Dienstag II
Der Pfarrer hatte zwar Nächstenliebe gepredigt, Irina aber dafür verachtet, dass sie beim Arzt Liebe und Trost gesucht hatte, anstatt jahrelang zu trauern. Sogar von der Kanzel herunter hatte er sie an den Pranger gestellt und dem Spott der Menschen preisgegeben. So lange, bis Irina das nicht mehr ertragen konnte und ihrem Leben mit Schlaftabletten ein Ende machte.
„Mein Enkelsohn ist ein guter Junge“, kehrte Justina wieder in die Gegenwart zurück. „Er studiert ... er studiert ... was studierst du noch mal, Andreas?“
„Kunst, Oma.“
„Ach ja, stellen Sie sich vor, er zeichnet Füße. Sogar meine hat er schon mal gemalt. Dabei hat Schwester Radina tausendmal schönere Füße als ich.“
Ganz unwillkürlich wanderte sein Blick an Radinas Beinen herunter. Wahrhaftig hatte sie ausgesprochen hübsche Füße. Und auch die Unterschenkel waren nicht übel. In Gedanken zog bereits seine Melonenbutter duftend in ihre Waden ein.
„Ich muss mal pinkeln“, unterbrach Justina seine Melonenwadenfantasien.
Radina seufzte. Natürlich hätte sie jetzt sagen können: „Ein paar Minuten eher konnte Ihnen das wohl nicht einfallen?“, aber es war ohnehin ungewiss, ob Justina sich an ein paar Minuten zuvor hätte erinnern können. Außerdem konnte die alte Frau nichts dafür, wenn sie aufs Klo musste. Radina dachte daran, wie ihr Vater auf Reisen immer geschimpft hatte, wenn er im Viertelstundentakt den klapprigen Skoda an den Straßenrand fahren musste, weil ihre Mutter, ihre Schwester oder sie selbst um eine Pinkelpause gebeten hatten.
Bei allem Verständnis war es jedoch so, dass Bettschüsseln einer aufkeimenden romantischen Stimmung nicht sehr zuträglich waren.
Justina hatte die Zeit des Bauchkribbelns längst hinter sich. Bei ihr kribbelten höchstens noch die Füße, wenn sie wieder einmal eingeschlafen waren. Die brauchten dazu nicht einmal Schlaftabletten.
Radina verließ mit der vollen Schüssel das Zimmer und Andreas kam wieder herein. So viel Würde hatte Justina sich bewahrt, dass sie nicht in Gegenwart anderer Menschen urinierte.
„Am Sonntag gehe ich heim“, verkündete die alte Frau und ihr Enkelsohn stutzte. Wie meinte seine Großmutter das? War sie nur verwirrt oder fühlte sie tatsächlich den Tod näher kommen?
„Geht es dir nicht gut, Oma?“
„Natürlich geht es mir nicht gut. Schau nur, wie sie mich untergebracht haben. Das ist nicht das Fürstenzimmer, das ich in den letzten Jahren hatte, sondern nur eine einfache Kammer fürs Personal. Und all die hässlichen Bilder an den Wänden. Ich würde ja schon eher abreisen, aber ich habe mich so auf das Konzert am Samstag gefreut.“
Andreas atmete erleichtert auf und überflog die Fotos von Justinas Mann, Geschwistern, Kindern und Kindeskindern. Sie hatte also nicht vor am Sonntag zu sterben.
„Ich werde mit der Hotelleitung sprechen und veranlassen, dass du ein komfortableres Zimmer bekommst“, ging er auf ihre Gedanken ein. Wenn Justina im Hotel Fürstenhof residierte, dann war sie eben im Hotel Fürstenhof, und seine Aufgabe war es, das Beste daraus zu machen. In ein oder zwei Stunden würde sie ihren Urlaub in Kärnten ohnehin beendet haben.
„Was spielen sie denn?“, lenkte er ihre Gedanken wieder auf das Konzert.
