Montag III
Er erhob sich aus dem Bett, um die Tür aufzusperren.
„Komm halt rein“, sagte er. Tristan ließ sich nicht bitten und kam ohne Umschweife zur Sache.
„Ich hab das alles mal durchgerechnet und ich weiß nicht, wie ich das Geld für die ganzen Versicherungen aufbringen soll.“ Er hielt Sverre das hundertundfünfzig Seiten dicke Konvolut hin.
„Ich bin zwar kein Jurist, aber hast du nicht ein vierzehntägiges Rücktrittsrecht?“, sagte der beim Durchblättern.
„Ich hab vor drei Wochen unterschrieben und dann völlig drauf vergessen. Die Bronzefigur Fuß.Note nimmt gerade meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Erst heute ist es mir wieder zufällig eingefallen, als der Erlagschein in der Post war.“
Sverre griff unter das Bett und kramte die Flasche hervor. „Auf Harry Hole“, verkündete er, bevor er einen kräftigen Schluck nahm.
„Ich hol uns Gläser.“ Tristan, der um den Preis der Grappa wusste, verschwand in der Küche und brachte die beiden kleinsten Saftgläser, die er finden konnte. Sie tranken dadurch zwar langsamer, aber nicht weniger.
„Wann genau hast du unterschrieben?“, versuchte Sverre mit bereits unsicherer Zunge eine Rückkehr zur Rationalität.
„Steht doch da“, lallte Tristan zurück.
„Du sagtest vor drei Wochen. Wann soll das gewesen sein?“
„Morgen vor drei Wochen genau. Am einundzwanzigsten, dem Geburtstag meiner Mutter.“
„Hier steht aber der einunddreißigste.“
Tristan glotzte auf die letzte Zeile des Formulars, auf dem die Buchstaben und Zahlen vor seinen Augen wie betrunkene Matrosen hin und her torkelten. „Es gibt einen Gott“, flüsterte er und trank den letzten Schluck Grappa direkt aus der Flasche.
„Mein Name ist Hole“, brabbelte Sverre, „Harry Hole.“
Er konnte in diesem Zustand weder Schispringer fassen noch Mörder massieren, geschweige denn konnte er einen geraden Satz formulieren. Da aber durch den klaren Schnaps sein Bewusstsein getrübt war, war er sich dessen nicht bewusst. „Ich bin noch ganz nüchtern“, war er überzeugt, wie die meisten Betrunkenen.
Das Relevanzrisiko in verhaltenen Differenzialbeziehungen mit großen und kleinen Intervallen, kritzelte er in sein Manuskript, ist sehr, sehr kompliziert. Vor allem wegen der zweiseitigen Schwankung und der Maßnahmen. Gezeichnet, DDr. Mag. Sverre Solskjær.
Das war noch nicht einmal gelogen, denn gezeichnet war Sverre in der Tat.
Tristan war so freundlich, sein eigenes Gemach aufzusuchen, bevor er sich von Morpheus Armen gefangen nehmen ließ, denn er schnarchte und redete laut im Schlaf, wenn er betrunken war.
Sverre hingegen wurde in diesem Zustand erst richtig munter, und so begann er sich über den Versicherungsvertrag herzumachen. Er vergaß dabei völlig, dass nicht er selbst, sondern sein Freund der Versicherungsnehmer war. Dass nach neunzehn Uhr in der Agentur ohnehin niemand mehr auf einen Kundenanruf wartete, kam ihm erst gar nicht in den Sinn. Er würde das Problem jetzt aus der Welt schaffen. Also machte er es sich richtig gemütlich im Bett und wählte die Nummer, die oben rechts auf der ersten Seite des Vertrages angegeben war. Die Versicherungspolizzennummer.
„Hallo?“, meldete sich eine Frauenstimme. Das ist ja wie in amerikanischen Spielfilmen, dachte Sverre, da melden sie sich auch nie mit ihrem Namen.
„Rate, wer hier ist“, war die Antwort, die er für angemessen hielt.
Offensichtlich war im Versicherungsbüro gerade Flaute, denn die Frau spielte mit.
„Alexander? ... Boris? ... Christian?“ Aha, sie ging alphabetisch vor. Das würde dauern, aber es störte Sverre nicht weiter, denn sie hatte eine angenehme Stimme. Eine brünett-sportliche Stimme mit langen Beinen.
