahndung lief auf Hochtouren. Und die leitende Kommissarin kniete höchstpersönlich vor dem haarigen Grab. Nach einer halben Stunde bestand ihre Ausbeute aus einem Hosenknopf, zwei Haarklammern und einem benutzten Kondom. Ein finsterer Blick traf Agnes, die am Abend immer das Geschäft abschloss.
Ich bilde mir noch immer ein, dass Onkel Otto in seiner Ecke errötete, als er sich eine Zigarre ansteckte.
Wenn ich jetzt den Ring aus der Hosentasche zog, würde ich als Dieb dastehen, als Taugenichts. Wenn ich ihn drin ließ, war ich einer. Der Sohn eines Nichtsnutzes. Tante Ingrid würde mich hinausschmeißen und ich müsste unter der Brücke am Mühlbach schlafen. Meine Mama würde sich vor lauter Gram auch das zweite Bein brechen.
Als sich alle im Herrenstudio tummelten, schlich ich unbemerkt in den Damensalon. Ich krabbelte über den Fußboden und schnippste den Ring unter einen der Frisierstühle. Dann sprang ich auf und flitzte wie ein Pfitschipfeil durch den ganzen Laden. „Ich hab ihn gefunden! Hurra!“
Tante Ingrid strich mir stolz über den Kopf und Agnes drückte mich an ihren Busen. Wahrscheinlich hatte sie Angst gehabt, dass sie erst nach Hause gehen durfte, wenn der Ring gefunden worden war. Ihre Motivation beschäftigte mich in diesem Augenblick aber nicht, Hauptsache, mein Gesicht war zwischen ihren warmen Brüsten.
„So ein braver Bub“, waren sich alle einig. Erst jetzt bemerkte Tante Ingrid den Qualm, nahm Onkel Otto die Zigarre aus dem Mund und hielt sie unters Wasser.
Und weil ich so ein braver Bub war, durfte ich den Ring mit einem langen Draht unter dem Stuhl hervorangeln. Dann griff mich die Tante bei der Hand und sagte: „Jetzt fahren wir beide zur Frau Paltram. Die wird staunen, wie tüchtig zu bist.“
Ich kletterte zu ihr ins Cabrio, einen Volkswagen 1600 Karmann Ghia. Noch heute kriege ich feuchte Hände, wenn ich so einen Wagen sehe. Tante Ingrid gab Gas. Der Motor heulte auf und mein Herz klopfte.

Die Frau Paltram saß im Garten, trank Pfefferminztee und las. Sie trug ein kurzes Kleid mit großen Veilchen drauf und ihre Beine lagen ausgestreckt auf einem Stuhl. Als sie uns sah, legte sie ihr Buch zur Seite und brachte Gläser und Kekse. Ich öffnete die Faust und sie schaute auf den Ring. Und dann strahlte sie, wie ich sie noch nie hab strahlen sehen. „Das ist aber lieb von dir, Gusti. Dafür darfst du dir was wünschen von mir.“
Jetzt wurde ich rot, denn am liebsten hätte ich mir gewünscht, endlich ihre Haare streicheln zu dürfen, oder dass auch sie mich an ihre Brust presste, aber das ging natürlich nicht. Auch eine gute Schulnote konnte ich mir schlecht wünschen, das war ihr bestimmt nicht erlaubt. Und so fand ich es fast schon ein bisschen gemein, dass ich mir selbst eine Belohnung ausdenken musste. Einerseits durfte ich nicht unverschämt sein, andererseits wollte ich mich nicht mit einer Kleinigkeit zufrieden geben.
„Am dringendsten braucht er gescheite Unterwäsche“, fiel mir die Tante ins Wort, noch bevor ich überhaupt eines von mir gegeben hatte.
Hätte Tante Ingrid gesagt, dass ich mir eine Spielzeugeisenbahn wünsche oder sogar ein Buch, hätte ich freundlich geschaut und mich artig bedankt. So aber blitzten meine Augen zornig. „Das ist nicht wahr! Ich will keine Unterhosen. Was ich mir wirklich wünsche ist, dass Sie mich adoptieren, Frau Lehrerin“, platzte es mir in der Aufregung heraus.
Tante Ingrid verpasste mir eine Ohrfeige und Frau Paltram begann bitterlich zu weinen. Erst am nächsten Tag erfuhr ich, warum.

Auf dem Rückweg klopfte der Motor und ich heulte. „Hör auf zu flennen, du frecher Bengel“, sagte die Tante ein halbes Dutzend Mal zu mir, aber den Gefallen tat ich ihr nicht. Im Gegenzug steckte sie mich ohne Abendessen ins Bett, was nicht so schlimm war, weil mir der Appetit ohnehin vergangen war.
Ich nahm mir vor, das ganze am nächsten Morgen in einen Hungerstreik umzuwandeln.
Als ich wach wurde, stand Tante Ingrid längst schnippelnd, lockenwickelnd und fönend in ihrem Salon. Onkel Otto saß mit der Zigarre im Mund und der Zeitung in den Händen am Küchentisch. Er nickte mir freundlich zu, wobei ihm eine Portion Asche auf den Sportteil rieselte.
Angesichts des gezuckerten Marmeladekrapfens vor mir setzte ich den geplanten Hungerstreik kurzfristig aus und biss in das duftende Gebäck.
„Adoptiert willst werden von der Lehrerin?“ Es war das erste Mal, dass Onkel Otto mich direkt ansprach.
Ich schwieg, erstens, weil es mir peinlich war und zweitens, weil man mit vollem Mund nicht spricht. Es war ihm aber ohnehin egal, ob ich antwortete oder nicht.
„Die wollte eh immer Kinder, aber sie kann keine eigenen kriegen.“
Da war sie wieder, die Hoffnung. Möglicherweise wäre Mama ganz froh, mich loszuwerden. Oft hatte sie sich beklagt, dass sie sich einen Haufen Geld und noch einen größeren Haufen Ärger erspart hätte, ohne Mann und Kind. Ohne Mann war sie ja nun.