„Mein Gott, Bub, du bist aber auch wirklich vergesslich. Smetana spielen sie. Má vlast.“
Mit feierlicher Stimme intonierte sie nun Die Moldau und Andreas lief eine Gänsehaut über den Rücken. Seine Großeltern hatten ihre vier Flittertage am Böhmischen Meer verbracht, dort wo Kalte und Warme Moldau und Franz und Justina eins wurden.
Sie hatte ihm das Stück oft vor dem Einschlafen vorgesummt, denn Kinderlieder hatte sie nie leiden können. Wenn er das Wochenende bei ihr verbrachte, frühstückten sie am Sonntag im Bett, Würstel mit Senf und aufgebackenen Semmeln. Justina legte dazu die Hans Moser-Schallplatte auf und mit vollem Mund nuschelten sie mit.
„I muaß im frühern Lebn eine Reblaus gwesen sein“, stimmte Andreas an, als Justina die Ufer der Moldau hinter sich gelassen hatte und sie folgte ihm in den Weingarten:
„Ja, sonst wär die Sehnsucht nicht so groß nach einem Wein
Drum tu den Wein ich auch nicht trinken sondern beißen
I hob den Rotn grod so gearn als wie den Weißn.“
Justina biss sich auf die Unterlippe. „Deine Mutter hat fürchterlich mit mir geschimpft, dass ich einem Sechsjährigen solche Lieder beibringe.“
„Ich muss dann los, Oma. Ich hab Sverre versprochen, die Küche sauberzumachen.“
„Wer ist Sverre?“, fragte sie, doch dann huschte ein kleines Stück Erinnerung vorbei. „Ach, der Schwede, der bei dir wohnt.“
„Der Schwede ist Norweger, Oma, und ich wohne bei ihm, nicht er bei mir.“
„Grüß ihn schön von mir. Ich war nämlich auch schon mal in Schweden. Sogar in Stockholm.“
„Ja, Oma.“ Bestimmt war Sverre auch schon mal in Stockholm gewesen und würde sich über Justinas Grüße freuen. Er küsste sie auf beide Wangen. „Bis nächste Woche.“
„Vergiss die Melonenkörperbutter nicht“, zwinkerte Justina ihm zu, „sonst ist Schwester Radina traurig.“
„Wann bin ich traurig?“ Auf schönen Beinen wurde das Abendbrot zur Tür herein gebracht.
Justina kicherte und Andreas wurde schon wieder rot.
„Wenn sie nicht brav alles aufisst, was Sie ihr bringen“, rettete er sich aus der Situation und entschwand.
Radina schüttelte Kissen und Decke auf, öffnete das Fenster, setzte Justina im Bett auf und bereitete ihr die Brote zu.
„Glauben Sie, der hätte sich bei Irinas Familie wenigstens entschuldigt? Kein Wort ist ihm über seine Lippen gekommen. Wahrscheinlich hat er nicht einmal ein schlechtes Gewissen gehabt, dieser Saukerl. Dabei hätte er sich in Grund und Boden schämen müssen.“ Radina verstand zwar kein Wort von dem, was Justina da sagte, nickte aber bestätigend.
„Ja, Saukerl der. Und jetzt lassen Sie es sich schmecken. Bis gleich.“
Als Radina das Zimmer wieder betrat, sah Justina selbst aus wie ein Saukerl. Die Decke war mit Liptauer bekleckert, das halbe Ei steckte im Ausschnitt des Nachthemds, die Tomaten ruhten zermatscht in Justinas Hüftbeuge und der Früchtetee war überall, nur nicht in der Tasse. Die lag nämlich zerbrochen unter dem Bett. Mitten in diesem Chaos steckte Justina, völlig verrenkt, mit hochgestellten Beinen und weinte.
„Was ist denn hier passiert?“
„Ich wollte mir doch nur die Nachrichten anschauen“, schluchzte Justina.
