Samstag, 13. Dezember 2008

Besondere Bedürfnisse

Die Bewohner des Wohnhauses für Menschen mit Behinderung haben sich in Schale geworfen. Heute ist ihre Weihnachtsfeier. Manche sind schon Stunden vorher aufgeregt. Ich bin auch aufgeregt, denn ich lese bei dieser Weihnachtsfeier, und Eleonore singt. Ein Mann zeigt mir zum siebenten Mal seinen Fotoapparat und fragt, ob er mich fotografieren soll. Oh ja bitte, das wäre schön. Wie groß ich die Bilder ausgedruckt haben will, möchte er wissen. Schicken Sie sie mir doch per Mail, sage ich. Ja schon, eh klar, aber wie groß? Groß. Sehr groß. So, das man mich gut sieht. Wir lachen. Ein anderer Mann – er ist Bandmitglied bei Integra Musica - kommt ins Büro, in dem wir uns noch besprechen und steht da wie angewurzelt. Die Leiterin der Einrichtung kann offensichtlich Gedanken lesen. „Nehmen Sie sich ruhig ein paar Kekse“, sagt sie und er und ich greifen zu.

Später bei der Feier – die Bühne liebevoll dekoriert, die Tische fein und lecker geschmückt – höre ich von den Festrednern ungefähr hundert Mal die Floskel Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Behindert zu sagen ist politisch unkorrekt. Moment mal, möchte ich schreien, habe ich keine besonderen Bedürfnisse? Ist mein Bedürfnis in der Badewanne Prosecco zu trinken und Spaghetti zu essen vielleicht gar kein besonderes Bedürfnis? Und haben die Festgäste – ob Bewohner, Angehörige, sogenannte Ehrengäste und die Betreuer und Betreuerinnen dort, nicht das ganz normale Bedürfnis, nicht von langen und langweiligen Festreden gequält zu werden?
Die sogenannten behinderten Menschen hören höflich zu, naschen von den Keksen, trinken Punsch, schauen in die Kerzen. Die salbungsvollen Worte, mit denen die Männer am Rednerpult beweisen, was für gute, anständige und christliche Menschen sie sind, die den von der Gesellschaft Benachteiligten Wärme und Licht schenken, interessieren sie wahrscheinlich genauso wenig wie mich, aber sie verhalten sich still und klatschen freundlich an den richtigen Stellen. Viele von ihnen wissen zwar nicht, wie man das Wort Respekt schreibt, aber er ist Teil ihres Lebens. Sie werden von den BetreuerInnen dort respektvoll behandelt und das geben sie einfach weiter.
Eine Frau der Band springt nach jedem der gespielten Stücke auf, reißt die Arme in die Höhe und verbeugt sich. Dafür bekommt sie Extra-Applaus.
Bei unserem Auftritt – in warmes rotes Licht getaucht, und wir passen wunderbar zur Dekoration – ist es ganz still im Saal. Ich genieße es, vor diesem Publikum zu lesen. Ich gebe viel her von mir, denn ich lese sehr persönliche Texte, von meinen Kindern, dem Tod meiner Mutter, dem Leben mit all seinen Geschenken und Widrigkeiten. Eleonore singt Stille Nacht, wie ich nie jemanden Stille Nacht habe singen hören. Alle haben Gänsehaut. Die Menschen singen mit, ohne dazu aufgefordert zu sein. Ich spüre, wie ich es uns gelingt, viele der Menschen da unten mit unseren Worten und Liedern zu berühren und bin selbst berührt. Danach zeigen die Menschen, wie berührt sie waren und berühren mich. Klopfen mir auf die Schultern. Streichen mir über den Kopf, wie einem kleinen Kind, das seine Sache gut gemacht hat. Ich hab meine Sache gut gemacht.

*
Ein paar Stunden später in einem verrauchten Lokal in Wien. Schmuckausstellung meiner Freundin, dazu eine Lesung von mir. Der Auftritt für halb zehn ist seit Wochen geplant, doch dann fällt der Lokalchefin, der man anmerkt, dass ihre Arbeit ihr keinen Spaß mehr macht, ein, dass um zehn die DJ-Line beginnt. Aber auch ohne DJ-Line ist es laut.
Auch der Ghetto-Blaster und das Mikro eines Freundes hilft mir nicht, den Lärm aus dem Schankraum zu übertönen. Weil meine Besinnlichkeit ohnehin am Nachmittag aufgebraucht worden ist, lese ich böse, ironische, witzige Texte. Am Tisch direkt vor mir sitzen ein paar Ärztinnen. Sie rümpfen die Nase darüber, dass ich sie in ihren Gesprächen – wahrscheinlich über die korrekte homöopathische Behandlung einer akuten Rhinitis – störe und einfach zu lesen anfange.
Die Gespräche über die Potenz der Globuli dauern exakt so lange, wie meine Lesung dauert. Wahrscheinlich ist es ihnen draußen im Schankraum zu laut zum quatschen. Meine Freundin ersucht sie durch ein höfliches „Pschscht!“ zur Besinnung zu bringen, aber sie sind das, was Ärzte so gern über ihre Patienten behaupten. Krankheitsuneinsichtig. Non-compliant.

Angeblich sind die Leute hier – die Ärztinnen, die gelangweilte Chefin des Lokals – alle normal. Wahrscheinlich können sie das Wort Respekt in dreiundzwanzig Sprachen von hinten nach vorne buchstabieren, auch in Braille-Schrift. Nur zum Leben erwecken können sie es nicht.

Am liebsten würde ich einfach abhauen.
Wegen Unbespielbarkeit des Platzes sozusagen. Bei starkem Wind fällt ja auch das Skispringen aus, warum also nicht wegen Lärms die Lesung ausfallen lassen? Warum nicht selbstbewussst aufstehen und sagen, unter diesen Bedingungen lese ich nicht.
Warum nicht?
Weil ich das nicht bin. Nicht selbstbewusst genug. Da sitzen auch ein paar Leute, die extra meinetwegen nach Wien gekommen sind. Die will ich nicht enttäuschen. Drum lese ich, obwohl ich lieber heulen würde. Zahle meine Getränke. Heule dann erst später zu Hause.

Ich bin ein Mensch mit besonderen Bedürfnissen. Dem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit. Zuwendung. Applaus. Respekt.
Behindert.

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

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