„Und jetzt trink deinen Kakao aus, Gusti. Wir fahren ins Spital. Du hast nämlich schon eine Mama, vergiss das nicht.“
Er strubbelte mir mit seinen Zigarrenfingern durch die Haare. Aber irgendwie begann der Geruch mir zu gefallen und mein Onkel auch. Im Gegensatz zu meiner Tante drehte er im Auto sogar das Radio an.
“Shalala-Lala-Lalala”, schmetterten wir gemeinsam mit Tony Christie auf seinem Weg nach Amarillo. Bei Am Tag als Conny Kramer starb summten wir leise mit und verstummten, als wir uns der Unfallstelle näherten, an der das Blaulicht von Polizeiwägen unablässig aufblitzte.
Onkel Otto blieb stehen und stieg aus. Um herauszufinden, ob es lange dauert, wie er versicherte. Ich glaube, er war einfach neugierig.
„Um Gottes Willen.“ Er ließ sich auf den Fahrersitz plumpsen und zitterte. Ich traute mich nicht zu fragen und hielt mein Plastiksackerl mit beiden Händen umklammert. Haare waren da drin, für die Mama. Sie hatte mal erwähnt, sie hätte gern schwarzes langes Haar. Ich hab sie heimlich aus dem Schacht geholt, die Haare, um ihr eine Freude zu machen.
„Ein hellblauer Käfer“, stammelte mein Onkel jetzt. „Der schaut schlimm aus.“
Die Frau Paltram, schoss es mir durch den Kopf, die fährt so einen hellblauen Käfer. Natürlich fuhren damals Millionen Menschen ein solches Modell, aber um all diese wildfremden Leute machte ich mir gar keine Sorgen.
„Weiterfahren, bitte", dirigierte uns ein Polizist an der Unfallstelle vorbei. Ich verrenkte mir im Vorbeirollen den Hals, aber ich konnte nichts erkennen.

Als wir im Krankenhaus ankamen, war ich immer noch wie betrunken vom Schreck, obwohl ich damals natürlich noch nicht wusste, wie man sich fühlte, wenn man betrunken war. Ich wusste bloß, wie es war, wenn mein Vater betrunken war. Es stank, es war laut und manchmal tat es weh.

Onkel Otto ließ mich alleine ins Krankenzimmer gehen. Ich strahlte Mama durch meine Zahnlücke an, so glücklich war ich, als sie mich umarmte. Sie duftete nach Gips und nach Krankenhaus. Jetzt schämte ich mich dafür, dass ich heute früh noch adoptiert werden wollte. „Wenn ich wieder zu Hause bin, fangen wir ein neues Leben an“, sagte Mama fröhlich und lachte über die schwarzen Haare.
Wenig später kam Onkel Otto ins Zimmer. Er drückte Mama einen Kuss auf die Wange und eine Flasche Traubensaft in die Hand. In dem Moment öffnete sich die Tür und ein Bett wurde herein geschoben.
„Ah, endlich etwas Gesellschaft“, freute sich meine Mutter.
In dem Bett lag eine Frau mit zwei eingegipsten Beinen und einem monströsen Kopfverband. Sie schluchzte fürchterlich und die Krankenschwester redete beruhigend auf sie ein. „Aber Frau Paltram, die Haare wachsen doch wieder nach. Wir mussten sie abrasieren, damit wir die Wunde nähen konnten.“

*

Versonnen stecke ich die blonde Strähne wieder in den Briefumschlag und streiche über meine Glatze. Es war der August 1972. Haare, Haare, nichts als Haare.

Freitag, 18. Mai 2007

Kirschkernküssen

Kiloweise Kirschenkerne
aß Kurt-Konrad, liebend gerne
und hockte hinterm kahlen Strauch
Ob ein Kirschbaum wächst im Bauch
wollt’ der kleine Knabe wissen
Die Kerne hat er ausgeschissen

Käthe Kurz aus Kotezicken
die Kröte mit den kecken Blicken
hat die Kerne nicht geschluckt
sondern über’n Zaun gespuckt
Ein besonders dickes Stück
traf Konrads Kopf – was für ein Glück!

Es war nicht Zwetschke und nicht Nuss
wo’s Jahre später kam zum Kuss
auch nicht am Kaktus mit den Feigen
Sie küssten unter Kirschbaumzweigen
und Käthes kecke Backen glühten
während Kirschbaumblüten blühten

Kurt Konrad backte Kirschenkuchen
man hörte Käthchen keifend fluchen:
„Ich hab auf einen Kern gebissen!“
(Der kranke Zahn ward’ ausgerissen.)
Die Käthe rief: „Ein Kirschkomplott!“
weigert seitdem sogar Kompott

Kurt Konrad schmerzt das Kreuz, das Knie
er kränkelt, keucht, und krächzt wie nie
Sein Körper, der wird krumm und krummer
das macht der Käthe großen Kummer
Drum pflückt sie Kirschen, Tag für Tag
Obwohl sie Kirschen nicht mehr mag

Sie lutscht die Kerne, und für ihren Manne
spuckt kraftlos sie die in die Kupferkanne
Vorm Kirchgang näht mit dicken Bäckchen
sie lauter kleine Kirschkernsäckchen
So kommt’s, in kühler Vollmondnacht
zur heißen Kirschkernkissenschlacht

Sonntag, 29. April 2007

Kein Liebesgedicht

Die Himbeere rot und süß
hat nichts mit dir zu tun
das Gras zwischen meinen Zehen
auch nicht
schon gar nicht der Wind
der heimlich mit der Sonne
unter meinen Rock schlüpft

So viel Macht hast du nicht
über mein Leben

Ich schaue dem Schmetterling nach
der deinen Namen in die schwüle Luft malt
meine Hand folgt dem Wind
und die Himbeere
fällt auf meinen Bauch

Mein Lächeln hat nichts
aber auch gar nichts
mit dir zu tun

Donnerstag, 26. April 2007

Sonnenblumen und Rosmarin

Luzia erschrak, als sie den Briefumschlag mit dem Trauerrand aus dem Postkasten nahm. Erst als sie die Sonnenbrille abnahm, erkannte sie, dass der Rand nicht schwarz, sondern weinrot war. Was hatte das zu bedeuten?
Mit dem Zeigefinger riss sie noch im Stiegenhaus das Kuvert auf. Sie setzte sich auf die Stufen und strich das Blatt Papier glatt.
Ein Partezettel, ebenfalls mit dunkelroter Umrahmung und mit dem Namen ihrer Freundin drauf. Beate Schwimmer. Nein, bitte nicht. Lieber Gott,wenn es dich gibt, lass das nicht wahr sein. Das ging ja gar nicht, fiel ihr ein, ich hab doch heute Vormittag noch mit ihr telefoniert. Hatte sich jemand einen bösen Scherz erlaubt?

