Mittwoch - Das Erbe

Doktor Josef Kolletschka lag reglos in seinem Schrein. Aber Doktor Kolletschka war nicht tot, sondern nur vorübergehend erkrankt. Bei dem vermeintlichen Sarg handelte es sich um das Bett des Kranken, ein riesiges Ungetüm aus dunklem Holz. Eiche brutal nannten die Spötter den Stil, der die ganze Wohnung dominierte. Banausen nannte Kolletschka die Spötter.

Er war stolz auf sein Doppelsargbett. Es war im gleichen Jahr hergestellt worden wie er selbst, nämlich 1949. Mit großer Wahrscheinlichkeit war er selbst sogar genau in diesem Bett hergestellt worden, aber seine Eltern hatten darüber diskret geschwiegen und es ziemte sich nicht, danach zu fragen. Sie hätten ihm diese Frage schon zu Lebzeiten nicht beantwortet, aber inzwischen schwiegen sie für immer.
Doktor Kolletschka mochte alte Dinge, deshalb umgab er sich mit finsteren Eichenmöbeln und kaltem Zinngeschirr. Alte Menschen mochte er hingegen nicht, obwohl die meisten seiner Patienten alt waren. Im Grunde genommen mochte er überhaupt keine Menschen.

Er betrachtete ungläubig das Fieberthermometer. Siebenunddreißig Komma neun Grad Celsius waren ein enttäuschend niedriges Ergebnis. Er empfand die gleiche Unzufriedenheit wie beim wöchentlichen Studium seiner Aktienkurse. Seine Kopf- und Gliederschmerzen fühlten sich nach mindestens neununddreißig Grad an. Rechnete man das Kratzen im Hals, die verstopfte Nase und den Husten dazu, so kam man locker auf vierzig Grad Celsius.
„Streichen Sie alle Termine, Frau Schnitzler“, röchelte er erbärmlicher als nötig ins Telefon, „ich kann heute keine Ordination abhalten. Ich habe Fieber.“
„Ungefähr vierzig“, fügte er nach kurzer Bedenkzeit noch hinzu.
Beim Gedanken daran brach ihm der Schweiß aus und sein Herz begann heftig zu klopfen. Oh Gott, so hohes Fieber, kam es ihm in den Sinn. Bei Jakob Kolletschka, seinem bedeutenden Urahnen, hatte es genau so angefangen, und ein paar Tage später war er tot. Einer seiner Studenten hatte ihn beim Sezieren mit dem Skalpell an der Hand verletzt, und dann war das Fieber ausgebrochen. Josef Kolletschka hatte das letzte Mal während seines Medizinstudiums seziert, vor mehr als dreißig Jahren. Aber vielleicht hatte er sich am Vorabend beim Wurstschneiden in den Finger geritzt, ohne es zu bemerken. Womöglich hatte er die Hände ausgerechnet nach diesem Abendessen nicht sorgfältig genug desinfiziert.

Es ist meine Bestimmung, dachte er, mich wird das gleiche Unheil ereilen wie Jakob und ich werde elendiglich daran zu Grunde gehen. Er war seit der Jugend überzeugt davon, dass sein Schicksal mit dem seines Vorfahren untrennbar verwoben war. „Guter Gott“, betete er, „wenn es dein Wille ist, dass ich auf diese Weise sterbe, dann soll es so sein. Ich lege mein Leben in deine Hand.“
Er machte ein Kreuzzeichen auf Stirn, Kinn und Brust. Aber dann überlegte er es sich noch einmal und schüttelte energisch den Kopf. Nein. Niemals. Oder wenigstens nicht heute. Wenn er jetzt das Zeitliche segnete, würde vermutlich so ein dahergelaufener Berufsanfänger kommen, irgendwelche Zusammenhänge zwischen seinem Tod und einer noch unbekannten Krankheit herausfinden und sich auf seine Kosten profilieren. Während er, Medizinalrat Dr. med. Josef Kolletschka, lediglich als Randbemerkung in die Medizingeschichte einging, würde die ganze Welt von diesem Nachwuchsdoktor reden – wie damals bei Ignaz Semmelweis.