„Dave? ... Emilio? ... Fredrick?“
Oha, die kam wohl herum in der Welt und kannte eine Menge Männer. Jetzt wird’s gleich spannend, dachte er, als sie bei Quentin und Rufus angekommen war. „Sepp?“
Um Gottes Willen! Sah er etwa wie ein Sepp aus?
„Alles falsch. Hier spricht Sverre. Ich rufe wegen der Versicherung an. Da muss ein Irrtum vorliegen.“
„Hier Eva-Maria. Und ich bin auch ziemlich sicher, dass dort ein Irrtum vorliegt.“
„Legen Sie bitte trotzdem nicht auf, Eva-Maria. Sagen Sie, haben Sie finanziell für Ihre Zukunft vorgesorgt? Wenn ja, was waren Ihre Beweggründe dafür?“
„Wollen Sie mich heiraten oder mir eine Versicherung verkaufen?“
„Muss ich mich sofort entscheiden oder habe ich noch etwas Bedenkzeit?“
Sie lachte. „Ich hab zwar keine Ahnung, wer Sie sind, Sverre, aber immerhin sind Sie bislang das einzig Gute an diesem verfickten Montag.“
Eva-Maria hatte nicht nur eine anregende Stimme, sondern verfügte scheinbar auch über eine ziemlich direkte Ausdrucksweise, die er sonst nur von Männern kannte. Sverre musste wirklich dringend seine Dissertation zum Abschluss bringen. Aber es gab begehrenswertere Dinge auf der Welt als einen Doktortitel.
„Haben Sie morgen Abend schon etwas vor?“ Er entschied sich für eine irrationale Variante.
„Vielen Dank, ich brauche keine Versicherung. Da bin ich versorgt.“
„Vielleicht will ich Sie ja doch heiraten.“
Wieder lachte Eva-Maria. „Sie gehen aber ran, Sverre. Gar nicht schlecht für einen Norddeutschen.“
„Um Himmels Willen. Erst halten Sie mich für einen Sepp und jetzt auch noch für einen Norddeutschen. Ich bin Norweger. Wie...“, er strengte sein benommenes Gehirn an, um wenigstens ein bisschen intelligent rüber zu kommen, „... wie Edvard Munch, Henrik Ibsen und Thor Heyerdahl.“
„Aha.“
„Ja, A-Ha sind auch Norweger.“
„Sind Sie sicher, dass das keine Schweden sind?“
„Ganz sicher. Sie verwechseln das wahrscheinlich mit Abba.“
„Entschuldigung. Ich hoffe ich habe Sie nicht in Ihrem patriotischen Stolz gekränkt.“
„Kein Problem.“ Seine einzigen Probleme im Moment waren sein schwerer Kopf und die Frage, wie er dieses Gespräch am Laufen halten konnte. Dabei war diese Sorge völlig unbegründet, denn Eva-Maria machte keine Anstalten das Telefonat abzubrechen.
„Kennen Sie auch Lasse Kjus, Ole Einar Bjørndalen und Lars Bystøl?“
Wenn die wüsste, dass er Lars regelmäßig die Muskeln lockerte. Aber Sverre war kein Angeber, deshalb sagte er nur „Ja. Aus dem Fernsehen, klar.“
„Kennen Sie auch Harry Hole?“
„Ein Zeichen“, murmelte Sverre. Das war ein Zeichen.
„Sie meinen sicher Das fünfte Zeichen. Das lese ich grad.“
„Soll ich Ihnen verraten, wer der Täter ist?“
„Gerne. Wenn Sie mein nächstes Opfer sein wollen.“
„Wollen Sie mir etwa auch einen Finger abhacken, so wie der Mörder im Roman?“
Eva-Marias Lachen ging in ein Kichern über. „Passen Sie auf, dass ich Ihnen nichts anderes abhacke.“
„Sie scheinen ein gewisses Interesse an mir als Mann zu haben oder irre ich mich?“
„Tut mir leid, was müssen Sie von mir denken?“ Sie räusperte sich. „Ich hatte wohl ein Gläschen Sekt zuviel.“
„Sie sind mir aber eine. Ich trinke nie, wenn ich noch telefonieren muss“, log er dreist.