Anstatt des Kreuzes eine Sonnenblume. Rechts oben, wo für gewöhnlich die tröstlichen Worte standen, die die Angehören aus der Vorlagenmappe des Beerdigungsinstituts ausgewählt hatten, stand:
Non, je ne regrette rien. Rien de rien. (Edith Piaf).
Und für die, die kein französisch verstanden, die Übersetzung: Nein, ich bereue nichts.

Luzia zitterte und las. Atmete tief ein und erleichtert aus. Beate selbst lud zum Abschiedsfest. Am Samstag in zwei Wochen. Im Schlosspark. Abschied? Hatte sie vor, länger zu verreisen?

Liebe Freunde, liebe Verwandte, schrieb Beate,
ich hoffe, ich habe euch nicht erschreckt. Wenn doch, dann tut es mir leid. Es geht um folgendes: Ich werde sterben. Ich weiß, ihr werdet alle zu meinem Begräbnis kommen, um euch von mir zu verabschieden. Sogar du, Onkel Jeff, wirst aus Irland anreisen. Und du, Peter, aus Heidelberg. Es ist nur so: Ihr werdet einander dann zwar sehen, um mich weinen und euch über mich unterhalten, aber ich werde nicht dabei sein. Also dabei sein werde ich schon, aber ich werde nicht mitweinen können, nicht mitlachen. Nicht mitsaufen, obwohl Jeff diesen fantastischen irischen Whiskey mitgebracht haben wird.
Ich werde die salbungsvollen Worte des Pfarrers nicht hören, sondern ein paar Meter (six feet, oder?) unter der Erde anfangen zu vermodern.
Um die Worte des Pfarrers tut es mir nicht leid, der kennt mich ohnehin nicht, weil ich nie in der Kirche war. Aber ihr seid mir wichtig. Ich hätte euch so gern noch einmal alle hier bei mir. In meinen Armen, an meinem Tisch, in meiner Nähe. Zu meinem nächsten runden Geburtstag wärt ihr vielleicht auch alle gekommen, um ein halbes Jahrhundert Beate mit mir zu feiern, aber bis dahin sind es noch neun Jahre.
Ja, ich will, dass ihr mir die Blumen schenkt, so lange ich noch lebe. Ich will, dass ihr euch zu meinen Lebzeiten für mich schön macht.
Darf ich mir etwas wünschen von euch?
Also passt gut auf: Von dir Michaela und von dir Elisabeth, meine lieben Schwestern, wünsche ich mir, dass ihr euch spätestens bei meinem Abschiedsfest versöhnt. Legt endlich eure Sturheit ab und tut das, wonach ihr euch sehnt, dass es die andere tut. Schließt euch in die Arme und verzeiht einander.
Mit dir, Susanne, möchte ich zu Gloria von Patti Smith tanzen, vor dem Schlossbrunnen. Und du, Brigitte, kriegst du das bis zum übernächsten Samstag hin, es zu singen? Jesus died for somebody else, not for me ...
Das will ich so sehr.
Den Wein besorg ich selber, Uwe, sonst kommst du wieder mit diesem billigen, grausigen Fusel angetanzt. Tante Ingeborg, du bring bitte Nusstrudel mit, mit ganz viel Fülle und ganz wenig Teig. Du weißt ohnehin, wie ich ihn gern habe.
Von allen, die gerne möchten, besonders aber von dir, Luzia und von dir, Hermann, wünsche ich mir einen Nachruf. Einen richtig schön-schaurigen, witzigen, schwarzen, ehrlichen Nachruf. Einen, wo alle anderen zu heulen anfangen. Heißt ein Nachruf zu Lebzeiten überhaupt Nachruf? Na gut, eine Laudatio halt. Aber wer weder den Pulizter-Preis noch den Oscar verliehen bekommt, der kriegt halt normalerweise keine Laudatio.
Ach ja, noch eine letzte Bitte. Kein Wort über den Tod und meine Krankheit. Weder zu mir noch untereinander. (Ich weiß, das wird schwer für dich, Elli.) Ihr wisst, wie sehr ich es hasse, übers Kranksein zu reden.
Ich freu mich auf euch, meine Lieben.
Eure Beate


Luzia schluckte. Puh. War Beate übergeschnappt? War sie tatsächlich todkrank, obwohl sie aussah wie das blühende Leben? Warum wusste sie das als beste Freundin dann nicht? War etwa alles ein Scherz, und das mitten im Sommer? Man scherzte nicht mit dem Tod, dachte Luzia und hörte Beates unausgesprochene Antwort: Man vielleicht nicht, ich schon. Luzia griff nach ihrem Handy, legte es aber gleich wieder zur Seite. Wenn Beate betonte, sie wolle nicht über die Krankheit, welche auch immer, sprechen, dann meinte sie es auch so. Beate war die hartnäckigste Frau, die sie kannte. Und die konsequenteste. Dass sie einen schweren Hang zum Morbiden hatte, überraschte Luzia nicht wirklich.
„Alles in Ordnung?“, fragte der Nachbar, der sich an ihr vorbeischwindelte.
„Keine Ahnung.“
War es nicht eigentlich egal, warum Beate sich dieses Fest wünschte? Zählte nicht allein die Tatsache, dass sie das tat? Und hatte sie, Luzia ihr nicht ewige Freundschaft und Treue geschworen, damals, als sie am Waldbach einen Stausee gebaut hatten, vor tausend Jahren?

