Haare

Haare. Haare. Und immer wieder Haare. Ich erinnere mich an Unmengen von Haaren, wenn ich an den Sommer bei Tante Ingrid denke. Schwarze, blonde, rote und graue.

Mein Vater hatte eine Glatze, aber das war in diesem August völlig egal, denn er lag zwei Meter unter der Erde auf dem Friedhof von Mühlbach. Meine Mutter lag mit einem gebrochenen Bein im zweiten Stock des Krankenhauses. Sie war ins Grab gefallen, als sie ihm „Du versoffenes Arschloch!“ hinterher gerufen hatte.

Zum Glück gab es Tante Ingrid. Sie schleifte mich zu sich nach Hause, zog den schwarzen Mantel aus und eine weiße Kleiderschürze an und ärgerte sich darüber, dass der Hut ihre Frisur zerdrückt hatte.
„Zum Spielen hab ich keine Zeit“, sagte sie, „ich muss nach der Mittagspause wieder das Geschäft aufsperren. Wennst magst, kannst den Holzkopf frisieren, Bub.“
Ich war überrascht. „Der Onkel Otto hat aber doch auch eine Glatze, so wie der Papa. Wie soll ich ihn da frisieren?“
„Ach Bub“, schüttelte die Tante den Kopf. Erst als wir im Friseursalon waren, verstand ich, was sie meinte. Dort stand nämlich ein Kopfmodell aus Holz, an dem die Lehrmädchen das Lockenwickeln lernten.

„Den nennen wir auch Onkel Otto“, flüsterte mir Agnes zu, die schon jede Menge Übung im Wickeln hatte. „Deine Tante weiß das aber nicht.“
„Natürlich weiß sie das“, schallte eine brummige Männerstimme durch den Salon.
Es roch nach feinen Damen, nach Dauerwellen und Trockenhauben. Und nach der Zigarre, die im Mundwinkel von Onkel Otto, dem ohne Holzkopf, eingeklemmt war. Mich wunderte, dass er mit dem Stumpen reden konnte, aber er hatte offensichtlich jahrelange Routine darin. Tante Ingrid hatte jedoch mindestens genauso viel Routine darin, ihm den Kopf zu waschen.
„Hier wird nicht geraucht, Ottilein“, sagte sie ihrem Gatten, „das ist nämlich mein Reich. Und tschüs!“ Mit diesen Worten zwängte sie den fetten Onkel durch die schmale Tür.

Auf die Dauer war es für einen Neunjährigen etwas fad, kleine Plastikröllchen in eine Kunstperücke einzuwickeln. Deshalb drückte mir Agnes einen großen Besen in die Hand.
„Hier gibt’s den ganzen Tag etwas zu fegen. Und dort drüben im Schrank ist der Schacht.“ Hinter der grauen Tür verbarg sich ein großes Loch, in dem sich die Haare der Kunden türmten.
Als Agnes und Tante Ingrid im Hinterzimmer Kaffee tranken, wühlte ich im Schacht nach den dichten blonden Haaren von Frau Paltram. Die Frau Paltram war meine Lehrerin, und wenn ich ihr während des Unterrichts über den seidigweichen Kopf streicheln wollte, klopfte sie mir mit dem Lineal auf die Finger und meine Mitschüler lachten mich aus.
Mama hatte auch blondes Haar, doch das war strähnig und fettig. Während ich so wühlte und fühlte, geriet mir etwas kleines, hartes zwischen die Finger. Ein Ring. Verstohlen blickte ich mich um, aber niemand hatte mich beobachtet. Ich ließ meinen Fund schnell in der Hosentasche verschwinden und verzog mich aufs Klo.
Ein Siegelring war das. Er passte genau auf meinen Mittelfinger, also gehörte er bestimmt einer Frau. Auf dem dunkelblauen Stein prangte in silbernen Initialen: G.P. - Gundula Paltram! Mir wurde warm.
Ich strich behutsam über den Stein und konnte dabei ihre Stimme hören. Schneiden, Waschen und Legen, Frau Ingrid. Ich drückte einen Kuss auf den Ring.
„Aber nein, Frau Paltram. Hier kommt gewiss nichts abhanden. Und Sie sind sicher, dass Sie ihn hier verloren haben? Hm, hm. Ja. Ich werde alles durchsuchen. Ja doch. Ja. Auf Wiederhören, Frau Paltram.“