„Ach, Frau Schilling.“ Radina strich ihr beruhigend über das Haar und befreite sie aus ihrer Lage. „Sie haben die elektrische Bedienung für das Bett erwischt.“
„Manchmal ist es gar nicht lustig, so alt zu sein, das können Sie mir glauben.“
Radina nickte, denn sie glaubte ihr aufs Wort.
„Früher gab es solche verrückten Betten noch gar nicht. Im Lazarett hatten wir Feldbetten, da mussten wir immer aufpassen, dass die Soldaten nicht umkippten damit.“ Sie kicherte. „Meistens kippten sie nachts um, wenn sie es sich selbst machten. Das war bestimmt nicht so leicht mit einem geschienten Arm oder einem amputierten Bein.“
„Frau Schilling!“ Radina prustete laut vor Lachen und ließ die aufgesammelten Scherben wieder fallen.
„Ach, sie haben mir Leid getan, aber dafür waren wir nun wirklich nicht auch noch zuständig. Und dann kamen auch noch die Nonnen und haben sie ausgeschimpft. Aber aus der Kirche bin ich wegen dem Pater August ausgetreten.“
„Das haben Sie mir noch gar nicht erzählt. Möchten Sie dann keine ... ähm ... letzte Ölung, wenn es soweit ist?“ Radina biss sich auf die Unterlippe. Es fiel ihr immer noch schwer, das Thema Tod anzusprechen, aber den meisten Bewohnern war es wichtig, solche Dinge vorher zu klären und wenigstens im Sterben die Würde zu bewahren.
„Versprechen Sie mir eines, Schwester... wie war noch mal Ihr Name, Kindchen?“
„Radina.“
„Ah ja. Versprechen Sie mir...“ Völlig unerwartet schlug Justina mit der flachen Hand auf ihr Nachttischchen, so dass Radina abermals die Scherben aus der Hand fielen, und fuhr mit bebender Stimme fort:„...dass sie mir die Pfaffen vom Leib halten, wenn ich tot bin? Und vorher gefälligst auch!“
Radina ließ die Scherben liegen und griff nach Justinas Hand. „Frau Schilling, was ist mit Ihnen?“
Justina krallte ihre knorrigen Finger in Radinas Unterarm.
„Eines Tages war er wieder da, Irinas Mann, alt und ausgezehrt, obwohl er noch keine vierzig war, zurück aus der russischen Kriegsgefangenschaft. Er hat nach Irina gefragt, und alle waren sie zu feige, ihm zu sagen, was passiert ist. Also haben sie ihn zu mir geschickt. Ich hab uns einen doppelten Slibowitz eingeschenkt und ihm die Wahrheit erzählt.“
Eine lange Pause folgte. Eine Pause, in der Radina das Schweigen nicht unterbrach oder nachbohrte, sondern einfach da saß und wartete.
„Nein, nicht die ganze Wahrheit. Ich hab ihm nicht gesagt, dass Irina einen Anderen gehabt hat, das spielte doch längst keine Rolle mehr. Nur, dass sie ihrem Leben ein Ende gemacht hat. Warum, warum, warum? hat er gebrüllt und mich verzweifelt angeschaut. Pater August, hab ich geflüstert. Er ist schuld.“
Jetzt traten Tränen in Justinas Augen und flossen ungehindert über ihre Wangen. „So hab ich mich mitschuldig gemacht.“
Radina blickte sie fragend an.
„Am nächsten Morgen war Irinas Mann wieder weg und Pater August lag erstochen in der Sakristei. Ich hab geschwiegen. Nicht einmal gebeichtet hab ich. Wem auch?“
„Möchten Sie das nachholen?“, fragte Radina einfühlsam.
