Halbzeitpause

„Ja. Ich kümmere mich drum. Sobald ich kann. Ja. Wiederhören.“
Sie stellte das Telefon zurück in die Ladestation. Ich kann aber sobald nicht, dachte sie. Das Kümmern wuchs ihr in letzter Zeit oft über den Kopf. Sie hätte sich auch gern manches Mal in so eine Ladestation gelegt. Schon fast halb zwei. Wenn sie jetzt keine Mittagspause machte, dann konnte sie auch ganz darauf verzichten. Ihr Magen knurrte. Ihre Nerven bellten. Und ihre Lendenwirbelsäule biss zu.
„Ich bin in zwei Stunden zurück“, sagte sie zu ihrer Sekretärin, „vielleicht“. Sie spürte das Prickeln in ihrer eigenen Stimme. So etwas Ungehöriges hatte sie in den letzten 40 Arbeitsjahren nicht gesagt.
Die Sekretärin starrte sie an, als hätte sie eben verkündet, auf den Mars zu fliegen. „Gut. Wenn etwas wirklich dringend und wichtig ist, ruf ich Sie am Handy an.“ Immerhin konnte sie endlich zwischen wichtig und dringend und wirklich wichtig und wirklich dringend unterscheiden.
„Nein, das werden Sie nicht tun.“ Das machte ja richtig Spaß.
„Tschuldigung, Frau Inspektor. Guten Appetit.“

Noch zwei Jahre sollte sie durchhalten. Noch zwei Jahre Kümmern. Wann hatte sich eigentlich zuletzt jemand um sie gekümmert? Kümmerte sie sich überhaupt genug um sich selbst? Jetzt helfe ich mir selbst, so hieß das kleine Büchlein, das sie sich gekauft hatte, als sie noch den alten hellblauen Käfer fuhr. Heute fuhr sie einen schwarzen Chrysler Cherokee, gebraucht zwar, aber er funktionierte tadellos. In ihrem Leben war alles Second Hand, die Kleidung, der Ehemann, die Kinder und eben das Auto.
Damals, mit dem hellblauen Käfer, hatten noch reihenweise Autofahrer angehalten, wenn sie am Straßenrand liegen geblieben war. Nun hatte sie seit zwanzig Jahren nicht mal mehr eine Panne gehabt. Früher war überhaupt alles besser. Früher war alles früher. Ganz in Gedanken lief sie gedankenlos durch die Fußgängerzone.

