An einem Freitag im Mai

An jenem Freitag im Mai bog Horst Kleindienst an der Kreuzung beim Stadtbad nicht rechts in die Kirchdorfer Straße ab.

Er würde weder pünktlich am Bahnhof noch vor der Landesberufsschule sein. Das war Horst Kleindienst in seiner Laufbahn als Postautobuschauffeur erst wenige Male passiert. Einmal war ein Auffahrunfall, an dem er nicht beteiligt gewesen war, Grund für die Verspätung gewesen, zwei Mal Schneeverwehungen und einmal eine Straßensperre aufgrund einer unangemeldeten Demonstration. Immer waren äußere Umstände an Verspätungen schuld gewesen, nie innere. Bis auf jenen Freitag im Mai.

Für einen kurzen Augenblick hatte es ihn in den Fingern gejuckt und beinahe hätte er – wie jeden Tag – den Blinker eingelegt, aus Gewohnheit einerseits, aus Angst vor seinem Mut andererseits.

„Das ist mein kleiner Feigling“, hatte ihn seine Mutter ihren Freundinnen vorgestellt und ihm dabei die Wange getätschelt. „Er fürchtet sich sogar vor dem Nikolaus.“
„Ich kann nicht mehr, Horst“, hatte seine Frau nach nur achtzehn Monaten Ehe geseufzt, „du bist ein unheimlich lieber Kerl, aber ich langweile mich mit dir. Du bist ... wie soll ich sagen ... du bist so ... so berechenbar. Am Mittwoch gehst du zum Bauernschnapsen, am ersten Samstag im Monat zum Friseur und am Valentinstag schenkst du mir Blumen. Ich brauche mehr Leben in meinem Leben, verstehst du?“
Ja, er verstand.

Die Helden in den Büchern, die er abends oder an seinen freien Tagen verschlang, waren ganz anders als er. Die fuhren keine Postautobusse, sondern überfielen Postzüge, legten sich neue Identitäten zu und setzten sich nach Brasilien ab. Die erlegten in der sibirischen Taiga sibirische Tiger und liebten sich vor dem knisternden Kamin auf den selbst erlegten sibirischen Tigerfellen mit selbst erlegten russischen Geliebten.
Horst Kleindienst war kein Held. Zeitlebens war er ein Feigling, ein lieber Kerl, ein verlässlicher Angestellter gewesen. Er hielt sich an Gesetze, seinen Dienstplan und die Straßenverkehrsordnung. Er hatte einen Hamster namens Rambo und eine Ölheizung.

An jenem Freitag im Mai aber sollte Horst Kleindienst etwas völlig Verrücktes tun. Etwas, das niemand von ihm erwartete, schon gar nicht er selbst.

Tausendmal hatte er tausend verschiedene Filme in seinem Kopfkino abgespult.

In einem von ihnen – seinem liebsten - warf er alle Leute aus dem Bus – bis auf die Brünette, die immer in der ersten Reihe saß und nach wildem Jasmin roch. Ihren Namen wusste er nicht, denn es war ihm verboten, während der Fahrt mit den Fahrgästen zu sprechen. Seinen Bus der Linie L377 lenkte er in diesem Tagtraum auf die A2 und fuhr nach Italien. Kurz vor der Grenze überfiel er eine Tankstelle und kaufte sich in der Toskana mit dem erbeuteten Geld ein kleines Häuschen. Na ja, vielleicht ließ er den Raub aber auch einfach aus und mietete das Haus nur. Schließlich hatte sich in den letzten Jahren genug Erspartes auf seinem Konto angesammelt, um eine Zeitlang ohne Einkommen auszukommen. Dort wollte er sich also niederlassen, inmitten der Toskana, umgeben von Weinbergen; bei seinen italienischen Nachbarn würde er Speck, Käse und Oliven kaufen und jeden Sonntag mit der Brünetten ans Meer fahren.
Nach so einem aufregenden Leben sehnte er sich manchmal.

An jenem Freitag fuhr Horst Kleindienst an der Kreuzung Brucker Straße / Kirchdorfer Straße geradeaus. Vorbei am Hauptplatz, am Bezirksgericht, vorbei an der Autobusgarage, in der sein Chef vermutlich gerade den Dienstplan für Juni erstellte.
Im Bus regten sich Verwunderung und Fassungslosigkeit.
„Sagen Sie, wo fahren Sie überhaupt hin?“, fragte die Brünette und ihre Stimme schmeckte nach türkischer Rosenmarmelade.
Horst Kleindienst legte den Zeigefinger auf die Lippen und deutete mit einem Kopfnicken auf das Schild, das den Fahrgästen das Sprechen mit ihm strengstens untersagte.
Kurz nach der Ortstafel betätigte er den rechten Blinker und brachte den Bus am Straßenrand zum Stehen. Auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen und sein Herz raste, wahrscheinlich vor Empörung über diese Ungeheuerlichkeit. Er griff nach dem Strauß mit den orangefarbenen Tulpen auf der Ablage, zog den Zündschlüssel ab, stieg aus dem Bus und schritt mit erhobenem Kopf durch das steinerne Tor.

„Siehst du, ich bin gar kein Feigling, Mutter.“ Horst Kleindienst legte den Tulpenstrauß auf die Grabplatte aus Marmor. „Bist du jetzt endlich stolz auf mich?“
Ohne die Antwort abzuwarten, drehte er sich um und verließ den Friedhof.

