Besondere Bedürfnisse

Die Bewohner des Wohnhauses für Menschen mit Behinderung haben sich in Schale geworfen. Heute ist ihre Weihnachtsfeier. Manche sind schon Stunden vorher aufgeregt. Ich bin auch aufgeregt, denn ich lese bei dieser Weihnachtsfeier, und Eleonore singt. Ein Mann zeigt mir zum siebenten Mal seinen Fotoapparat und fragt, ob er mich fotografieren soll. Oh ja bitte, das wäre schön. Wie groß ich die Bilder ausgedruckt haben will, möchte er wissen. Schicken Sie sie mir doch per Mail, sage ich. Ja schon, eh klar, aber wie groß? Groß. Sehr groß. So, das man mich gut sieht. Wir lachen. Ein anderer Mann – er ist Bandmitglied bei Integra Musica - kommt ins Büro, in dem wir uns noch besprechen und steht da wie angewurzelt. Die Leiterin der Einrichtung kann offensichtlich Gedanken lesen. „Nehmen Sie sich ruhig ein paar Kekse“, sagt sie und er und ich greifen zu.

Später bei der Feier – die Bühne liebevoll dekoriert, die Tische fein und lecker geschmückt – höre ich von den Festrednern ungefähr hundert Mal die Floskel Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Behindert zu sagen ist politisch unkorrekt. Moment mal, möchte ich schreien, habe ich keine besonderen Bedürfnisse? Ist mein Bedürfnis in der Badewanne Prosecco zu trinken und Spaghetti zu essen vielleicht gar kein besonderes Bedürfnis? Und haben die Festgäste – ob Bewohner, Angehörige, sogenannte Ehrengäste und die Betreuer und Betreuerinnen dort, nicht das ganz normale Bedürfnis, nicht von langen und langweiligen Festreden gequält zu werden?
Die sogenannten behinderten Menschen hören höflich zu, naschen von den Keksen, trinken Punsch, schauen in die Kerzen. Die salbungsvollen Worte, mit denen die Männer am Rednerpult beweisen, was für gute, anständige und christliche Menschen sie sind, die den von der Gesellschaft Benachteiligten Wärme und Licht schenken, interessieren sie wahrscheinlich genauso wenig wie mich, aber sie verhalten sich still und klatschen freundlich an den richtigen Stellen. Viele von ihnen wissen zwar nicht, wie man das Wort Respekt schreibt, aber er ist Teil ihres Lebens. Sie werden von den BetreuerInnen dort respektvoll behandelt und das geben sie einfach weiter.
Eine Frau der Band springt nach jedem der gespielten Stücke auf, reißt die Arme in die Höhe und verbeugt sich. Dafür bekommt sie Extra-Applaus.
Bei unserem Auftritt – in warmes rotes Licht getaucht, und wir passen wunderbar zur Dekoration – ist es ganz still im Saal. Ich genieße es, vor diesem Publikum zu lesen. Ich gebe viel her von mir, denn ich lese sehr persönliche Texte, von meinen Kindern, dem Tod meiner Mutter, dem Leben mit all seinen Geschenken und Widrigkeiten. Eleonore singt Stille Nacht, wie ich nie jemanden Stille Nacht habe singen hören. Alle haben Gänsehaut. Die Menschen singen mit, ohne dazu aufgefordert zu sein. Ich spüre, wie ich es uns gelingt, viele der Menschen da unten mit unseren Worten und Liedern zu berühren und bin selbst berührt. Danach zeigen die Menschen, wie berührt sie waren und berühren mich. Klopfen mir auf die Schultern. Streichen mir über den Kopf, wie einem kleinen Kind, das seine Sache gut gemacht hat. Ich hab meine Sache gut gemacht.

*
Ein paar Stunden später in einem verrauchten Lokal in Wien. Schmuckausstellung meiner Freundin, dazu eine Lesung von mir. Der Auftritt für halb zehn ist seit Wochen geplant, doch dann fällt der Lokalchefin, der man anmerkt, dass ihre Arbeit ihr keinen Spaß mehr macht, ein, dass um zehn die DJ-Line beginnt. Aber auch ohne DJ-Line ist es laut.
Auch der Ghetto-Blaster und das Mikro eines Freundes hilft mir nicht, den Lärm aus dem Schankraum zu übertönen. Weil meine Besinnlichkeit ohnehin am Nachmittag aufgebraucht worden ist, lese ich böse, ironische, witzige Texte. Am Tisch direkt vor mir sitzen ein paar Ärztinnen. Sie rümpfen die Nase darüber, dass ich sie in ihren Gesprächen – wahrscheinlich über die korrekte homöopathische Behandlung einer akuten Rhinitis – störe und einfach zu lesen anfange.
Die Gespräche über die Potenz der Globuli dauern exakt so lange, wie meine Lesung dauert. Wahrscheinlich ist es ihnen draußen im Schankraum zu laut zum quatschen. Meine Freundin ersucht sie durch ein höfliches „Pschscht!“ zur Besinnung zu bringen, aber sie sind das, was Ärzte so gern über ihre Patienten behaupten. Krankheitsuneinsichtig. Non-compliant.