„Eine Sushi-Bento-Box bitte, mit Miso-Suppe und...“ Sie biss sich auf die Lippen. Verdammt. Sie war in dem Wäscheladen neben dem Japaner. Sie lachte laut und verlegen. „War nur ein Scherz.“
Sie deutete auf die Unterwäsche, die auf dem Ständer mit der Aufschrift „Angebot des Monats“ hing. „Die ist hübsch. Die nehm ich.“
„Wild Tiger. Die freche Kombination aus Animalprint und samtigem Petrol, sowie der hauchzarte, leicht transparente Tüll machen dieses Modell zu einem absoluten Hingucker, Frau Inspektor. Das gefällt der Frau Tochter bestimmt. Soll ich es als Geschenk einpacken?“
Frau Tochter? Hatte diese Tussi tatsächlich Frau Tochter gesagt? „Danke, ganz lieb, aber ich denke, ich werde sie gleich anlassen.“ Sie griff sich den Kleiderhaken und stolzierte zur Umkleidekabine.
„Warten Sie. Diese Unterwäsche ist von der Anprobe ausgenommen. Sie wissen schon. Wegen der Hygiene.“ Die Verkäuferin sprang ihr wie ein Panther hinterher, aber die wilde Tigerin war längst hinter dem Schutz des Vorhanges verschwunden.
„Keine Sorge. Ich bade jeden Samstag. Und heut ist ja erst Mittwoch.“
„So hab ich das nicht gemeint, Frau Inspektor.“
„Nicht so? Wie dann? Sorgen Sie sich um meine Gesundheit? Seh ich so gebrechlich aus? Mit den paar Filzläusen in Ihrem Höschen werde ich schon noch fertig.“ Mit Läusen war sie auch im Schuldienst immer wieder konfrontiert und fertig geworden.
„Reden Sie mit mir?“, fragte eine warme Männerstimme mit südosteuropäischem Akzent.
„Aber gern“, sagte sie durch den dunkelroten Stoffvorhang, „warum nicht? Worüber möchten Sie denn reden?“ Sie war es gewohnt, dass Menschen ihr die Herzen ausschütteten und Lösungen von ihr erwarteten. Hilflose und überforderte Schuldirektoren, Lehrerinnen, Eltern und Schüler. Keiner ahnte, dass sie sich selbst oft hilflos und überfordert fühlte. Jetzt zum Beispiel mit dem Verschluss des BHs.
Irgendwie schaffte sie aber doch, das Häkchen in die Öse zu fädeln, schaute in den Spiegel und drehte sich ins Profil. Kein Mann war so blöd und drehte sich vor dem Spiegel ins Profil um seine Problemzonen besser sehen zu können. Frauen verglichen sich mit perfekt retouchierten Frauen in Frauenzeitschriften, Männer mit birnenförmigen Kollegen in der Sauna. Deren Leben war eindeutig einfacher.
Sie drehte sich auf die andere Seite. Mit ihrer Figur war sie halbwegs zufrieden, bis auf ein paar Dellen und Falten, die das Leben ihr auf den Leib geschneidert hatte.
„Ich dachte, Sie wollten mit mir reden?“, erinnerte sie sich an den Mann auf der anderen Seite des Vorhangs.
„Ah ja. Ich bin auf der Suche nach einem Muttertagsgeschenk. Für meine Mutter.“
„Wie originell. Nehmen Sie doch auch Wild Tiger, ist grad im Angebot. Die samtige, hauchzarte Animalprintkombination und transparenter Petroltüll machen dieses Modell zu einem absoluten Hingucker“, äffte sie die Verkäuferin nach, die sich gekränkt zurückzog.
„Darf ich denn hingucken?“ fragte der Mann.
„Nicht einmal dran denken.“
„Und wenn ich doch dran denke?“
„Selber schuld. Vielleicht bin ich achtzig und habe 150 Kilo?“
„Sicher nicht. Wild Tiger gibt es nur bis Größe 40. Vielleicht sind Sie dreißig und haben langes, blondes Haar.“
„Vielleicht habe ich kurzes Haar und bin sechzig.“
„Vielleicht. Haben Sie ein Problem mit Ihrem Alter?“
„Manchmal. In der Früh brauche ich immer länger, um mich zu entfalten und die Visitenkarten haben mittlerweile die Größe eines Aktenordners.“
„Darf ich jetzt endlich schauen?“
„Moment noch.“ Sie zippte den Reißverschluss ihrer Hose zu und stopfte die getragene Unterwäsche in ihre Tasche. „So, jetzt.“
Er zog den Vorhang zur Seite. „Sehr schön“, sagte er.
„Sie kenn ich doch!“ rief sie aus.
„So? Sie kennen mich?“ Er lächelte, und sein Lächeln war hinreißend. Sein muskulöser Körper auch.
In ihrem Hirn begann es zu rattern – und nicht nur da. Kannte sie ihn aus der Kantine? Ein Beamter der Sozialabteilung, vielleicht, oder der Vater einer Schülerin. Vielleicht war es ein neuer Lehrer? Ein Religionslehrer, das waren oft die attraktivsten. Vielleicht sogar ein angehender Priester, für die Damenwelt unrettbar verloren, zumindest offiziell.
„Natürlich kenn ich Sie.“ Zu spät. Jetzt konnte sie ihn nicht mehr fragen, woher. Jetzt musste sie so tun, als wüsste sie, wer er war. Dabei hatte sie keine Ahnung. Das passierte ihr in letzter Zeit immer öfter.
„Vermutlich denken Sie, dass ich täglich wildfremde Frauen in aufregender Unterwäsche sehe. Aber das stimmt nicht.“
„Natürlich nicht. Sie sehen bestimmt lieber aufregende Frauen in wildfremder Unterwäsche.“ Religionslehrer war er also nicht.
„Auch das nicht. Aber ich sehe täglich verschwitzte Männer in verschmutzter Unterwäsche.“
Sie überlegte. War er etwa einer der Pfleger aus dem Seniorenheim, in dem Onkel Albert seine letzten Tage fristete? „Ich heiße Inge“, sagte sie, um Zeit und wertvolle Informationen zu gewinnen.
„Ivica“, sagte er, „meine Freunde nennen mich Ivo.“ Sie kramte in der riesigen Schublade ihres Gedächtnisses. Ivica. Das half ihr nicht wirklich weiter.

Inge bezahlte die Unterwäsche. Ivo verhielt sich wie ein richtiger Mann und entschied sich für Gutscheinmünzen für die Frau Mama.
Sie verließen den Laden und spazierten durch die Fußgängerzone. Sie fühlte sich gut, mit der schönen Wäsche am Körper und dem schönen Mann an der Seite. „Sie sind verdammt durchtrainiert.“
„Jo. Man bezahlt mich dafür“, sagte er.
Alles klar. Er unterrichtete Sport. Er schien ein beliebter Lehrer zu sein, denn etliche Jungs blieben stehen und wollten ein Autogramm von ihm.
Leider konnte sie das Gekritzel nicht lesen. Und leider wurde sie vom Gutfühlen und der neuen Unterwäsche auch nicht satt. Ihr Magen brachte sich mit einem lauten Knurren in Erinnerung.
„Oh. Höre ich da den wilden Tiger in Ihnen?“
„Sozusagen. Würden Sie mir bitte helfen irgendwo ein hilfloses Kalb zu reißen?“
„Wie stellen sie sich das vor? Soll ich dem armen Tier von hinten in die Hacken grätschen? Dafür gibt’s glatt Rot“
„Dann schlagen Sie halt was anderes vor. Oder laden Sie mich ein.“
„Gern, da vorn ist ein Würstelstand.“
Sushi wäre ihr lieber gewesen, aber einer geschenkten Käsekrainer schaute man nicht... egal wohin.