„Ich natürlich auch nicht, wenn ich selbst anrufe, aber ich wurde ja angerufen.“
„Stimmt. Vielleicht könnten wir das Geschäftliche rasch hinter uns bringen, ehe ich den Grund meines Anrufs vergesse.“
„Ach so, Sie wollen mir ja noch eine Versicherung andrehen.“ Sie seufzte.
„Nein, will ich nicht. Aber meinem Freund hat man eine angedreht und der kann sie sich nicht leisten.“
„Das tut mir aber sehr Leid für Ihren Freund.“
„Ist das alles, was Sie dazu zu sagen haben? Die Polizzennummer lautet 26345607.“
Sie pfiff durch die Zähne. „So ein Zufall. Wie meine Telefonnummer.“
Zum Glück sah sie nicht, wie er errötete. Sverre wechselte schnell das Thema. „Also, haben Sie morgen Abend schon etwas vor? Ich würde Sie gern auf ein weiteres Glas Sekt einladen.“
„Ziemlich riskant, oder? Vielleicht bin ich eine achtzigjährige Witwe und nicht mehr ganz dicht?“
Sverres Instinkt sagte ihm, dass sie siebenundzwanzig und hübsch war. Sein Instinkt hatte ihn allerdings schon öfter hinterhältig belogen.
„Mut zum Risiko birgt nicht nur Gefahren, sondern eröffnet auch Chancen. Außerdem kann ich selbst mit undichten alten Damen über Harry Hole diskutieren.“
„Also gut. Aber warum erst morgen? Warum nicht schon heute?“
Puh. Sverre kam jetzt ins Schwitzen. Es gab genügend Gründe, warum es heute nicht ging, aber keiner dieser Gründe war gut genug, um ihn dieser sportlich-brünetten Eva-Maria auf die Nase zu binden. Erstens war Sverre so besoffen, dass er die Wohnung nicht verlassen konnte, also schied ein Treffen bei ihr oder auf neutralem Boden aus. Zweitens war er nicht weniger besoffen, wenn sie zu ihm käme. Dann wäre er kaum in der Lage, ihr die Tür zu öffnen, ohne auf die Klappe zu fallen. Drittens war er so besoffen, dass - sofern sie seine Erwartungen erfüllte - er ziemlich unsittlich über sie herfallen und ihre Erwartungen in ihn vermutlich maßlos enttäuschen würde. Viertens hatte in dieser Woche Tristan Küchendienst, so dass Eva-Maria durch den Zustand der Küche abgeschreckt worden wäre. Hätte Sverre Küchendienst gehabt, dann wäre Tristan allerdings für das Badezimmer zuständig gewesen, was den Abschreckungseffekt noch vergrößert hätte. Fünftens…
„Sind Sie noch da Sverre?“
„Ähm, ja.“
„Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen.“
„Natürlich nicht. Es ist wegen Tristan.“
„Tristan?“
„Ja, er ist krank.“
„Der Arme. Sie haben Kinder?“ War da eine leise Enttäuschung in Eva-Marias Stimme?
„Nein, nein, keine Kinder. Tristan ist mein Untermieter.“
„Kann sich nicht Isolde um ihn kümmern?“ Die Enttäuschung wurde durch Spott abgelöst.
Woher wusste sie von Isolde? Kannte sie ihn etwa? War sie die pickelige Rothaarige, die in der Statistikvorlesung in der ersten Reihe saß, sich ständig nach ihm umdrehte und ihn anhimmelte? Die war ihm neulich nicht von der Seite gewichen, als er mit Tristan telefoniert und ihn an den Termin beim Tierarzt erinnert hatte. Wer wusste sonst noch von der Katze?
„Also, die beiden haben grad ziemlichen Stress. Sie hat ihm die letzten Fischstäbchen aufgefressen. Entschuldigen Sie bitte die Frage“, stammelte er, „welche Haarfarbe haben Sie?“
„Ich bin naturblond. Warum? Haben Sie Vorurteile?“
Sverre fiel ein Stein vom Herzen. „Keineswegs. Ich hab nur gefragt ... weil ... weil ... Ihre Stimme klingt brünett.“
Eva-Maria lachte. „Keine Angst, ich fresse Ihnen schon nicht die letzten Fischstäbchen auf. In welchem Bezirk wohnen Sie eigentlich?“
„Mitten im Achten.“
„Ah, praktisch. Ich bin aus dem Siebenten. Wissen Sie was? Wenn Sie Tristan nicht allein lassen können, schnapp ich jetzt eine Flasche Wein und schau bei Ihnen vorbei.“
Ihm war schwindelig. Er fasste sich an Brust. Die Zahl der Menschen unter Dreißig, die einen Herzinfarkt erlitten, war in den letzten Jahren dramatisch angestiegen, hatte er gelesen.