„Ich möchte einen Kranz bestellen“, sagte Luzia ein paar Tage später zum Blumendealer ihres Vertrauens.
„Mein Beileid“,kam es wie aus der Pistole geschossen, „wer ist denn gestorben?“
„Noch niemand.“ Mit verschränkten Armen signalisierte Luzia, dass sie keine Lust auf ein Schwätzchen hatte.
„Was darf es denn sein? Rosen? Lilien? Gerbera?“
„Sonnenblumen. Dazwischen Rosmarin, Salbei und Minze.“
„Ähm...“ Als er Luzias bestimmten und unnachgiebigen Blick sah (den hatte Beate ihr beigebracht) nickte er. „Marokkanische Minze oder Apfelminze?"
„Marokkanisch klingt gut. Und ein bisschen Gras.“ Er schaute sie fragend an und sie flüsterte verschwörerisch: „Marihuana, Sie wissen schon.“ Er lächelte und wusste.

Der Nachruf war beinahe fertig. Mehr als eine Woche lang hatte sie jede freie Minute daran herumgestrichen, hinzugefügt, ausgebessert, gefeilt. Und trotzdem würde er nicht gut genug sein. Nicht gut genug für Beate.
Was sollte sie anziehen? Bei einer Hochzeit durften die Gäste nicht schöner sein als die Braut. Galt das bei einer Trauerfeier auch? Aber Beate hatte ausdrücklich darum gebeten, sich schön zu machen. War schwarz angebracht? Oder gar weiß? Luzia entschied sich für ein knielanges, türkisfarbenes Sommerkleid. Das passte auch wunderbar zum Kranz, denn ihn zierte eine Schleife aus Seide, ebenfalls in türkis. Ich bereue auch nichts, stand mit sichtbaren, gestickten Goldbuchstaben darauf. Und mit unsichtbarer Tinte: Schon gar nicht, deine beste Freundin zu sein.

Die Sonne knallte vom Himmel und die Luft flirrte in der Hitze. Zum Glück spendete die riesige Rotbuche Schatten. Die Tische waren mit Köstlichkeiten gedeckt. Es gab Griechisches Zitronenhuhn mit Rosmarinkartoffeln, das hatte Onkel Paul in seinem Restaurant gekocht, und natürlich gab es auch all die anderen Lieblingsspeisen von Beate und ihren Freunden. Und zwei Meter Nussstrudel von Tante Ingeborg. Viel Fülle, wenig Hülle.
„Tschuldigung, darf ich ein bisschen Minze aus dem Kranz zupfen, für die Bowle?“, zwitscherte ihre Arbeitskollegin und auch der Kollege zupfte, rollte das Gezupfte in ein Paper und inhalierte.

Beate trug ein tief dekolletiertes, langes Leinenkleid in Sonnenblumengelb und war wunderschön.
„Dürfen wir wenigstens weinen?“, wollte ihr Ex-Mann wissen und sie drückte ihn an ihre Brust. „Vor fünfzehn Jahren hättest du heulen sollen“, schnappte sie, „da hätte ich vielleicht rechtzeitig gemerkt, dass du zu Emotionen fähig bist. Nimm dir noch ein Glas Chardonnay, ja?“, zwinkerte sie. „Aber pass auf, dass deine Frau das nicht merkt. Übrigens, hast du Michaela und Elisabeth gesehen?“
„Deine zerstrittenen Schwestern? Wahrscheinlich duellieren sie sich im Schlosshof!“

Brigitte sang eine Zwanzigminuten-Version von Gloria und trotz des lauen Abends bekamen die Gäste Gänsehaut. Bei den dreiundzwanzig Nachrufen, einer schöner und gefühlvoller als der andere, wurde geschluchzt, gelacht und gewiehert. Der allerschönste kam natürlich von Luzia. Er enthielt alle jugendlichen und gar nicht mehr jugendlichen Schandtaten, strich liebevoll über Beates Macken und Perversionen und endete mit „der liebenswertesten und altruistischsten Egoistin, die ich kenne.“
Jeder schenkte Beate etwas ganz Besonderes. Ein selbstgemaltes Bild, ein selbstgeschriebenes Gedicht, selbstgefädelte Ketten und selbstverfasste Liebeserklärungen.
Onkel Paul jonglierte mit fünf reifen Mangos, Gertrud steppte zu "Singing in the Rain" und Jeff öffnete die dritte Flasche Jameson Gold. Sláinte!

Trunken vor Glück und Alkohol lehnte Beate sich an Thomas, an der einen Hand hielt sie Stefan, an der anderen Georg. „Ich liebe euch alle“, lallte sie. „Und jetzt, wo ich auch weiß, wie sehr ihr mich liebt, werde ich mir das mit dem Sterben noch einmal überlegen.“
Die Leute verstummten und Patrizia legte die Gitarre zur Seite. Es war das erste Mal an diesem Abend, dass jemand eines der verbotenen Wörter in den Mund genommen hatte.
„Auf’s Leben“, erhob Beate ihr Glas. „Prost.“

Als ihre beiden Schwestern gemeinsam und strahlend das Geschirr weggepackt und sich die letzten Gäste umarmungsreich verabschiedet hatten, nahm Luzia Beate an der Hand. „Lass uns im Mondschein spazierengehen.“ Sie wanderten am Schloss vorbei, am kleinen Teich, an den beiden Reiterstatuen. Sie rochen Wilden Jasmin, reife Himbeeren und die klare Nacht. Sie fühlten die Nähe der anderen.
Gerne hätte Luzia die Frage gestellt, die ihr die ganze Zeit durch den Kopf spukte, aber sie schluckte sie tapfer hinunter. Beinahe hätte sie vergessen, dass Beate verschluckte Gedanken lesen konnte, als diese mit klarer Stimme sagte: „Ja, ich muss sterben. Früher oder später. Wie du auch.“