„Dere, Ivica!“ rief der Würstelmann entzückt aus. Wieso kannten alle hier diesen Sportlehrer?
„Eine Bratwurst, mit Scherzerl, bitte, und a Sechzehner Blech.“
„Bitte sehr. Hab dich am Sonntag im Fernsehen gesehen, Ivo. Beim Interview. So a Schand’, dass du nimma spielst. Ich mein, vierzig is ja noch kein Alter ned. Dabei täten’s di so dringend brauchen.“
In Inges Hirn schoben sich ein paar Puzzleteile ineinander. Schön langsam wurde ihr klar, woher sie diesen Typen kannte. Aus dem Fernsehen. Er war kein Lehrer, sondern Schauspieler. Puh, war ihr das peinlich. Sie erinnerte sich. Er spielte eine Hauptrolle in der Werbung mit der Fußbodenheizung. Und in dem Spot mit der Nougatcreme.
Ivo ließ das Bier aus der Dose zischen. „Sechzig ist auch noch kein Alter nicht“, raunte er und zwinkerte ihr zu.
„Und was darf’s für Sie sein, “, strahlte der Würstelmann sie an, „das gleiche wie für den Herrn Sohn? Mit scharfem oder süßem Senf, Frau Vastic?“
Vastic. Jetzt dämmerte es ihr. Ivica Vastic. Der Fußballspieler.
„Mit Nutella“, sagte sie zum Würstelmann.
Ivo lachte. „Und ich hatte schon gedacht, Sie kennen mich gar nicht.“
Inge lächelte milde. „Sie halten mich wohl für total verkalkt.“
„Aber nein. Natürlich nicht. Ich hätte nur nicht geglaubt, dass sie sich für Fußball interessieren.“
„Na hören Sie. Heutzutage kennen wir Frauen uns besser im Fußball aus als die Männer. Und deshalb drücke ich Ihnen auch ganz fest die Daumen.“
Er lächelte dankbar und verneigte sich leicht. Und sie fügte mit nationaler Begeisterung hinzu: “Viel Glück in Südafrika!“
hans1962 (Gast) - 8. Mai, 23:12

Sagte ich doch vorhin: liebevoller Humor - zum Weinen schön...
Und doch, ich werf' mich weg vor Lachen.
(in Wien ist die Käsekainer mit Scherzerl "a Eitrige mit an Bugl", oder? :)))

testsiegerin - 9. Mai, 14:06

ja. das heißt so. oba jennifer. (aber rasch).

in wahrheit hab ich aber noch nie einen wiener gehört, wie er das genauso bestellt hat.
rosmarin (Gast) - 8. Mai, 23:49

hach..... danke!

testsiegerin - 9. Mai, 14:06

bitte gern.
hab die geschichte für die inge geschrieben und sie gestern bei ihrer ausstellung und ihrem 60. geburtstag gelesen.
depperte (Gast) - 9. Mai, 00:33

sekretärin.

testsiegerin - 9. Mai, 14:07

die sekretärin ist total nett.
ich kannte sie aber noch nicht, als ich die geschichte geschrieben hab.
datja (Gast) - 10. Mai, 09:25

jööö

testsiegerin - 10. Mai, 19:49

aha.
steppenhund - 10. Mai, 15:33

komisch

irgendwas stimmt da nicht. Ich bin überhaupt nicht an Fussball interessiert und an Nutella auch nicht. Aber bei der ersten Erwähnung des Namens Ivica war mir klar, wer gemeint war.
Wirst Du vorhersagbar? :)

testsiegerin - 10. Mai, 15:42

sollten ja auch alle wissen, um wen es geht - abgesehen von der inge ;-)
Jossele - 11. Mai, 10:43

Ganz abgesehen davon dass diese Geschichte wieder herrlich wohlig runterrinnt wie frischgepresstes Olivenöl, danke für den Tipp.
Also Bratwürschtel mit Nutella, gar nicht so übel.
Allerdings, statt Ottakringer tät der Sommelier eher Gaugau empfehlen.

testsiegerin - 12. Mai, 20:42

dann schon lieber ohne sommelier und mit bier.
ich hoff, dass man meine geschichten nicht nur so homöoatisch genießen kann wie frischgepresstes olivenöl ;-)
bonanzaMARGOT - 11. Mai, 14:18

stilistisch wirst du immer besser. inhaltlich finde ich`s zwischendurch langatmig. jedenfalls zu langatmig für einen müden mann.
doch, da ist wirklich gutes schreibhandwerk dabei!

Jossele - 11. Mai, 17:48

Was wär da jetzt langatmig?
testsiegerin - 12. Mai, 20:44

danke für das lob.
ich hab die geschichte ja für die inge zum geburtstag geschrieben, und zum glück hat es ihr und dem publikum gefallen. die haben gar nicht gelangweilt gewirkt ;-)

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"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

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