Tante Ingrid trommelte ihr Personal zusammen. Sogar Onkel Otto durfte und musste in den Salon kommen. Silberner Siegelring. Lapislazuli. Initialen G.P. Die Fahndung lief auf Hochtouren. Und die leitende Kommissarin kniete höchstpersönlich vor dem haarigen Grab. Nach einer halben Stunde bestand ihre Ausbeute aus einem Hosenknopf, zwei Haarklammern und einem benutzten Kondom. Ein finsterer Blick traf Agnes, die am Abend immer das Geschäft abschloss.
Ich bilde mir noch immer ein, dass Onkel Otto in seiner Ecke errötete, als er sich eine Zigarre ansteckte.
Wenn ich jetzt den Ring aus der Hosentasche zog, würde ich als Dieb dastehen, als Taugenichts. Wenn ich ihn drin ließ, war ich einer. Der Sohn eines Nichtsnutzes. Tante Ingrid würde mich hinausschmeißen und ich müsste unter der Brücke am Mühlbach schlafen. Meine Mama würde sich vor lauter Gram auch das zweite Bein brechen.
Als sich alle im Herrenstudio tummelten, schlich ich unbemerkt in den Damensalon. Ich krabbelte über den Fußboden und schnippste den Ring unter einen der Frisierstühle. Dann sprang ich auf und flitzte wie ein Pfitschipfeil durch den ganzen Laden. „Ich hab ihn gefunden! Hurra!“
Tante Ingrid strich mir stolz über den Kopf und Agnes drückte mich an ihren Busen. Wahrscheinlich hatte sie Angst gehabt, dass sie erst nach Hause gehen durfte, wenn der Ring gefunden worden war. Ihre Motivation beschäftigte mich in diesem Augenblick aber nicht, Hauptsache, mein Gesicht war zwischen ihren warmen Brüsten.
„So ein braver Bub“, waren sich alle einig. Erst jetzt bemerkte Tante Ingrid den Qualm, nahm Onkel Otto die Zigarre aus dem Mund und hielt sie unters Wasser.
Und weil ich so ein braver Bub war, durfte ich den Ring mit einem langen Draht unter dem Stuhl hervorangeln. Dann griff mich die Tante bei der Hand und sagte: „Jetzt fahren wir beide zur Frau Paltram. Die wird staunen, wie tüchtig zu bist.“
Ich kletterte zu ihr ins Cabrio, einen Volkswagen 1600 Karmann Ghia. Noch heute kriege ich feuchte Hände, wenn ich so einen Wagen sehe. Tante Ingrid gab Gas. Der Motor heulte auf und mein Herz klopfte.

Die Frau Paltram saß im Garten, trank Pfefferminztee und las. Sie trug ein kurzes Kleid mit großen Veilchen drauf und ihre Beine lagen ausgestreckt auf einem Stuhl. Als sie uns sah, legte sie ihr Buch zur Seite und brachte Gläser und Kekse. Ich öffnete die Faust und sie schaute auf den Ring. Und dann strahlte sie, wie ich sie noch nie hab strahlen sehen. „Das ist aber lieb von dir, Gusti. Dafür darfst du dir was wünschen von mir.“
Jetzt wurde ich rot, denn am liebsten hätte ich mir gewünscht, endlich ihre Haare streicheln zu dürfen, oder dass auch sie mich an ihre Brust presste, aber das ging natürlich nicht. Auch eine gute Schulnote konnte ich mir schlecht wünschen, das war ihr bestimmt nicht erlaubt. Und so fand ich es fast schon ein bisschen gemein, dass ich mir selbst eine Belohnung ausdenken musste. Einerseits durfte ich nicht unverschämt sein, andererseits wollte ich mich nicht mit einer Kleinigkeit zufrieden geben.
„Am dringendsten braucht er gescheite Unterwäsche“, fiel mir die Tante ins Wort, noch bevor ich überhaupt eines von mir gegeben hatte.
Hätte Tante Ingrid gesagt, dass ich mir eine Spielzeugeisenbahn wünsche oder sogar ein Buch, hätte ich freundlich geschaut und mich artig bedankt. So aber blitzten meine Augen zornig. „Das ist nicht wahr! Ich will keine Unterhosen. Was ich mir wirklich wünsche ist, dass Sie mich adoptieren, Frau Lehrerin“, platzte es mir in der Aufregung heraus.
Tante Ingrid verpasste mir eine Ohrfeige und Frau Paltram begann bitterlich zu weinen. Erst am nächsten Tag erfuhr ich, warum.

Auf dem Rückweg klopfte der Motor und ich heulte. „Hör auf zu flennen, du frecher Bengel“, sagte die Tante ein halbes Dutzend Mal zu mir, aber den Gefallen tat ich ihr nicht. Im Gegenzug steckte sie mich ohne Abendessen ins Bett, was nicht so schlimm war, weil mir der Appetit ohnehin vergangen war.
Ich nahm mir vor, das ganze am nächsten Morgen in einen Hungerstreik umzuwandeln.
Als ich wach wurde, stand Tante Ingrid längst schnippelnd, lockenwickelnd und fönend in ihrem Salon. Onkel Otto saß mit der Zigarre im Mund und der Zeitung in den Händen am Küchentisch. Er nickte mir freundlich zu, wobei ihm eine Portion Asche auf den Sportteil rieselte.
Angesichts des gezuckerten Marmeladekrapfens vor mir setzte ich den geplanten Hungerstreik kurzfristig aus und biss in das duftende Gebäck.
„Adoptiert willst werden von der Lehrerin?“ Es war das erste Mal, dass Onkel Otto mich direkt ansprach.
Ich schwieg, erstens, weil es mir peinlich war und zweitens, weil man mit vollem Mund nicht spricht. Es war ihm aber ohnehin egal, ob ich antwortete oder nicht.
„Die wollte eh immer Kinder, aber sie kann keine eigenen kriegen.“
Da war sie wieder, die Hoffnung. Möglicherweise wäre Mama ganz froh, mich loszuwerden. Oft hatte sie sich beklagt, dass sie sich einen Haufen Geld und noch einen größeren Haufen Ärger erspart hätte, ohne Mann und Kind. Ohne Mann war sie ja nun.