Dienstag, 24. April 2007

Summer of Seventy-two

Ich war zehn. Gerlinde war auch zehn. Es war ein heißer Augusttag und wir saßen auf einem Baum im Park, wie so oft.
„Ich kann nicht mehr deine Freundin sein“, hat Gerlinde gesagt und mir hat es mein junges, unschuldiges Herz zerrissen. Erst ein paar Tage zuvor hatten wir Pläne geschmiedet. Eine Riesenrutsche wollten wir bauen, vom Hochhaus zur Schule, direkt durchs Fenster rein in die Klasse, wir hatten uns nur noch nicht einigen können, von welchem Stock aus wir starten würden. Ich wohnte im zehnten, in der Hausmeisterwohnung, sie im siebenten.
„Warum können wir keine Freundinnen mehr sein?“, hab ich gefragt und daran gedacht, dass wir ja so gerne einmal mit einem Flugzeug fliegen wollten. Auf einer besonders weichen Wolke würden wir aussteigen und ein Schaumbad nehmen, und von der Nachbarwolke würden wir naschen. Eine andere Freundin hatte uns nämlich erzählt, es gäbe Schaumbadwolken und Zuckerwattewolken. Daraus sollte nun nichts werden?
„Du gehst ja ab nächste Woche ins Gymnasium“, hat sie gesagt und vom Apfel abgebissen, „da können wir keine Freundinnen mehr sein, weil du was Besseres bist.“
Ich schämte mich. Verdammt, ich wollte nichts Besseres sein. Ich konnte doch nichts dafür, dass ich Klassenbeste war und die Lehrerin meinen Eltern empfohlen hat, das Gymnasium zu besuchen. Ich wollte im Apfelbaum sitzen und Waterloo und Robinson hören und nicht dieses Waterloo erleben. Luftschlösser und Luftrutschen wollte ich bauen und auf der Luftrutsche in die Schule düsen und nicht mit dem Bus ins Gymnasium. „Wenn ich das gewusst hätte“, hab ich geflüstert, „dann hätte ich den letzten Aufsatz verhaut.“
Es half alles nichts mehr. Gerlinde kletterte vom Baum, sagte „Tschüs, mach’s gut“ und das war es. Das Ende unserer Freundschaft, obwohl wir im selben Haus wohnten.

Fünfunddreißig Jahre ist das jetzt her, aber noch immer gibt es mir einen Stich, wenn ich an die Apfelbaumszene denke.
Und im Moment denke ich wieder sehr heftig daran. Denn endlich – für mich vierzig Jahre zu spät – wird über die Gesamtschule aller sechs- bis vierzehnjährigen diskutiert. Und die konservative Elite und die, die sich dafür halten schreit auf! Es kann doch nicht sein, sagen sie, dass unsere hochbegabten, gutsituierten Kinder mit der Unterschichtsbrut die Schulbank drücken. Das ist Nivellierung nach unten, brüllen sie. Schließlich darf den Privilegierten nicht das Privileg abhanden kommen, bessere Bildungschancen zu haben als die weniger Privilegierten, die Armen und die MigrantInnen. Wo kommen wir denn da hin? Es kann doch nicht sein, dass jeder so gefordert und gefördert wird, wie es für ihn gut ist, unabhängig von Einkommen und Herkunft?
(Nivellierung nach unten haben übrigens auch die Eltern der Integrationsklasse unseres Sohnes befürchtet, als diese erstmals eingeführt wurde. Vier Jahre später hat keiner mehr etwas gesagt. Weil auch die nicht ganz so klugen Eltern gemerkt haben, dass das Leistungsniveau ein hohes war, und dass die Kinder neben Wissen auch Toleranz und sozialen Umgang mit behinderten Kindern gelernt haben. Weil sie bemerkt haben, dass das Wissen der Kinder gefestigt wurde, indem sie es an schwächere Schüler weitergegeben und diesen geholfen haben.)

Ja, ich weiß, unser jetziges System ist ursuper, und Pisa nur eine Stadt mit einem schiefen Turm, der nichts mit unserem Bildungssystem zu tun hat. Selbstverständlich hat auch die Tatsache, dass es in den Ländern, die in der Pisa-Studie vorne liegen, wie zum Beispiel Finnland, Gesamtschulen gibt, überhaupt keinen Einfluss auf das Abschneiden der Schüler.

Was hilft mir das alles?
Ich habe mich nie getraut, während eines Fluges auf den Wattewolken aus dem Flugzeug auszusteigen. Auch die Super-Rutsche habe ich nie gebaut. Nicht ohne Gerlinde.

Montag, 23. April 2007

Scherben.gedicht

Vorsichtig balanciere ich
über das Trümmerfeld
der gebrochenen Herzen
verlassener Dichter
und verletzter Autoren

Beruhigt atme ich durch

Mir kann das nicht passieren
Mir nicht
Etwas so weiches
kann gar nicht zerbrechen

Sonntag, 22. April 2007

Tränen der Rührung

Meine Tochter musste als Hausaufgabe eine Personenbeschreibung abliefern. Mit ihrer freundlichen Genehmigung stelle ich das Ergebnis hier herein.