„Eva-Maria? Tut mir leid, aber ich lieg’ schon im Bett.“ Das Wörtchen noch durch schon zu ersetzen ging wohl als lässliche Sünde durch.
„Dann stehen Sie doch einfach wieder auf. Oder sind Sie etwa gefesselt?“
„Sie haben aber eine Fantasie.“
„Gefällt Ihnen die Vorstellung, Sverre?“
„Ja“, entfuhr es ihm. „Also nein. Es geht heute wirklich nicht. Tristan. Sie wissen schon. Der arme Kerl. Er braucht mich. Aber morgen, da ist er sicher wieder gesund und besucht seine Oma.“
„Wie rührend. Nur kann ich morgen leider nicht. Da hab ich einen ganz wichtigen Termin in Stockerau. Ich bin nämlich...“
Mit einem Piepton verabschiedeten sich die Akkus in Sverres Mobilteil und brachten Eva-Maria zum Schweigen. Verärgert warf er den Hörer auf die andere Betthälfte, wo noch immer die Kronen Zeitung lag.
Erich Marek startet Tour in Stockerau, stand da. Von dem hatte Sverre noch nie etwas gehört. Vielleicht wollte Eva-Maria auch dort hin. Er las den Artikel und wurde schlagartig nüchtern.
Der beliebte Travestiekünstler beginnt eine Reihe von insgesamt vierundzwanzig Auftritten, die ihn durch ganz Österreich, in die Schweiz und nach Deutschland führen. Marek, der nicht nur äußerlich, sondern auch stimmlich verblüffend echt zur Frau mutiert, wurde berühmt durch seine Rolle als blonde Eva-Maria.
Morgen: Dienstag ;-)
„Komm halt rein“, sagte er. Tristan ließ sich nicht bitten und kam ohne Umschweife zur Sache.
„Ich hab das alles mal durchgerechnet und ich weiß nicht, wie ich das Geld für die ganzen Versicherungen aufbringen soll.“ Er hielt Sverre das hundertundfünfzig Seiten dicke Konvolut hin.
„Ich bin zwar kein Jurist, aber hast du nicht ein vierzehntägiges Rücktrittsrecht?“, sagte der beim Durchblättern.
„Ich hab vor drei Wochen unterschrieben und dann völlig drauf vergessen. Die Bronzefigur Fuß.Note nimmt gerade meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Erst heute ist es mir wieder zufällig eingefallen, als der Erlagschein in der Post war.“
Sverre griff unter das Bett und kramte die Flasche hervor. „Auf Harry Hole“, verkündete er, bevor er einen kräftigen Schluck nahm.
„Ich hol uns Gläser.“ Tristan, der um den Preis der Grappa wusste, verschwand in der Küche und brachte die beiden kleinsten Saftgläser, die er finden konnte. Sie tranken dadurch zwar langsamer, aber nicht weniger.
„Wann genau hast du unterschrieben?“, versuchte Sverre mit bereits unsicherer Zunge eine Rückkehr zur Rationalität.
„Steht doch da“, lallte Tristan zurück.
„Du sagtest vor drei Wochen. Wann soll das gewesen sein?“
„Morgen vor drei Wochen genau. Am einundzwanzigsten, dem Geburtstag meiner Mutter.“
„Hier steht aber der einunddreißigste.“
Tristan glotzte auf die letzte Zeile des Formulars, auf dem die Buchstaben und Zahlen vor seinen Augen wie betrunkene Matrosen hin und her torkelten. „Es gibt einen Gott“, flüsterte er und trank den letzten Schluck Grappa direkt aus der Flasche.
„Mein Name ist Hole“, brabbelte Sverre, „Harry Hole.“
Er konnte in diesem Zustand weder Schispringer fassen noch Mörder massieren, geschweige denn konnte er einen geraden Satz formulieren. Da aber durch den klaren Schnaps sein Bewusstsein getrübt war, war er sich dessen nicht bewusst. „Ich bin noch ganz nüchtern“, war er überzeugt, wie die meisten Betrunkenen.