Energisch schüttelte Justina den Kopf. „Nein, danke. Nicht auf leeren Magen. Nicht einmal mit vollem.“
„Soll ich Ihnen noch ein Joghurt bringen, Frau Schilling?“
„Ach, geben Sie das doch der Katze. Ich hätte jetzt gern ein kleines Gulasch, Fräulein. Mit einer Semmel und grünem Salat. Und dann bringen Sie mir die Rechnung, bitte. Ich muss danach zum Konzert. Die Moldau.“
Heute abend oder morgen, je nach Stimmung: Mittwoch
„Mein Enkelsohn ist ein guter Junge“, kehrte Justina wieder in die Gegenwart zurück. „Er studiert ... er studiert ... was studierst du noch mal, Andreas?“
„Kunst, Oma.“
„Ach ja, stellen Sie sich vor, er zeichnet Füße. Sogar meine hat er schon mal gemalt. Dabei hat Schwester Radina tausendmal schönere Füße als ich.“
Ganz unwillkürlich wanderte sein Blick an Radinas Beinen herunter. Wahrhaftig hatte sie ausgesprochen hübsche Füße. Und auch die Unterschenkel waren nicht übel. In Gedanken zog bereits seine Melonenbutter duftend in ihre Waden ein.
„Ich muss mal pinkeln“, unterbrach Justina seine Melonenwadenfantasien.
Radina seufzte. Natürlich hätte sie jetzt sagen können: „Ein paar Minuten eher konnte Ihnen das wohl nicht einfallen?“, aber es war ohnehin ungewiss, ob Justina sich an ein paar Minuten zuvor hätte erinnern können. Außerdem konnte die alte Frau nichts dafür, wenn sie aufs Klo musste. Radina dachte daran, wie ihr Vater auf Reisen immer geschimpft hatte, wenn er im Viertelstundentakt den klapprigen Skoda an den Straßenrand fahren musste, weil ihre Mutter, ihre Schwester oder sie selbst um eine Pinkelpause gebeten hatten.
Bei allem Verständnis war es jedoch so, dass Bettschüsseln einer aufkeimenden romantischen Stimmung nicht sehr zuträglich waren.
Justina hatte die Zeit des Bauchkribbelns längst hinter sich. Bei ihr kribbelten höchstens noch die Füße, wenn sie wieder einmal eingeschlafen waren. Die brauchten dazu nicht einmal Schlaftabletten.
Radina verließ mit der vollen Schüssel das Zimmer und Andreas kam wieder herein. So viel Würde hatte Justina sich bewahrt, dass sie nicht in Gegenwart anderer Menschen urinierte.
„Am Sonntag gehe ich heim“, verkündete die alte Frau und ihr Enkelsohn stutzte. Wie meinte seine Großmutter das? War sie nur verwirrt oder fühlte sie tatsächlich den Tod näher kommen?
„Geht es dir nicht gut, Oma?“
„Natürlich geht es mir nicht gut. Schau nur, wie sie mich untergebracht haben. Das ist nicht das Fürstenzimmer, das ich in den letzten Jahren hatte, sondern nur eine einfache Kammer fürs Personal. Und all die hässlichen Bilder an den Wänden. Ich würde ja schon eher abreisen, aber ich habe mich so auf das Konzert am Samstag gefreut.“
Andreas atmete erleichtert auf und überflog die Fotos von Justinas Mann, Geschwistern, Kindern und Kindeskindern. Sie hatte also nicht vor am Sonntag zu sterben.
„Ich werde mit der Hotelleitung sprechen und veranlassen, dass du ein komfortableres Zimmer bekommst“, ging er auf ihre Gedanken ein. Wenn Justina im Hotel Fürstenhof residierte, dann war sie eben im Hotel Fürstenhof, und seine Aufgabe war es, das Beste daraus zu machen. In ein oder zwei Stunden würde sie ihren Urlaub in Kärnten ohnehin beendet haben.
„Was spielen sie denn?“, lenkte er ihre Gedanken wieder auf das Konzert.
„Mein Gott, Bub, du bist aber auch wirklich vergesslich. Smetana spielen sie. Má vlast.“
Mit feierlicher Stimme intonierte sie nun Die Moldau und Andreas lief eine Gänsehaut über den Rücken. Seine Großeltern hatten ihre vier Flittertage am Böhmischen Meer verbracht, dort wo Kalte und Warme Moldau und Franz und Justina eins wurden.