Eine Person aus meiner Verwandtschaft, die ich besonders schätze

Meine Mutter heißt Barbara und ist im Moment 44 Jahre alt (das ändert sich aber jährlich). Sie ist 162 Zentimeter groß. Ihre Haare sind kinnlang und rot gefärbt. Zwei Narben befinden sich in ihrem Gesicht. Eine über der rechten Augenbraue und die andere am Kinn. Da meine Mutter schon immer sehr tollpatschig war – und dies immer noch ist – ist auch der Rest ihres Körpers mit Narben übersät.
Ihre Kleidung ist meist schlicht, manchal takelt sie sich aber auch richtig auf, zum Beispiel, wenn sie auf Lesungen geht. Auf ihre eigenen, versteht sich. Denn meine Mama ist auch Autorin. Aber hauptsächlich arbeitet sie als Sachwalterin. Das ist eine gesetzliche Vertretung geistg behinderter Menschen. Sie übt diesen Beruf schon lange aus, mittlerweile seit 14 Jahren. Davor war sie drei Jahre lang im Gefängnis. Dort hat sie meinen Vater kennengelernt.
Ihre Haltung ist aufrecht, ihr Gesichtsausdruck meist gelassen und freundlich. Meist. Die Stimme klingt angenehm, außer wenn sie schreit. Sonst würden ihr auch nicht so viele Leute gern zuhören.
Besonders gern isst sie ihre Spaghetti in der Badewanne mit einem Gläschen Sekt. Das erste, das sie macht, wenn sie aufsteht ist, dass sie den Computer einschaltet. Ihr Computer ist ihr im Allgemeinen ziemlich wichtig, denn auf ihm schreibt sie ihre Geschichten.
Barbara ist sehr offen, auch in Bezug auf andere Personen.
Ihre Hobbies sind lesen, schreiben, ausspannen, lang schlafen und Wein oder Sekt trinken. Meine Mama ist schlagfertig und vorlaut, das habe ich wohl von ihr. Sie hört auch in etwa die gleiche Musik wie ich, wie zum Beispiel Robbie Williams oder Mika.

Am meisten verbindet mich mit ihr, dass sie meine Lieblingsmutter ist und ich ihre Lieblingstochter (auch die einzige) bin. Ihre Zukunftspläne ... ähm ... sie möchte mit ihren Geschichten berühmt werden. Und alt. Sportlich will sie auch bleiben, sie geht nämlich sehr oft walken oder laufen.
Neben mir hat sie noch ein zweites „Kind“, meinen älteren Bruder. Verheiratet ist sie mit meinem Vater.
Uns verbinden aber sehr viele Dinge und wir sind uns in den meisten Dingen einig. Wie beim Thema Gewand, Männer oder andere Leute. Ich mag ihre Freunde (von denen reichlich vorhanden sind) und sie meine.
Wenn sie sehr aufgeregt ist, sieht man ihr das meistens nicht an. Aber sie will dann nicht irgendetwas gefragt oder vollgelabert werden. Schwer bei einer Tochter wie mir.

Wie aus dem Text bereits hervorgegangen ist, habe ich ein sehr gutes Verhältnis zu meiner Mutter. Und darauf bin ich sehr stolz. Es haben nicht viele das Glück, so eine Mutter zu haben, mit der man über (fast) alles reden kann. Ich weiß, das hört sich jetzt ziemlich kitschig an, aber es ist wahr.
Ich hoffe, es bleibt noch lange so, wie es im Moment ist.

Danke, Mama.


So, und hier ist die Revanche

Eine Person aus meiner Verwandtschaft, die ICH besonders schätze

Meine Tochter ist vierzehn. Und eigentlich würde ich mir wünschen, dass sie das noch lange bleibt, weil sie einfach voll gut drauf ist. Aber das wird sie mit 15 auch noch sein und mit 18 hoffentlich auch und vielleicht sogar mit 95. So alt wird sie nämlich, das hat Lebensprognose.de für sie errechnet.
Das Fräulein hat einen coolen Haarschnitt (wir mögen nämlich nicht nur die gleichen Männer, sondern auch den gleichen Friseur) und eine Brille, die sie nie haben wollte, die ihre schleimgrünen Augen (Eigendefinition) aber noch grüner leuchten lässt. Zum Glück hat sie entdeckt, dass gut sehen und gut aussehen durchaus Hand in Hand gehen können. Die rosarote Brille hat sie längst abgelegt, sie begegnet den Leuten und dem Leben zwar offen, aber mit einer gehörigen Portion Misstrauen.
Am liebsten trägt sie Jeans. Eine eigentlich nur, und wenn die in der Wäsche ist, haben wir eine unserer wenigen Krisen, weil die Waschmaschine nicht schneller wäscht und die Sonne nicht schneller trocknet und die Mutter daran schuld ist. Sie hätte gern eine zweite Jeans, aber sie hat keine Lust, einkaufen zu gehen.
Da sie seit Jahren tanzt, bewegt sie sich sicher und geschmeidig und scheint sich in ihrem Körper – zumindst für eine pubertierende 14-jährige – wohl zu fühlen.
Mein Mäuschen (so nenne ich sie aber nur, wenn wir privat sind) ist ein bisschen wie ich. Witzig, klug, sensibel, frech, vorlaut, kritisch, faul, schlampig und unwahrscheinlich cool. Ihr Verstand ist so scharf wie frisch geschliffene Messer aus Solingen. Sie lässt sich nichts gefallen und hasst Ungerechtigkeit. Sie weiß zwar nicht genau, wie man Zivilcourage schreibt, aber wie man sie lebt, das weiß sie. Für Politik interessiert sie sich nicht, aber sie wird wütend, wenn homosexuelle Menschen verspottet, schwächere SchülerInnen gemobbt, Kinder geschlagen und Frauen benachteiligt werden. Sie weiß noch nicht, dass genau das Politik ist.
Aber sie weiß, was sie will. Ihren Kindheitstraum, Kinderärztin zu werden, hat sie nicht aufgegeben, sondern nur leicht variiert. Frau Doktor Kinder- und Jugendpsychiaterin.

Sie kann aber auch verträumt und verspielt sein, vor allem gemeinsam mit ihrer besten Freundin, die wir längst adoptiert haben, im Herzen.
Mäuschen verschlingt tonnenweise Milchreis, und sie verschlingt Bücher. Die muss ich aber nicht kochen.

Es ist wunderschön zu sehen, wie mein kleines Mädchen langsam aber sicher zur Frau wird. Oft findet sie mich peinlich, aber mindestens genauso oft genießt sie es mittlerweile, wenn ich sie auf Lesungen, Frauenfeste oder ins Kino mitnehme.
Es klingt kitschig, ich weiß, aber ich liebe diese Göre.

Danke, Mäuschen. Bleib wie du bist und werde jeden Tag ein bisschen anders. Denn es ist normal, anders zu sein.