„Margarethe!“, rief er nach seiner Frau, die wie ein treuer Dackel sofort an seinem Bett erschien. Sie tat das nicht nur, wenn er krank war, sondern wann immer er sie herbei zitierte. Der Dackel selbst täuschte bereits seit einigen Jahren eine Altersschwerhörigkeit vor, um nicht mehr auf Befehl antanzen zu müssen.
„Wo ist das verdammte Aspirin, Margarethe?“
„Wir haben kein Aspirin, Josef.“ Sie verschwieg lieber, dass er die letzten Tabletten in einem Wutanfall in die Toilette gespült hatte, um nicht den nächsten seiner Ausbrüche zu provozieren.
„Dann besorg welches, aber schnell. Und ein Antibiotikum.“
„Nicht aufregen, Josef. Dein Herz.“
Sie brachte ihm Kugelschreiber und Rezeptblock und er kritzelte etwas Unleserliches darauf. Die örtlichen Apotheker hatten es längst aufgegeben, Kolletschkas Rezepte zu entziffern. Sie hatten ihn auch irgendwann nicht mehr angerufen, da der Arzt sich zumeist nicht an die Verordnung erinnern konnte und er die Apotheker dann am Telefon schon mal als blinde Maulwürfe oder Analphabeten beschimpfte.
Kolletschka hörte, wie Margarethe und Maxl aus der Tür huschten. Jetzt war er ganz allein in dem großen Haus. Die alte Pendeluhr an der Wand pendelte und tickte. Tickte die Sekunden seines Lebens herunter. Er zählte mit. Als er bei der Zahl Siebenundneunzig angekommen war, hörte sie plötzlich auf zu ticken. Er griff sich ans Herz. Was, wenn auch das einfach aufhörte zu schlagen? Wenn seine Zeit abgelaufen war? Sein Blick wanderte zur Wand gegenüber, die mit unzähligen Zinntellern geschmückt war. Für einen Laien sah ein Teller aus wie der andere. Für Kolletschka auch, aber das spielte keine Rolle. Hauptsache, sie waren groß und sie waren alt. Trotzdem sprang ihm ein Objekt besonders ins Auge. Es war aus dem Jahr 1803, dem Geburtsjahr von Urahn Jakob. Wäre der nicht von diesem dilettantischen Studenten verletzt worden, hätte er gemeinsam mit Semmelweis das Kindbettfieber besiegt, oder sogar statt seiner. Eine Klinik wäre nach ihm benannt worden und er selbst, Josef Kolletschka, einer der wenigen Nachfahren, wäre dort Primar – reich, berühmt und geachtet.
Er fühlte seinen Puls. 104. Viel zu schnell.
Wo Margarethe nur blieb? Sie sollte längst zurück sein. Er machte sich Sorgen. Nicht um seine Frau, nein, der würde schon nichts zustoßen. Um sich selbst sorgte er sich. Was, wenn die Krankheit schneller als befürchtet fortschritt und er mutterseelenallein an einer Sepsis starb?

Es war in Wien, es war im März und es war das Jahr 1847. In der geburtshilflichen Abteilung des Allgemeinen Krankenhauses, starben die Mütter reihenweise und ließen ihre Neugeborenen als Halbwaisen zurück. Die unerklärliche Krankheit begann und endete mit hohem Fieber. In den Autopsien fanden sich Entzündungen in den verschiedensten Organen, aber keine Erklärung für den massenhaften Tod.
Doktor Ignaz Semmelweis bewunderte Professor Jakob Kolletschka schon lange. In diesem März 1847 aber bewunderte er nur noch dessen innere Organe, die auf dem Seziertisch vor ihm lagen. Professor Kolletschka war an der gleichen Krankheit gestorben wie all die jungen Mütter. Tod durch Sepsis, so hätte heute die Diagnose gelautet. Überschwemmung des Körpers mit Bakterien.


Und jetzt, an diesem Mittwoch, spürte Josef Kolletschka, wie die todbringende Seuche auch ihn überfiel.
Noch bevor er das Zeitliche segnen konnte, klingelte allerdings das Telefon. Wenn das Telefon klingelt, dann hört der Mensch des einundzwanzigsten Jahrhunderts schlagartig auf zu essen und zu trinken, er stellt den Fernseher leise und hält inne beim Verprügeln der Kinder. Er hört sogar auf zu sterben.

Fortsetzung folgt...
la-mamma - 31. Aug, 18:48

ich glaub,

von den bettgeschichten brauch ich die gebundene ausgabe. aber mit der nachlese wär ich jetzt "up to mittwoch";-)

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

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