„Liebe Fahrgäste, aufgrund von inneren Umständen werden wir den Fahrplan heute nicht einhalten können und uns voraussichtlich um fünfzehn Minuten verspäten. Ich bitte höflich um Entschuldigung.“
Bevor er anfuhr, blickte er in den Rückspiegel. Die Frau mit der Rosenmarmeladenstimme lächelte.
rosmarin (Gast) - 10. Feb, 23:41

bei einem solch ähnlichen busfahrer ist meine tante auch einmal gelandet... mitten in florenz.... nur blöderweise war sie die einzige im bus und blöderweise fuhr er nicht ins paradies sondern auf einen einsamen waldweg.
sorry.... wie man meinem kommentar entnehmen kann, bin ich aufgrund der assoziationen zu deinem text gerade nicht wirklich commentfitting...

testsiegerin - 10. Feb, 23:53

ja, das kann ich verstehen.
obwohl ich nicht glaub, dass kleindienst so etwas tun würde. aber was weiß man.
datja (Gast) - 11. Feb, 23:33

kleindienst hat einen sohn.
der hört 15 jahre später vom versuch seines vaters, auszubrechen aus dem gefängnis der kleinbürgerlichen kleinkariertheit. weil kleindienst junior die brünette beim fleischhauer trifft, wo ihm die leberkässemmel runtergefallen ist.
sie atmen den duft des anderen ein, vergessen die umstehenden, schauen, staunen und stammeln.
nach 3 schlaflosen nächten ........

deine geschichten regen mich immer wieder zum weiterspinnen an, ach das ist schön.
und spannend.
jö.

testsiegerin - 12. Feb, 11:11

eine treue leserin hab ich ja doch ;-)

vielleicht ist der kleine kleindienst aber der sohn der brünetten?
und die tätschelt ihm die wange und sagt zur fleischhauerin: "mein sohn ist total mutig. er hat vor nichts in der welt angst. nicht vor sibirischen tigern. und nicht einmal vor dem nikolaus."
datja (Gast) - 12. Feb, 19:00

MEIN sohn ist vom kleindienst.
der war beim friedhofsbesuch des vaters 18, und 15 jahre später hat er die brünette getroffen.
na gut, die brünette kann ja ein kind haben, um das kümmert sich dann kleindienst junior, der gar nicht mehr so junior ist, dann.
weil die brünette damals, bei der autobusgeschichte, gerade 20 war.
so schauts aus.
hast du geglaubt der kleindienst-sohn ist 15, als ihm die leberkäsesemmel runtergefallen ist? nein nein, 33
ist er da.
Lo - 12. Feb, 19:32

Hach, wat schreibste schön.
Ich bin überzeugt davon, daß man viel häufiger mal richtig falsch abbiegen sollte...

Liebe Grüße!

testsiegerin - 12. Feb, 21:03

ja. ich glaub, hin und wieder im leben falsch abbiegen kann das leben in eine völlig andere richtung lenken.
Lo - 13. Feb, 19:25

Navi für La Vie?

Insofern
ist
falsch-abbiegen
richtig-abbiegen.

Dann sind Navis ja überhaupt keine richtige Hilfe.
Zumindest nicht für´s Leben.
Wenn´s spannend sein soll.

Liebe Grüße!
datja (Gast) - 12. Feb, 19:33

weil nämlich:

ich tät die passage so mögen, wo die brünette den vater von kleindienst junior, der gar nimmer so junior ist, kennenlernen will. der sohn geniert sich aber, weil sein vater immer nur mit dem bus gefahren ist und so feig ist. der hat NIE was anderes getan als brav und pünktlich zu sein. wo doch die brünette eine ärztin ist. die besteht aber darauf. es entwickelt sich fast ein streit, obwohl eine tolle liebesnacht vorangegangen ist. in einem ganz besonderen raum mit einem eisenbett. die freundin von der brünetten ist in afrika geblieben und ihr freund laszlo ist auch gekommen, mit wollsocken im gepäck. und geblieben. so kam die brünette zu einer sehr sehr seltsamen wohnung. als sie den vater kennenlernt, erinnert sie sich an die sache mit dem friedhofsbesuch und der verspätung aus inneren gründen. der vater findet die brünette unglaublich sympatisch, weiss aber nicht warum. die brünette rückt das vaterbild zurecht, weil sie meint......usw usf

testsiegerin - 12. Feb, 21:04

also für mich wirds jetzt zu verwirrend. aber wie wäre es, wenn du die fortsetzung schreibst?
vielleicht eine spur strukturierter? ;-)
datja (Gast) - 13. Feb, 23:46

strukturierter ;)

soll ichs mailen oder als langen kommentar abgeben?
hähä: ich bin bereit !
tät mich sogar bemühen....

datja (Gast) - 14. Feb, 20:17

habs gemailt, weil ich nicht wirklich gut schreiben kann.
strukturieren auch nicht.
drum lass ichs lieber + bleib beim lesen!
la-mamma - 16. Feb, 21:39

bei den schaurigen erinnerungen,

die ich ans ölholen und ölheizen hab, kann jemand mit ölheizung eigentlich gar kein feigling sein! und da bin ich hier auch nicht enttäuscht worden;-)

testsiegerin - 16. Feb, 23:17

als ich noch in der bundeshauptstadt gewohnt hab, hatte ich auch einen ölofen. und musste den kanister immer von der tankstelle in die wohnung tragen. und das einheizen war manchmal auch ganz schön abenteuerlich.
da hab ich schon lieber das offene feuer jetzt. wenn auch keine tigerfelle davor. nicht einmal einen sibirischen geliebten.

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

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