Das Relevanzrisiko in verhaltenen Differenzialbeziehungen mit großen und kleinen Intervallen, kritzelte er in sein Manuskript, ist sehr, sehr kompliziert. Vor allem wegen der zweiseitigen Schwankung und der Maßnahmen. Gezeichnet, DDr. Mag. Sverre Solskjær.
Das war noch nicht einmal gelogen, denn gezeichnet war Sverre in der Tat.
Tristan war so freundlich, sein eigenes Gemach aufzusuchen, bevor er sich von Morpheus Armen gefangen nehmen ließ, denn er schnarchte und redete laut im Schlaf, wenn er betrunken war.
Sverre hingegen wurde in diesem Zustand erst richtig munter, und so begann er sich über den Versicherungsvertrag herzumachen. Er vergaß dabei völlig, dass nicht er selbst, sondern sein Freund der Versicherungsnehmer war. Dass nach neunzehn Uhr in der Agentur ohnehin niemand mehr auf einen Kundenanruf wartete, kam ihm erst gar nicht in den Sinn. Er würde das Problem jetzt aus der Welt schaffen. Also machte er es sich richtig gemütlich im Bett und wählte die Nummer, die oben rechts auf der ersten Seite des Vertrages angegeben war. Die Versicherungspolizzennummer.
„Hallo?“, meldete sich eine Frauenstimme. Das ist ja wie in amerikanischen Spielfilmen, dachte Sverre, da melden sie sich auch nie mit ihrem Namen.
„Rate, wer hier ist“, war die Antwort, die er für angemessen hielt.
Offensichtlich war im Versicherungsbüro gerade Flaute, denn die Frau spielte mit.
„Alexander? ... Boris? ... Christian?“ Aha, sie ging alphabetisch vor. Das würde dauern, aber es störte Sverre nicht weiter, denn sie hatte eine angenehme Stimme. Eine brünett-sportliche Stimme mit langen Beinen.
„Dave? ... Emilio? ... Fredrick?“
Oha, die kam wohl herum in der Welt und kannte eine Menge Männer. Jetzt wird’s gleich spannend, dachte er, als sie bei Quentin und Rufus angekommen war. „Sepp?“
Um Gottes Willen! Sah er etwa wie ein Sepp aus?
„Alles falsch. Hier spricht Sverre. Ich rufe wegen der Versicherung an. Da muss ein Irrtum vorliegen.“
„Hier Eva-Maria. Und ich bin auch ziemlich sicher, dass dort ein Irrtum vorliegt.“
„Legen Sie bitte trotzdem nicht auf, Eva-Maria. Sagen Sie, haben Sie finanziell für Ihre Zukunft vorgesorgt? Wenn ja, was waren Ihre Beweggründe dafür?“
„Wollen Sie mich heiraten oder mir eine Versicherung verkaufen?“
„Muss ich mich sofort entscheiden oder habe ich noch etwas Bedenkzeit?“
Sie lachte. „Ich hab zwar keine Ahnung, wer Sie sind, Sverre, aber immerhin sind Sie bislang das einzig Gute an diesem verfickten Montag.“
Eva-Maria hatte nicht nur eine anregende Stimme, sondern verfügte scheinbar auch über eine ziemlich direkte Ausdrucksweise, die er sonst nur von Männern kannte. Sverre musste wirklich dringend seine Dissertation zum Abschluss bringen. Aber es gab begehrenswertere Dinge auf der Welt als einen Doktortitel.
„Haben Sie morgen Abend schon etwas vor?“ Er entschied sich für eine irrationale Variante.