Angeblich sind die Leute hier – die Ärztinnen, die gelangweilte Chefin des Lokals – alle normal. Wahrscheinlich können sie das Wort Respekt in dreiundzwanzig Sprachen von hinten nach vorne buchstabieren, auch in Braille-Schrift. Nur zum Leben erwecken können sie es nicht.

Am liebsten würde ich einfach abhauen.
Wegen Unbespielbarkeit des Platzes sozusagen. Bei starkem Wind fällt ja auch das Skispringen aus, warum also nicht wegen Lärms die Lesung ausfallen lassen? Warum nicht selbstbewussst aufstehen und sagen, unter diesen Bedingungen lese ich nicht.
Warum nicht?
Weil ich das nicht bin. Nicht selbstbewusst genug. Da sitzen auch ein paar Leute, die extra meinetwegen nach Wien gekommen sind. Die will ich nicht enttäuschen. Drum lese ich, obwohl ich lieber heulen würde. Zahle meine Getränke. Heule dann erst später zu Hause.

Ich bin ein Mensch mit besonderen Bedürfnissen. Dem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit. Zuwendung. Applaus. Respekt.
Behindert.
steppenhund - 13. Dez, 13:01

Von meinen Kindern wurde ich ja aufgeklärt, dass das Wort Behinderung wirklich als unangenehm von den Betroffenen empfunden wird. Speziell von denen, die dann doch versuchen, im täglichen Leben Arbeit und ihren Beitrag zu leisten und sich einstellungsmäßig bemühen, so gut zu arbeiten wie die anderen. Das habe ich jedenfalls so verstanden, nachdem meine Tochter ein Jahr Hausmutter in einem Behindertendorf war.
Es geht um die Sprache, um die Mächtigkeit des Wortes, um das Schaffen von Fakten mit Hilfe von Worten. Dieser Umstand ist viel öfter und mit viel schlechteren Beweggründen verwendet worden, als im gegenständlichen Bereich. Das brauche ich dir sicher nicht zu erzählen.
Ich selbst finde in deinem Beitrag aber eine tiefe Bestätigung meines eigenen Unbehagens, wenn ich mit neuen Wortschöpfungen der Gegenwart umgehen soll, deren Implikation mir widerlicher als die ursprüngliche erscheint.
Das entspricht der ursprünglichen Zeugnissprache: "er hat sich bemüht." Übersetzt sich zu: "unfähig." Wenn das einige Zeit lang passiert, prägt sich meiner Meinung nach die ursprüngliche Assoziation wieder ein. Das wird von den Verfechtern der sprachlichen p.c. geleugnet.
Aber ich verwende lieber den Begriff "Ostblock" mit all den Assoziationen von Kommunismus, eiserner Vorhang und Armut als den Begriff CEE, der für mich mit Ausweitung des Kapitalismus, Raffgier, Korruption, Mafia und letztlich auch mit Finanzkrise verbunden ist.
Und wenn ich Zeit gehabt hätte, wäre ich lieber bei der ersten als bei der zweiten Lesung dabei gewesen. Soviel habe ich aus den Veranstaltungen mit den Down-Syndrom-Kindern gelernt.

testsiegerin - 13. Dez, 15:14

Die Frage ist, warum wir diese ständigen Differenzierungen überhaupt brauchen. Behinderte - Nichtbehinderte - Schwarze - Weiße - Inländer - Ausländer.
Warum sind wir nicht einfach Menschen. Anders sind wir sowieso alle.
syntaxia - 13. Dez, 13:02

Applaus!

Auch von mir bekommst du den Applaus, Barbara!

Du hast deine Sache sicher gut gemacht, wie die Menschen mit Behinderung dir spiegelten.
Ist es nicht schön, ein solches Feedback zu erhalten, von jenen, die es zu schätzen wissen, dass du für sie dort stehst!
Deine Erzählung spricht genau meine Lebenserfahrungen aus. Ich denke, es ist auch der Grund, warum ich mit kranken Menschen arbeite.

Auch ich hätte wohl weitergelesen, aber es wäre besser aufzustehen und den Menschen zu zeigen, dass ihr Verhalten nicht in Ordnung ist.
Du wurdest behindert, das ist genau das, was den Menschen mit Behinderung permanent passiert. Sie werden von der Gesellschaft behindert!