Donnerstag, 19. April 2007

Active Ageing

Lieselotte blätterte um und machte eifrig Notizen, während einige Zuhörer gähnten oder Kurznachrichten in ihre Handys tippten. Hin und wieder erhob sich jemand, um den Saal auf leisen Sohlen zu verlassen. Der Professor hinter dem Stehpult wirkte ebenso blutarm wie sein Vortrag.
Active Ageing - Multiprofessionelles Demenzmanagement stand auf dem Programmheft, das auf dem Stuhl neben Lieselotte lag.

„Interessiert Sie das wirklich?“ Der Mann zu ihrer Linken, der die ganze Zeit raschelnd in seinen Zetteln gekramt hatte, beugte sich herüber.
Sie schaute ihn über den Rand ihrer Hornbrille an, die ein Vermögen gekostet hatte und in ihrer Schlichtheit reinstes Understatement war.
„Natürlich interessiert mich das“, behauptete sie, schüttelte aber den Kopf.
„Freud lebt“, stellte er fest, obwohl er Internist war und nicht Psychiater.
„Verdammtes Unterbewusstes!“ Lieselotte lachte. „Nein, es interessiert mich nicht wirklich.“
„Warum schreiben Sie dann so angeregt mit?“ Er flüsterte, nachdem der Professor zu ihnen geblickt hatte.
„Ich bin Journalistin.“ Lieselotte übertrieb ein bisschen. In Wahrheit verfasste sie lediglich eine monatliche Kolumne in der Zeitschrift Da.Heim, einem Magazin der Landespensionistenheime. Manchmal schämte sie sich ein bisschen, dass sie nichts Ordentliches gelernt hatte. Sie war nämlich keineswegs multiprofessionell, sondern ganz und gar nullprofessionell.
„Oh. Sie sind Journalistin?“, wiederholte er. „Ich schreibe auch. Rezepte.“
„Ach, bestimmt für Remember Ravioli, dem Kochjournal für Alzheimer-Kranke! Sind Sie etwa deshalb hier?“
„Ich hab vergessen, warum ich hier bin.“ Er verzog keine Miene. „Für welches Blatt schreiben Sie?“
„Für den Observer“, sagte sie manieriert. „Manchmal auch für die Washington Post.“

Plötzlich war es still im Saal. Der Vortragende war eingeschlafen.
„Vielleicht ist er tot“, sagte Lieselotte. „Als Arzt müssen Sie Erste Hilfe leisten.“
„Um Gottes Willen!“ Er stopfte seine Papiere in die Aktentasche. „Wollen Sie wirklich, dass der noch weiterredet?“
Nein. Wollte sie nicht. Definitiv nicht. Sie wollte, dass der Typ neben ihr weiterredete. Sie betrachtete ihn von der Seite. Er sah eher aus wie ein übermüdeter Schlittenhundeführer als wie ein seriöser Mediziner.
„Begleiten Sie mich auf einen Kaffee?“, fragte Lieselotte mutig und biss sich auf die Unterlippe.
Er blickte auf die Uhr.
„Tut mir leid, aber das geht nicht.“ Als er die Enttäuschung in ihren Augen las, fragte er: „Wie wär’s, wenn wir uns beim Inkontinenz-Workshop treffen? Die hyperaktive Blase beim alten Menschen.“
„Es gibt weiß Gott Aufregenderes als Blasen.“ Sie schaute unschuldig.
„Ja, aber ich bin auch mit weniger aufregenden Dingen zu befriedigen“, gab er grinsend zurück.
„Inkontinenz.“ Sie nickte. „Das ist meine journalistische Leidenschaft. Neben der Impotenz.“
„Ich fürchte, damit kann ich nicht dienen.“ Er warf ihr noch einen amüsierten Blick zu und schlich hinaus.

Auf ihrem Programm stand nun eigentlich der Vortrag “Bone und Joint Decade”. Zu gern hätte sie jetzt ein bisschen relaxt, aber ihr war klar, dass dort nicht wirklich gekifft wurde. Sie kramte in der Tasche mit den Proben, die sie im Foyer eingesammelt hatte. Auch da fand sich leider nichts Entspannendes. Frustriert stopfte sie sich ein paar von den Viagra-Imitaten aus Schokolade mit blauem Zuckerguss in den Mund.

Als sie den Hörsaal betrat, kam sie sich vor wie in einem ausverkauften Theater. „Scheint ja doch etwas ganz Spannendes zu sein, so eine hyperaktive Blase“, dachte sie. Lieselotte hatte nur ein hyperaktives Kind, das war meist alles andere als spannend. Vergeblich suchte sie die Reihen nach dem Schlittenhundeführer ab und nahm enttäuscht auf einem der wenigen freien Sitze Platz.
„Muss noch jemand aufs Klo, bevor wir anfangen?“ Erschrocken schlug Lieselotte das Programmheft zu. Diese Stimme kannte sie doch.

Da vorn auf dem Podium stand er. Mit einem Headset auf dem Kopf, wie ein Rockstar bei einem Konzert. Und die Bühne sollte für die nächste Stunde ihm gehören. Natürlich musste niemand aufs Klo.

Völlig ohne Fremdworte kam Professor Thomas Kilmer aus. Und geradezu leidenschaftlich erzählte er über den Umgang mit diesem Tabuthema, voller Empathie mit den Betroffenen und trotzdem witzig und charmant. Als er ein paar Übungen zur präventiven Stärkung des Beckenbodens erklärte, beobachtete Lieselotte, wie die Frauen die Lippen aufeinander pressten und die Mienen in ihren Gesichtern sich abwechselnd an- und entspannten. Seltsamerweise machten das auch einige Männer. Was die wohl jetzt stärkten?

Das Publikum applaudierte begeistert, als Professor Kilmer geendet hatte. Mit einem Plädoyer für mehr Respekt. Einem Appell an die Toleranz. Und einem unverschämt hinreißenden Grinsen auf seinen Lippen. Irritiert blickte Lieselotte zur Seite, als sie leichten Uringeruch wahrnahm. Die Dame neben ihr zuckte mit den Achseln und schaute verlegen. Lieselotte lächelte. Tolerant und respektvoll.