Sie hatte ihm das Stück oft vor dem Einschlafen vorgesummt, denn Kinderlieder hatte sie nie leiden können. Wenn er das Wochenende bei ihr verbrachte, frühstückten sie am Sonntag im Bett, Würstel mit Senf und aufgebackenen Semmeln. Justina legte dazu die Hans Moser-Schallplatte auf und mit vollem Mund nuschelten sie mit.
„I muaß im frühern Lebn eine Reblaus gwesen sein“, stimmte Andreas an, als Justina die Ufer der Moldau hinter sich gelassen hatte und sie folgte ihm in den Weingarten:
„Ja, sonst wär die Sehnsucht nicht so groß nach einem Wein
Drum tu den Wein ich auch nicht trinken sondern beißen
I hob den Rotn grod so gearn als wie den Weißn.“
Justina biss sich auf die Unterlippe. „Deine Mutter hat fürchterlich mit mir geschimpft, dass ich einem Sechsjährigen solche Lieder beibringe.“
„Ich muss dann los, Oma. Ich hab Sverre versprochen, die Küche sauberzumachen.“
„Wer ist Sverre?“, fragte sie, doch dann huschte ein kleines Stück Erinnerung vorbei. „Ach, der Schwede, der bei dir wohnt.“
„Der Schwede ist Norweger, Oma, und ich wohne bei ihm, nicht er bei mir.“
„Grüß ihn schön von mir. Ich war nämlich auch schon mal in Schweden. Sogar in Stockholm.“
„Ja, Oma.“ Bestimmt war Sverre auch schon mal in Stockholm gewesen und würde sich über Justinas Grüße freuen. Er küsste sie auf beide Wangen. „Bis nächste Woche.“
„Vergiss die Melonenkörperbutter nicht“, zwinkerte Justina ihm zu, „sonst ist Schwester Radina traurig.“
„Wann bin ich traurig?“ Auf schönen Beinen wurde das Abendbrot zur Tür herein gebracht.
Justina kicherte und Andreas wurde schon wieder rot.
„Wenn sie nicht brav alles aufisst, was Sie ihr bringen“, rettete er sich aus der Situation und entschwand.
Radina schüttelte Kissen und Decke auf, öffnete das Fenster, setzte Justina im Bett auf und bereitete ihr die Brote zu.
„Glauben Sie, der hätte sich bei Irinas Familie wenigstens entschuldigt? Kein Wort ist ihm über seine Lippen gekommen. Wahrscheinlich hat er nicht einmal ein schlechtes Gewissen gehabt, dieser Saukerl. Dabei hätte er sich in Grund und Boden schämen müssen.“ Radina verstand zwar kein Wort von dem, was Justina da sagte, nickte aber bestätigend.
„Ja, Saukerl der. Und jetzt lassen Sie es sich schmecken. Bis gleich.“
Als Radina das Zimmer wieder betrat, sah Justina selbst aus wie ein Saukerl. Die Decke war mit Liptauer bekleckert, das halbe Ei steckte im Ausschnitt des Nachthemds, die Tomaten ruhten zermatscht in Justinas Hüftbeuge und der Früchtetee war überall, nur nicht in der Tasse. Die lag nämlich zerbrochen unter dem Bett. Mitten in diesem Chaos steckte Justina, völlig verrenkt, mit hochgestellten Beinen und weinte.
„Was ist denn hier passiert?“
„Ich wollte mir doch nur die Nachrichten anschauen“, schluchzte Justina.
„Ach, Frau Schilling.“ Radina strich ihr beruhigend über das Haar und befreite sie aus ihrer Lage. „Sie haben die elektrische Bedienung für das Bett erwischt.“
„Manchmal ist es gar nicht lustig, so alt zu sein, das können Sie mir glauben.“
Radina nickte, denn sie glaubte ihr aufs Wort.