Ein schönes Wochenende wünscht dir Monika

testsiegerin - 13. Dez, 15:16

Danke für Kommentar und Applaus.
Das nächste Mal steh ich auf und geh. Bestimmt. Aber vorher lese Ihnen noch diesen Text vor.
david ramirer - 13. Dez, 15:03

ich bin auch behindert.

testsiegerin - 13. Dez, 15:17

Ja. *lächelt*
Danke, dass du trotzdem da warst. Oder deshalb.
Uta-Traveller - 13. Dez, 15:57

Respekt - ein altmodisches Wort, das für mich aber auch und gerade in unserer Zeit sehr, sehr wichtig ist

und es ist für mich auch der Mittelpunkt deiner Erzählung
mit dem Gegenüber respektvoll umgehen - das fehlt viel zu oft, dabei wäre es so einfach

lieben Gruß
Uta

testsiegerin - 13. Dez, 17:49

dabei ist "respekt gedicht" unter den top 40 suchbegriffen auf meiner seite.

und mir gelingt das ja auch nicht immer so leicht mit dem respekt wie es scheint.
Gestammelte Werke - 13. Dez, 15:58

monikas kommentar kann ich mich nur voll und ganz anschließen.
und hinzufügen:
das publikum der zweiten lesung weiß nicht, was es verpasst hat.
du liest wundervoll, wenn du in deinem element bist.

gerda

testsiegerin - 13. Dez, 17:56

danke. aber es ist schwer, spannung aufzubauen, wenn man merkt, dass die leute nicht zuhören. oder nur zum teil.
walküre - 13. Dez, 16:05

Na geh ... offensichtlich hat es nichts genützt, dass ich gestern am Abend an dich gedacht und gehofft habe, die zweite Lesung würde solch ein Erfolg werden wie jene, bei der ich dabeisein durfte ... Aber was dir bei der ersten Veranstaltung zuteil geworden ist, das liest sich wunderbar und hat sich mit Sicherheit noch viel besser angespürt. Die Optimistin in mir sagt in einem solchen Fall, dass man wahrscheinlich ab und zu Flops braucht, um das Gegenteil davon umso mehr zu schätzen, nur erschließt sich einem dieser Zusammenhang halt auch nicht immer. Eines weiß ich jedoch mit Sicherheit: Barbara, an dir oder deinen Texten ist es nicht gelegen.

testsiegerin - 13. Dez, 18:01

schade, dass das denken nichts genützt hat.
und du hast schon recht, solche flops braucht es. offensichtlich immer wieder mal. zum glück überwiegen ja die nichtflops.
datja (Gast) - 13. Dez, 16:35

auch ich behindert und voller besonderer bedürfnisse

zu lesung 1:
ja, es war wunderschön!
die arbeit vorher hat sich gelohnt, der abend durch euch ein besonderes erlebnis: ihr habt die herzen gewärmt und erreicht.
alle haben nachher begeistert von den schönen frauen gesprochen, und es gibt einige, die euch von der stelle weg heiraten wollen. (die frage nach den kochkünsten konnte ich ja positiv beantworten !)
"fusserln hams schöne, aber könnens auch kochen ?"

zu lesung 2:
offenbar banausInnen

testsiegerin - 13. Dez, 18:02

endlich bemerkt jemand meine schönen leseschuhen, in denen ich nur lesen, nicht aber gehen kann ;-)
ich hätt bleiben und essen sollen.
aber das weiß man immer erst nachher.
la-mamma - 13. Dez, 18:55

du bist auf jeden fall immer noch viel zu dezent -

jetzt haben wir uns miteinander schon viermal(!) so richtig über lokal 2 und vor allem die knausrige und auch inkorrekte wirtin geärgert und du nennst sie nicht! also mach ich das jetzt: zum nichtmehrhingehen: feuerstein in der gumpendorferstraße. lokalname = name der dame. also auch bei gleichem namen und anderer adresse in hinkunft vorsicht walten lassen! ich scoute ab sofort so generell nach was besserem!!!

walküre - 13. Dez, 19:14

Siehst du, und sowas ärgert mich gewaltig: Es gibt Leute, die sich ein Lokal wünschen würden, das so gut geht wie es beim Feuerstein offensichtlich (noch) der Fall ist, und andere treten das, was sie haben, mit Füßen, statt sich darüber zu freuen und sich darüber hinaus für kulturell tragfähige Events zu begeistern. Dumme Nuss, das.
testsiegerin - 13. Dez, 22:56

angeblich sperrt sie zu, hieß es gestern.
wundert mich nicht wirklich.
und ja, ich bin viel zu dezent. und zu feige.
und lass uns bald eine geeignete location finden, mit einem extrazimmer, in dem es leise ist.
Side Affects - 13. Dez, 19:00

ich glaub`,

ich wäre abgehauen.

testsiegerin - 13. Dez, 22:58

wäre wohl klüger gewesen.
aber mit den paar leuten, die zugehört (und nicht viel verstanden) haben, war es dann ja doch noch ganz schön.
ich werd so einen theatralischen abgang noch üben, bevor ich ihn dann eines tages durchziehe.
den störefrieden das glas wein ins gesicht schütten. schimpfen. türe zuknallen. und aus.
bonanzaMARGOT - 14. Dez, 20:38

jedem tierchen sein plaisierchen.
ich würde lieber mit außerirdischen frühstücken.

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

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