„Vielen Dank, ich brauche keine Versicherung. Da bin ich versorgt.“
„Vielleicht will ich Sie ja doch heiraten.“
Wieder lachte Eva-Maria. „Sie gehen aber ran, Sverre. Gar nicht schlecht für einen Norddeutschen.“
„Um Himmels Willen. Erst halten Sie mich für einen Sepp und jetzt auch noch für einen Norddeutschen. Ich bin Norweger. Wie...“, er strengte sein benommenes Gehirn an, um wenigstens ein bisschen intelligent rüber zu kommen, „... wie Edvard Munch, Henrik Ibsen und Thor Heyerdahl.“
„Aha.“
„Ja, A-Ha sind auch Norweger.“
„Sind Sie sicher, dass das keine Schweden sind?“
„Ganz sicher. Sie verwechseln das wahrscheinlich mit Abba.“
„Entschuldigung. Ich hoffe ich habe Sie nicht in Ihrem patriotischen Stolz gekränkt.“
„Kein Problem.“ Seine einzigen Probleme im Moment waren sein schwerer Kopf und die Frage, wie er dieses Gespräch am Laufen halten konnte. Dabei war diese Sorge völlig unbegründet, denn Eva-Maria machte keine Anstalten das Telefonat abzubrechen.
„Kennen Sie auch Lasse Kjus, Ole Einar Bjørndalen und Lars Bystøl?“
Wenn die wüsste, dass er Lars regelmäßig die Muskeln lockerte. Aber Sverre war kein Angeber, deshalb sagte er nur „Ja. Aus dem Fernsehen, klar.“
„Kennen Sie auch Harry Hole?“
„Ein Zeichen“, murmelte Sverre. Das war ein Zeichen.
„Sie meinen sicher Das fünfte Zeichen. Das lese ich grad.“
„Soll ich Ihnen verraten, wer der Täter ist?“
„Gerne. Wenn Sie mein nächstes Opfer sein wollen.“
„Wollen Sie mir etwa auch einen Finger abhacken, so wie der Mörder im Roman?“
Eva-Marias Lachen ging in ein Kichern über. „Passen Sie auf, dass ich Ihnen nichts anderes abhacke.“
„Sie scheinen ein gewisses Interesse an mir als Mann zu haben oder irre ich mich?“
„Tut mir leid, was müssen Sie von mir denken?“ Sie räusperte sich. „Ich hatte wohl ein Gläschen Sekt zuviel.“
„Sie sind mir aber eine. Ich trinke nie, wenn ich noch telefonieren muss“, log er dreist.
„Ich natürlich auch nicht, wenn ich selbst anrufe, aber ich wurde ja angerufen.“
„Stimmt. Vielleicht könnten wir das Geschäftliche rasch hinter uns bringen, ehe ich den Grund meines Anrufs vergesse.“
„Ach so, Sie wollen mir ja noch eine Versicherung andrehen.“ Sie seufzte.
„Nein, will ich nicht. Aber meinem Freund hat man eine angedreht und der kann sie sich nicht leisten.“
„Das tut mir aber sehr Leid für Ihren Freund.“
„Ist das alles, was Sie dazu zu sagen haben? Die Polizzennummer lautet 26345607.“
Sie pfiff durch die Zähne. „So ein Zufall. Wie meine Telefonnummer.“
Zum Glück sah sie nicht, wie er errötete. Sverre wechselte schnell das Thema. „Also, haben Sie morgen Abend schon etwas vor? Ich würde Sie gern auf ein weiteres Glas Sekt einladen.“
„Ziemlich riskant, oder? Vielleicht bin ich eine achtzigjährige Witwe und nicht mehr ganz dicht?“
Sverres Instinkt sagte ihm, dass sie siebenundzwanzig und hübsch war. Sein Instinkt hatte ihn allerdings schon öfter hinterhältig belogen.
„Mut zum Risiko birgt nicht nur Gefahren, sondern eröffnet auch Chancen. Außerdem kann ich selbst mit undichten alten Damen über Harry Hole diskutieren.“
„Also gut. Aber warum erst morgen? Warum nicht schon heute?“
Puh. Sverre kam jetzt ins Schwitzen. Es gab genügend Gründe, warum es heute nicht ging, aber keiner dieser Gründe war gut genug, um ihn dieser sportlich-brünetten Eva-Maria auf die Nase zu binden. Erstens war Sverre so besoffen, dass er die Wohnung nicht verlassen konnte, also schied ein Treffen bei ihr oder auf neutralem Boden aus. Zweitens war er nicht weniger besoffen, wenn sie zu ihm käme. Dann wäre er kaum in der Lage, ihr die Tür zu öffnen, ohne auf die Klappe zu fallen. Drittens war er so besoffen, dass - sofern sie seine Erwartungen erfüllte - er ziemlich unsittlich über sie herfallen und ihre Erwartungen in ihn vermutlich maßlos enttäuschen würde. Viertens hatte in dieser Woche Tristan Küchendienst, so dass Eva-Maria durch den Zustand der Küche abgeschreckt worden wäre. Hätte Sverre Küchendienst gehabt, dann wäre Tristan allerdings für das Badezimmer zuständig gewesen, was den Abschreckungseffekt noch vergrößert hätte. Fünftens…
„Sind Sie noch da Sverre?“
„Ähm, ja.“
„Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen.“
„Natürlich nicht. Es ist wegen Tristan.“
„Tristan?“
„Ja, er ist krank.“
„Der Arme. Sie haben Kinder?“ War da eine leise Enttäuschung in Eva-Marias Stimme?