„Früher gab es solche verrückten Betten noch gar nicht. Im Lazarett hatten wir Feldbetten, da mussten wir immer aufpassen, dass die Soldaten nicht umkippten damit.“ Sie kicherte. „Meistens kippten sie nachts um, wenn sie es sich selbst machten. Das war bestimmt nicht so leicht mit einem geschienten Arm oder einem amputierten Bein.“
„Frau Schilling!“ Radina prustete laut vor Lachen und ließ die aufgesammelten Scherben wieder fallen.
„Ach, sie haben mir Leid getan, aber dafür waren wir nun wirklich nicht auch noch zuständig. Und dann kamen auch noch die Nonnen und haben sie ausgeschimpft. Aber aus der Kirche bin ich wegen dem Pater August ausgetreten.“
„Das haben Sie mir noch gar nicht erzählt. Möchten Sie dann keine ... ähm ... letzte Ölung, wenn es soweit ist?“ Radina biss sich auf die Unterlippe. Es fiel ihr immer noch schwer, das Thema Tod anzusprechen, aber den meisten Bewohnern war es wichtig, solche Dinge vorher zu klären und wenigstens im Sterben die Würde zu bewahren.
„Versprechen Sie mir eines, Schwester... wie war noch mal Ihr Name, Kindchen?“
„Radina.“
„Ah ja. Versprechen Sie mir...“ Völlig unerwartet schlug Justina mit der flachen Hand auf ihr Nachttischchen, so dass Radina abermals die Scherben aus der Hand fielen, und fuhr mit bebender Stimme fort:„...dass sie mir die Pfaffen vom Leib halten, wenn ich tot bin? Und vorher gefälligst auch!“
Radina ließ die Scherben liegen und griff nach Justinas Hand. „Frau Schilling, was ist mit Ihnen?“
Justina krallte ihre knorrigen Finger in Radinas Unterarm.
„Eines Tages war er wieder da, Irinas Mann, alt und ausgezehrt, obwohl er noch keine vierzig war, zurück aus der russischen Kriegsgefangenschaft. Er hat nach Irina gefragt, und alle waren sie zu feige, ihm zu sagen, was passiert ist. Also haben sie ihn zu mir geschickt. Ich hab uns einen doppelten Slibowitz eingeschenkt und ihm die Wahrheit erzählt.“
Eine lange Pause folgte. Eine Pause, in der Radina das Schweigen nicht unterbrach oder nachbohrte, sondern einfach da saß und wartete.
„Nein, nicht die ganze Wahrheit. Ich hab ihm nicht gesagt, dass Irina einen Anderen gehabt hat, das spielte doch längst keine Rolle mehr. Nur, dass sie ihrem Leben ein Ende gemacht hat. Warum, warum, warum? hat er gebrüllt und mich verzweifelt angeschaut. Pater August, hab ich geflüstert. Er ist schuld.“
Jetzt traten Tränen in Justinas Augen und flossen ungehindert über ihre Wangen. „So hab ich mich mitschuldig gemacht.“
Radina blickte sie fragend an.
„Am nächsten Morgen war Irinas Mann wieder weg und Pater August lag erstochen in der Sakristei. Ich hab geschwiegen. Nicht einmal gebeichtet hab ich. Wem auch?“
„Möchten Sie das nachholen?“, fragte Radina einfühlsam.
Energisch schüttelte Justina den Kopf. „Nein, danke. Nicht auf leeren Magen. Nicht einmal mit vollem.“
„Soll ich Ihnen noch ein Joghurt bringen, Frau Schilling?“
„Ach, geben Sie das doch der Katze. Ich hätte jetzt gern ein kleines Gulasch, Fräulein. Mit einer Semmel und grünem Salat. Und dann bringen Sie mir die Rechnung, bitte. Ich muss danach zum Konzert. Die Moldau.“
Heute abend oder morgen, je nach Stimmung: Mittwoch
testsiegerin - 30. Aug, 09:33