„Und jetzt trink deinen Kakao aus, Gusti. Wir fahren ins Spital. Du hast nämlich schon eine Mama, vergiss das nicht.“
Er strubbelte mir mit seinen Zigarrenfingern durch die Haare. Aber irgendwie begann der Geruch mir zu gefallen und mein Onkel auch. Im Gegensatz zu meiner Tante drehte er im Auto sogar das Radio an.
“Shalala-Lala-Lalala”, schmetterten wir gemeinsam mit Tony Christie auf seinem Weg nach Amarillo. Bei Am Tag als Conny Kramer starb summten wir leise mit und verstummten, als wir uns der Unfallstelle näherten, an der das Blaulicht von Polizeiwägen unablässig aufblitzte.
Onkel Otto blieb stehen und stieg aus. Um herauszufinden, ob es lange dauert, wie er versicherte. Ich glaube, er war einfach neugierig.
„Um Gottes Willen.“ Er ließ sich auf den Fahrersitz plumpsen und zitterte. Ich traute mich nicht zu fragen und hielt mein Plastiksackerl mit beiden Händen umklammert. Haare waren da drin, für die Mama. Sie hatte mal erwähnt, sie hätte gern schwarzes langes Haar. Ich hab sie heimlich aus dem Schacht geholt, die Haare, um ihr eine Freude zu machen.
„Ein hellblauer Käfer“, stammelte mein Onkel jetzt. „Der schaut schlimm aus.“
Die Frau Paltram, schoss es mir durch den Kopf, die fährt so einen hellblauen Käfer. Natürlich fuhren damals Millionen Menschen ein solches Modell, aber um all diese wildfremden Leute machte ich mir gar keine Sorgen.
„Weiterfahren, bitte", dirigierte uns ein Polizist an der Unfallstelle vorbei. Ich verrenkte mir im Vorbeirollen den Hals, aber ich konnte nichts erkennen.

Als wir im Krankenhaus ankamen, war ich immer noch wie betrunken vom Schreck, obwohl ich damals natürlich noch nicht wusste, wie man sich fühlte, wenn man betrunken war. Ich wusste bloß, wie es war, wenn mein Vater betrunken war. Es stank, es war laut und manchmal tat es weh.

Onkel Otto ließ mich alleine ins Krankenzimmer gehen. Ich strahlte Mama durch meine Zahnlücke an, so glücklich war ich, als sie mich umarmte. Sie duftete nach Gips und nach Krankenhaus. Jetzt schämte ich mich dafür, dass ich heute früh noch adoptiert werden wollte. „Wenn ich wieder zu Hause bin, fangen wir ein neues Leben an“, sagte Mama fröhlich und lachte über die schwarzen Haare.
Wenig später kam Onkel Otto ins Zimmer. Er drückte Mama einen Kuss auf die Wange und eine Flasche Traubensaft in die Hand. In dem Moment öffnete sich die Tür und ein Bett wurde herein geschoben.
„Ah, endlich etwas Gesellschaft“, freute sich meine Mutter.
In dem Bett lag eine Frau mit zwei eingegipsten Beinen und einem monströsen Kopfverband. Sie schluchzte fürchterlich und die Krankenschwester redete beruhigend auf sie ein. „Aber Frau Paltram, die Haare wachsen doch wieder nach. Wir mussten sie abrasieren, damit wir die Wunde nähen konnten.“

*

Versonnen stecke ich die blonde Strähne wieder in den Briefumschlag und streiche über meine Glatze. Es war der August 1972. Haare, Haare, nichts als Haare.
la-mamma - 19. Mai, 23:38

in deine geschichten kann man

richtig eintauchen! wieder eine ganz schöne!!

punctum - 20. Mai, 00:51

das ist eine bezaubernde geschichte, frau testsiegerin, sehr berührend.

testsiegerin - 20. Mai, 12:28

danke euch beiden.

pringle (Gast) - 20. Mai, 14:27

Was für eine wunderbare Geschichte.

Pseuspektive - 21. Mai, 09:18

Wieder eine so schöne Geschichte. Ich konnte die damalige Zeit mit ihrer Stimmung richtig spüren.
datja (Gast) - 21. Mai, 09:53

danke für die erinnerung !!!

ich muss ganz dringend zum frisör!

Jack1fS - 22. Mai, 09:12

Timewarp

Fast in die "richtige" Zeit hab´ ich mich zurückgeworfen gefühlt. Schmerzhaft, liebevoll und wehmütig...
Danke.

testsiegerin - 22. Mai, 19:37

danke!

ja, die siebziger jahre *erinnert sich*
ich schäme mich jetzt noch für die musik, die ich damals gehört hab, für meine frisur damals und für die kleidung.

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

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