„Nein, nein, keine Kinder. Tristan ist mein Untermieter.“
„Kann sich nicht Isolde um ihn kümmern?“ Die Enttäuschung wurde durch Spott abgelöst.
Woher wusste sie von Isolde? Kannte sie ihn etwa? War sie die pickelige Rothaarige, die in der Statistikvorlesung in der ersten Reihe saß, sich ständig nach ihm umdrehte und ihn anhimmelte? Die war ihm neulich nicht von der Seite gewichen, als er mit Tristan telefoniert und ihn an den Termin beim Tierarzt erinnert hatte. Wer wusste sonst noch von der Katze?
„Also, die beiden haben grad ziemlichen Stress. Sie hat ihm die letzten Fischstäbchen aufgefressen. Entschuldigen Sie bitte die Frage“, stammelte er, „welche Haarfarbe haben Sie?“
„Ich bin naturblond. Warum? Haben Sie Vorurteile?“
Sverre fiel ein Stein vom Herzen. „Keineswegs. Ich hab nur gefragt ... weil ... weil ... Ihre Stimme klingt brünett.“
Eva-Maria lachte. „Keine Angst, ich fresse Ihnen schon nicht die letzten Fischstäbchen auf. In welchem Bezirk wohnen Sie eigentlich?“
„Mitten im Achten.“
„Ah, praktisch. Ich bin aus dem Siebenten. Wissen Sie was? Wenn Sie Tristan nicht allein lassen können, schnapp ich jetzt eine Flasche Wein und schau bei Ihnen vorbei.“
Ihm war schwindelig. Er fasste sich an Brust. Die Zahl der Menschen unter Dreißig, die einen Herzinfarkt erlitten, war in den letzten Jahren dramatisch angestiegen, hatte er gelesen.
„Eva-Maria? Tut mir leid, aber ich lieg’ schon im Bett.“ Das Wörtchen noch durch schon zu ersetzen ging wohl als lässliche Sünde durch.
„Dann stehen Sie doch einfach wieder auf. Oder sind Sie etwa gefesselt?“
„Sie haben aber eine Fantasie.“
„Gefällt Ihnen die Vorstellung, Sverre?“
„Ja“, entfuhr es ihm. „Also nein. Es geht heute wirklich nicht. Tristan. Sie wissen schon. Der arme Kerl. Er braucht mich. Aber morgen, da ist er sicher wieder gesund und besucht seine Oma.“
„Wie rührend. Nur kann ich morgen leider nicht. Da hab ich einen ganz wichtigen Termin in Stockerau. Ich bin nämlich...“
Mit einem Piepton verabschiedeten sich die Akkus in Sverres Mobilteil und brachten Eva-Maria zum Schweigen. Verärgert warf er den Hörer auf die andere Betthälfte, wo noch immer die Kronen Zeitung lag.
Erich Marek startet Tour in Stockerau, stand da. Von dem hatte Sverre noch nie etwas gehört. Vielleicht wollte Eva-Maria auch dort hin. Er las den Artikel und wurde schlagartig nüchtern.
Der beliebte Travestiekünstler beginnt eine Reihe von insgesamt vierundzwanzig Auftritten, die ihn durch ganz Österreich, in die Schweiz und nach Deutschland führen. Marek, der nicht nur äußerlich, sondern auch stimmlich verblüffend echt zur Frau mutiert, wurde berühmt durch seine Rolle als blonde Eva-Maria.
Morgen: Dienstag ;-)
testsiegerin - 28. Aug, 17:53
Ich vermute mal, dass der Dienstag Eva-Maria gewidmet ist.
Freue mich drauf.
Uta
du musst dich noch bis zum abend gedulden.