„Gibt es noch Fragen?“ Es wurde wieder still im Saal. Plötzlich eilte eine Frau im blauen Kostüm auf Lieselotte zu und hielt ihr ein Mikrofon vor den Mund. Dabei hatte sie sich nur mal am Kopf gekratzt.
„Lieselotte Pfeffer vom ... ähm ... vom Da.heim.“ Sie stammelte: „Was ... was würden Sie einer Frau raten, die erste Symptome bemerkt?“ Etwas Besseres war ihr auf die Schnelle nicht eingefallen.
„Nun“, er blickte geradewegs in ihr Gesicht. „Nicht immer ist plötzlich auftretende Feuchtigkeit ein Alarmsignal für Inkontinenz. Erzählen Sie uns doch mehr darüber. In welchen Situationen tritt dieses Phänomen bei Ihnen auf?“
„Jetzt“, dachte Lieselotte und errötete. Denn plötzlich war sie da. Die Feuchtigkeit zwischen ihren Beinen. Dieses angenehme Kribbeln.
„Es geht nicht um mich“, versuchte sie auszuweichen.
Er ignorierte ihren Einwand.
„Wenn es Ihnen nicht unangenehm ist, würde ich aus ärztlicher Sicht keine Gegenmaßnahmen ergreifen.“
„Danke, ganz lieb. Ich lebe gern im Überfluss!“ Sie strahlte.
„Die Kräftigung der Beckenbodenmuskulatur kann ich Ihnen trotzdem empfehlen“, setzte er nach. „Sie hat ausschließlich erwünschte Wirkungen. Nicht nur für Sie selbst.“
„Ich bin da nicht egoistisch.“ Lieselotte behielt das letzte Wort. „Ich helfe, wo ich kann.“

Später wartete sie geduldig vor der großen Flügeltür. Endlich kam er. Er blieb direkt vor ihr stehen, sehr nah vor ihr, stellte seine Aktentasche zu Boden und schaute sie an.
„Ja?“ Sonst sagte er nichts.
„Ja?“, wiederholte Lieselotte und hob die Schultern.
„Ja.“ Er wandte seinen Blick nicht von ihr.
„Ja.“ Sie hielt ihm stand.
Sie sahen einander tief in die Augen. Sehr warm war der Blick. Und sehr hungrig. Sie schwiegen. Lange schwiegen sie. Ein sehr viel sagendes Schweigen war das. Und Ein sehr lustvolles.
Als sie fertig waren mit Schweigen, sagte Lieselotte:
„Ich möchte mit Ihnen immer noch gern einen Kaffee trinken.“
„Tut mir leid, ich trinke keinen Kaffee.“ Er blickte sie weiter an. „Ich trinke Tee.“
„Blasentee?“, mutmaßte sie.
Er schüttelte den Kopf. „Nein. Mein Lieblingstee ist ein Formosa. Ding Dong Green Oolong.“
Ihr Blick wanderte zu seiner Hose. „So, so. Ding Dong Oolong.“
Er nickte. „Ja.“
„Ich will mit Ihnen schlafen“, hörte sie sich sagen. Das hatte sie überhaupt noch nie in ihrem Leben gemacht, so direkt auszusprechen, was sie wollte. Zu ihrem Mann konnte sie noch nicht einmal sagen: „Ich will, dass du den Geschirrspüler ausräumst!“

„Ja.“
„Was ja?“
„Ja.“ Seine Stimme war warm und ruhig. „Sie wollen mit mir schlafen.“
Lieselotte war verunsichert und erregt. Gerne hätte sie jetzt etwas Witziges gesagt, aber in Momenten wie diesen versagte ihr sonst so scharfer Verstand.

„Warum?“, fragte er jetzt.
„Was warum?“
„Warum wollen Sie mit mir schlafen?“
„Sie sind berühmt und wahrscheinlich auch reich und Sie haben einen tollen Körper.“ Das war nur ein kleiner Teil der Wahrheit, denn sein Witz, seine Eloquenz und seine Selbstsicherheit zogen sie weit mehr an.
„Ja. Da muss ich Ihnen zustimmen. Alles richtig.“
Lieselotte wünschte sich, dass er sie endlich berührte, mit den Lippen am besten oder wenigstens mit den Händen, aber er tat nichts dergleichen. Sie sehnte sich danach, dass seine Hände unter ihren Rock krochen, während er sie sanft und bestimmt gegen die Holzwand presste.

„Lieselotte“, sagte er nach einer Weile, ganz ohne Kriechen und Pressen. „Lieselotte von daheim. Gehen wir.“
Ihre Wangen wurden rot, ihre Knie wurden weich, und ihr Slip wurde noch ein bisschen feuchter.
„Wohin gehen wir?“ Ihr Mund hingegen war trocken.
„Wünsche erfüllen.“ Er nahm sie an der Hand und zog sie mit hinaus.

„Enden deine Vorträge häufig so?“, fragte sie später an Thomas gekuschelt. Glücklich, erschöpft und befriedigt.
„Ja“, sagte er. „Immer, wenn unter meinen Zuhörerinnen Frauen sind wie du. Geistreich, frech und schön.“ Er küsste sie. „Also nie.“


Der Alltag hatte sie längst wieder eingeholt. Sie reiste Thomas Kilmer nicht nach. Sie rief ihn auch nicht an. Sie hatte ihm gesagt, was sie wollte. Und sie hatte es bekommen. Sogar ein bisschen mehr. So einfach war das also.
„Ich muss mit dir reden“, sagte sie eines Abends zu ihrem Mann.
„Ja?“, fragte der verwundert.
„Ja.“ Lieselotte schluckte.
Jetzt würde sie es ihm sagen. Sie atmete noch einmal tief durch und nahm all ihren Mut zusammen.
„Ich will, dass du den Geschirrspüler ausräumst!“

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

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